Haeckel, Carl Gottlob

Carl Gottlob Haeckel an Ernst Haeckel, Berlin, 17. Januar 1853

Berlin 17 Januar 53

Lieber Ernst!

Deinen letzten Brief vom 10ten und 11ten haben wir erhalten. Er hat uns sehr intereßirt und zwar alle Parthien darin; die Beschreibung aber der Aetnabesteigung besonders Großvater. Auch habe ich sie gestern a Weiss und Ehrenberg mitgetheilt, (die Explosion des Aetna nehmlich). Ehrenberg ist nicht auf dem Aetna gewesen, auch Weiss nicht. b Diese Explosion muß aber ein ungemein schönes Schauspiel gewesen sein und ich wünschte Dir künftig wohl ein ähnliches mitanzusehn. Was Du sonst schreibst, führt uns recht in die gegenwärtigen Bewegungen der Zeit hinein, und man kommt immer auf die Betrachtung ihrer Eigenthümlichkeit zurük, um sie recht verstehen zu lernen. Da ich schon 60 Jahre rükwärts rechnen und vergleichen kann, so schwebt mir noch der Abendschimmer des vorigen Jahrhunderts vor, das freilich ganz anders aussah, als das gegenwärtige. In Litteratur unsre großen Dichter, in der Philosophie Kant, in der Religion der aufkommende Rationalismus, in der Maße aber noch viel alte Rechtgläubigkeit, wovon unsere prächtige Mutter und deren Mutter rechte Repräsentanten waren, so daß sie noch in ihrem letzten Lebensjahr bei uns in Merseburg äußerte, ihr Christenthum und das unsrige wären doch sehr verschieden! Allerdings in der äußern Anschauungsweise, nicht aber dem Wesen nach, denn da kann es nur immer nur eins und daßelbe sein, weil etwas Ewiges in ihm ist. Aber die Anschauungsweise hat sich allerdings sehr geändert. Dies ist eine Folge der steigenden Kultur, die sich im gebildeten Europa und besonders in Deutschland sehr verbreitet hat und die religiöse Anschauungsweise ist c viel zu verständig geworden, sie hat alles Phantastische und alle Mythologie abgestreift. Da aber der Kern der Religion eben keine Verstandes sondern eine Gemüthssache ist, so kann sich jener Rationalismus auf die Länge nicht halten und er hat schon kulminirt. Die Anschauung des Christenthums wie sie sich in Zukunft gestalten wird, keimt d bereits in Schleiermacher und seinen Schülern, von denen ich hier nur Sydow und Jonas nennen will. Wir hören auch diesen Winter die Unionsvorträge und Sydow sprach vor vorige Woche über die Person Christi und wird diesen Vortrag diesen Freitag fortsetzen. Was die Person Christi betrifft, so meinte er, komme es vor allen Dingen darauf an, was Christus selbst von sich gesagt und welches Bewußtsein er über seine eigne Person in sich getragen habe. An diese seine Aussprüche müße man glauben, sie seien nicht etwa ein e philosophisches System, was sich durch seine innre Consequenz empfehle und wobei am Ende die Person des Autors gleichgültig sei. Bei Christo sei es umgekehrt, hier sei grade die Persönlichkeit von der höchsten Bedeutung, Christus sei sich deren bewußt und innerlich davon überzeugt gewesen und diese Göttlichkeit Christi müße man anerkennen, an sie glauben, Christus sei das Ideal der Menschen gewesen, alles, was andre Menschen Göttliches nur theil- oder stükweise in sich hätten, sei in Christo in der höchsten Vollendung vorhanden gewesen, aber er sei Mensch gewesen. Die Streitigkeiten in den frühern Jahrhunderten über seine doppelte Natur || seien unnütz gewesen und eben so sei auch das Dogma über die Dreieinigkeit zwar tiefsinnig aber nicht wesentlich. Sydow wird Freitag fortfahren und insbesondre auch über die Sündlosigkeit Christi sprechen und ich werde Dir den weitern Verlauf schreiben. Der Saal war gedrängt voll, auch weit mehr Männer darin als sonst und man erkennt in diesem Besuch offenbar das Bedürfniß der gebildeten Menschen, sich über das Wesen des Christenthums und die Person Christi aufklären zu wollen in der Weise, wie es gebildeten Menschen jetzt möglich ist. Sydow ist sehr begabt, hat die Sprache ganz in seiner Gewalt und ist zu einem solchen Vortrag sehr geeignet. Das Resultat meines Lebens geht dahin, daß ich einer Autorität über das Wesen Gottes und die göttlichen Dinge bedarf, einer Autorität, die ich als von Gott geordnet anerkenne, um die Menschen zu erleuchten und sie über alle Zweifel hinwegzuheben und die Anschauung, die wir jetzt von Gott und unserm Verhältniß zu ihm haben, verdanken wir lediglich dem Christenthum, die Griechen sind dahin nicht gelangt und sie wird weltherrschend werden, das Christenthum allgemeine Weltreligion im Lauf der Zeiten. Die Aufgaben, welche uns das Christenthum auflegt, sind so groß, daß wir sie immer nur unvollständig erreichen werden. Sie waren nur in Christo vollständig gelöst. Er ist und bleibt das Ideal, dem wir nachzustreben haben und das Wesen Gottes, so weit wir es auf dieser Erde zu faßen vermögen, hat sich nur in ihm vollständig geoffenbart. Es liegt über alle Zweifel erhaben, vor uns aufgefaltet da. –

