Heinrich Haeckel an Ernst Haeckel, Stettin, 14. Februar 1919

Stettin, 14. II. 19

Liebster Onkel!

Darf man in dieser trübsten aller deutschen Zeiten Jemandem zum Geburtstag Glück wünschen, man könnte mit Recht wünschen, überhaupt nicht geboren zu sein? Doch, und abermals doch! Auch aus dieser ungeheuren Katastrophe werden wir wieder lebenskräftig hervorgehen, es ist unmöglich, daß die seit mehr als 200 Jahren im Gange befindliche Entwickelung abbricht ‒ leider, daß wir beide es nicht mehr erleben werden. Und so wünsche ich dir von Herzen, daß die Zeit, welche Dir noch bescheert ist, in erträglichem Befinden und wieder wachsender Freude an dem, was Du geschaffen, verlaufen möge. Denn, wenn jetzt auch die Politik neben sich für nichts mehr || Raum läßt, ‒ auch dies wird sich ändern und das Wesentlichste, was das Leben lebenswerth macht, die Pflege der Kultur und der geistigen Entwickelung, wird sicher wieder zu ihrem Recht kommen ‒ und da stehst Du ja in erster Linie mit deinem Lebenswerk. Ja, ich glaube, nach Abebben dieser trüben Fluthen, wird der Deutsche, der sich so vollständig politisch unbegabt erwiesen hat, mit vermehrter Innigkeit die geistigen Güter pflegen. Scheint es doch so, daß unsere deutsche Hammelherde bisweilen durch Genies wie den großen Friedrich oder Bismarck auch politisch auf einen glücklichen Weg geführt werden kann, daß sie aber aus sich heraus und ohne ausnahmsweise genialen Führer zu kindischer || Blödhaftigkeit in der Politik verdammt ist.

Hier in Stettin ist es bisher auffallend ruhig hergegangen, der Pommer ist wenig geeignet für Revolution. Meine Arbeit im Krankenhaus geht ihren Gang, und man kann nur froh sein, wenn man in diesen Zeiten zur Ablenkung von trüben Gedanken reichlich zu thun hat. Freilich fehlt es an der richtigen Freude dabei, der allgemeine Druck auf das Gemüth macht sich immer geltend, und auch körperlich wünschte ich manchmal, einen ruhigeren Beruf zu haben, als die aufregende Thätigkeit eines Chirurgen. Ich fühle mich nicht selten abgespannt und finde, daß mich die Arbeit mehr angreift, als früher, vielleicht machen sich auch die An||strengungen des Feldzugs nachträglich bemerkbar. So würde ich in normalen Zeiten bald daran denken, die Schneiderei an den Nagel zu hängen, aber jetzt, bei der allgemeinen Unsicherheit, muß ich noch bei der Stange bleiben ‒ weiß doch Niemand, ob die edlen Sozii Gesetze machen, nach denen Einem alle gemachten Ersparnisse genommen werden. Und von diesen müßte ich leben, wenn ich nicht mehr im Berufe bin.

Wenn das Reisen jetzt nicht so entsetzlich wäre, würde ich gern nach Jena gelegentlich kommen, um mit dir zu plaudern. Vielleicht, wenn die große Schwatzgesellschaft in Weimar || ausgeredet hat, bringt das Frühjahr die Möglichkeit, sich einmal auf die Bahn zu setzen und das liebe, alte Thüringen wiederzusehen. Denn ich lerne das Land, die deutsche Natur und Gegend immer mehr lieben, selbst hier in Pommern, um so mehr, als man den deutschen Menschen, oder vielmehr die deutsche Masse, das Volk, aufs Tiefste verachten muß ‒ so erbärmlich, so unreif, so ekelhaft hat sich nie ein Volk nach einem verlorenen Kriege benommen, ‒ es ist eine blöde Selbstvernichtung, unbegreiflich nach diesen Thaten in vier Kriegsjahren.

Vor 5 Jahren feierten wir in Leipzig Deinen 80. Geburtstag; Du zogst vor || den Affen im zoologischen Garten den Hut ab und begrüßtest die stammverwandten Vettern ‒ äffen wir nicht Alles nach, was die Russen uns im Bolschewismus vorgemacht, äffen wir nicht Alles nach, was die angebliche westliche Demokratie treibt ‒ wie muß sie sich ins Fäustchen lachen darüber, daß wir auf jeden Leim kriechen, den sie uns hinstreicht. Aber man kommt immer wieder auf unsere Schmach zurück. Heute zum Schluß dir herzlichste Grüße und Wünsche; die wenigen Menschen, die Einem wirklich nahestehen, kommen Einem jetzt immer noch näher; und so bleibe ich auch in deinem neuen Lebensjahr in alter Liebe und Treue

dein Heinrich.

Brief Metadaten

ID
35450
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Polen
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
14.02.1919
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
6
Umfang Blätter
3
Format
14,0 x 21,9 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35450
Zitiervorlage
Haeckel, Heinrich an Haeckel, Ernst; Stettin; 14.02.1919; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35450