Heinrich Haeckel an Ernst Haeckel, Stettin, 8. August 1916

Stettin, 8. VIII. 16

Liebster Onkel!

Habe herzlichen Dank für die Sendung der vielen interessanten Bücher, Broschüren und Dissertationen, die mir einen Gruß zugleich aus dem alten, lieben Jena brachten. Was du von Jena schreibst, deinem Leben, der Verlegung des phyletischen Archivs, dem Tode Pohles hat mich Alles aufs Lebhafteste interessirt, und ich kann mir lebhaft denken, daß du dir selbst bald mystisch vor||kommen mußt, als der so Viele Überlebende. Daß dein Alter diesen entsetzlichen Krieg noch erleben muß, ist sehr zu bedauern. Allein wir Jüngeren sehen doch allmählich bei dem glänzenden Stand unserer militärischen Lage in diesem Weltbrand eine nothwendige Stufe zu einem ungeahnten Aufblühen Deutschlands in der Zukunft. Gewiß wäre es wünschenswerther gewesen, wir || hätten uns weiter im Frieden entwickeln können, allein der Übergang von europäischer zur Weltpolitik, die enorme Erweiterung des weltwirthschaftlichen Gebietes mußte über Kurz oder Lang zu einem Aufeinanderprallen führen, und man muß es als günstig ansehen, daß dieses jetzt und nicht erst später erfolgte, dann wären wir in einer viel übleren Lage gewesen. Und so darf man hoffen, || daß wir schließlich durch den Krieg einen gewaltigen Ruck vorwärts kommen und uns dann um so wirksamer der Förderung des geistigen Lebens in gesicherter Ruhe widmen können – wenn die Diplomaten ihrer Sache einigermaßen gut machen. Der Zweifel daran ist das Einzige, was Einen wirklich mit starker Besorgniß erfüllen kann.

Ich sitze nun wieder in voller || Friedensthätigkeit, d. h. mit immerhin noch 100-200 Verwundeten im Krankenhause. Mein übler Vertreter ist jetzt selbst ins Feld gerückt; den bin ich los, aber mit dem Magistrat habe ich noch weiter zu kämpfen, da er die Absicht hat, meine Stelle zu theilen, sie sei zu groß für Einen. Die Verhandlungen schweben noch, und mein Bestreben ist, sie in die Länge zu ziehen. Doch wie klein und winzig erscheinen mir solche Sorgen gegen||über dem gewaltigen Geschehen um uns! Ich sehne mich oft ins Feld zurück, wo man mitten im Sausen des Webstuhls der Zeit mit ganz anderer, fröhlicher Zuversicht die Kriegszeit erträgt, als hier, wo der Mangel der Nahrung, das Gedrücktsein durch Verluste leicht zu Pessimismus führt. – Ich ertrage die vermehrte Arbeit bei verminderten Hilfskräften leidlich gut, habe mich aber im Felde || frischer gefühlt. Ich hatte für 10 Tage sehr lieben Besuch von meinem Bruder Julius, und konnte mit ihm einige Excursionen in die pommersche Landschaft machen, die man bei genauerer Kenntniß immer lieber gewinnt. Dazu sind Wald und Felder in diesem Jahr so üppig, wie kaum je, und hier, in der Kornkammer Preußens freut man sich ganz besonders über die herrliche || Ernte, zu deren Bergung nun auch der Himmel sein Bestes gethan hat: jeder Scheffel Roggen zerstört eine Hoffnung der Engländer mehr. ‒ Was mag wohl unser Freund Rottenburg machen und denken?

In der Hoffnung, im Herbst dich in Jena besuchen zu können, und mit besten Grüßen an Meyers, falls sie dort sind, in alter Treue

dein Neffe Heinrich

Brief Metadaten

ID
35463
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Polen
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
08.08.1916
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
12,8 x 16,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35463
Zitiervorlage
Haeckel, Heinrich an Haeckel, Ernst; Stettin; 08.08.1916; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35463