Unsre vorgeschrittne Bildung kann sich mit der alten Orthodoxie nicht mehr vertragen, sie war den frühern Zeiten ein Bedürfniß, den unsrigen nicht mehr und die Parthei, die sie uns gernf wieder bringen möchte, macht vergebliche Anstrengungen. Dagegen wird der Kampf des Menschen gegen die Sünde hier auf Erden ein ewiger bleiben, er wird nie aufhören, denn in jedem neugebornen Menschen keimt die Sünde aufs neue auf und jeder ist auf die Anschauung Gottes und seines Verhältnißes zu ihm und auf die daraus fließende göttliche Hülfe gewiesen, um den Kampf mit der Sünde bestehen zu können, wie es in g jenem Leben sein wird, müßen wir abwarten.

Aber dieses Erdenleben hat seine besondre Bestimmung, seine besondre Entwikelung und alle in uns gelegten innern und äußern Kräfte sollen dazu dienen, diese Entwikelung wirklich zu machen. Wir können und sollen uns von dem äußeren irdischen Leben nicht lossagen, sondern es der innern Würde des Menschen gemäß gestalten. Dazu soll uns ins besondre der Staat behülflich sein und Gott hat besondre Völkerindividuen geschaffen, um sichh zu ergänzen, mit einander zu verkehren, und auf einander einzuwirken, sich gegenseitig zu erziehen. Dieses zeigt uns die Weltgeschichte, sie stellt uns den Entwikelungsgang des Menschengeschlechtes, die verschiedenen Kämpfe der Völker und wiederum der einzelnen Elemente in jedem Volk dar und wir befinden uns jetzt eben in dem Uebergange zu einem neuen Stadio, welcher i seit 60 Jahren begonnen hat. Gervinus schreibt jetzt die Geschichte des 19ten Jahrhunderts und hat jetzt die besondre Einleitung hierzu (sie ist 181 Seiten lang) besonders herausgegeben, worin er den Gang der europäischen Geschichte seit dem Anfange des 16ten Jahrhunderts in großen Zügen auffaßt, || die Gesetze, nach denen sie sich entwikelt, anspricht und wo erj ins besondre den Charakter der gegenwärtigen Zeit zuletzt darzustellen sucht. Die Schrift heißt: „Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts von Gervinus, Leipzig bei Engelmann“. Man hat in den Zeitungen von ihrem Verbot gesprochen, was indeß nicht stattfinden wird. Denn die Schrift ist rein wißenschaftlich historisch und es wäre eine wahre Raserei sie verbieten zu wollen, wenigstens in Preußen. –

So theile ich hier meine Zeit zwischen Lektüre, Besuch von Vorträgen und der Kirche und wirk leben übrigens ganz zurükgezogen, nur mit unsrer Familie und hin und wieder in kleinen Familien Zirkeln. Wir hatten vor etwa 10 Tagen beinah 8 l schöne Tage. Seit 5–6 Tagen ist aber das Wetter wieder grund schlecht, regnerisch und trübe, ohne Frost, nur die Tage nehmen etwas zu. Die Gervinussche Schrift entwikelt ganz den Standpunkt, auf welchen ich mich zu stellen suche, sie ist sehr beruhigend und hält man diesen Standpunkt fest, dann können einem alle Tollheiten der Gegenwart und des Augenbliks nichts anhaben, sie werden von selbst in Nichts zerfließen. –

Carl und Hermine laßen wenig von sich hören. Sie leben sich selbst und richten sich in ihr eheliches Leben ein. –

Simon in Merseburg erhält die gute Pfarre m in Mötlich bei Halle und der alte Geh. Justizrath Simon hier heirathet zum 3ten Mahl in seinem 73sten Jahre, worüber sich alle Welt wundert. Der alte Weiss in Merseburg geht langsam seiner Ruhe entgegen. Ich habe ihm kürzlich geschrieben. Er hat sein Leben aufgesetzt und ich habe es mit Mutter gelesen es hat uns sehr intereßirt. –

Julius ist Oberstaatsanwalt beim Obertribunal geworden; er verbeßert sich wesentlich im Gehalt, seine künftige Stellung ist aber weniger intereßant, als seine jetzige. Der junge Dietrich Reimer ist sehr leidend. Der hiesige Weiss ist wieder hergestellt. Ich theile ihm aus Deinen Briefen mit, was ihn etwa intereßiren kann und er und seine Frau laßen Dich herzlich grüßen. – Musik habe ich diesen Winter noch wenig gehört und im Theater sind wir noch gar nicht gewesen. Das viele schlechte Wetter hat auch dazu beigetragen. Nun, mein lieber Ernst, für dieses Mahl genug. Laß bald wieder etwas von Dir hören.

Dein Dich liebender Vater

Haeckel

a gestr.: aber; b gestr.: Es; c gestr.: schon; d gestr.: bes; e gestr.: phys; f eingef.: gern; g gestr.: jed; h korr. aus: auf einander; i gestr.: eben be; j eingef.: wo er; k eingef.: wir; l gestr.: Ta; m gestr.: bei

 

Letter metadata

Empfänger
Datierung
17.01.1853
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35447
ID
35447