Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Potsdam, 16.-20. Februar 1893

Potsdam | den 16 Februar | 1893.

Mein lieber Bruder!

Da ich Dich heute nicht erreichen konnte – denn ich weiß nicht, wo Du den heutigen Tag mit Agnes zubringen wirst – so schreibe ich wenigstens heute an Dich, um Dir zu zeigen, daß ich Deiner heut gedenke und wünsche Dir zum neuen Lebensjahre von Herzen Glück. Habt Ihr auf Eurer Reise solch’ Wetter, wie wir’s seit gestern hier haben, so könnt Ihr ganz zufrieden sein. Ich habe gestern den leichten Überzieher hervorholen müssen, weil || der dicke mir zu schwer wurde. Heut früh hatte ich +5° R, heute Mittag habe ich +9° im Schatten; (in der Sonne sollen bis +15 sein). Dabei scheint die Sonne herrlich, wenn sie sich nicht hinter Wolken verbirgt; aber die schöne frühlingsartige Luft macht auch tüchtig müde.

Bei alle dem habe ich aber den „moralischen [Katzenjammer]“. Mit dem Einprägen von Vocabeln und Redensarten will es gar nicht mehr recht gehen; das Gedächtniß ist für dergleichen wie ein Sieb. Wenn’s noch Strafgesetzbuch-Paragraphen wären! Darauf ist es noch eingerichtet. Eher macht sich’s noch ehera mit der Auffrischung des Französischen. ||

In der vorigen Woche hatte ich beinahe jeden Abend etwas vor; in dieser geht es ruhiger her, aber nun stehen wieder 3 Familienabende bevor: Morgen bei Große’s, Sonntag, aber Mittag – bei Hahn’s, und Mittwoch bei mir selber, da Julius in 8 Tagen nach dem Rhein abgeht.

Hast Du Dich denn in der letzten Zeit um die Verhandlungen unsres Landtags u. des Reichstags gekümmert? Gefreut hat es mich doch, daß die Sozial Demokraten von allen andern Parteien gleichmäßig abgekanzelt werden, gut namentlich auch von dem Centrumsmitglied Advokat Bachem. Dagegen ist es meiner Einschätzung recht zu bedauern, wie solch’ || einseitige, lediglich auf den Vortheil ihrer Genossen bedachten u. nur Sonderinteressen eines einzelnen Standes wahrnehmende Parteien, wie die Antisemiten u. Agrarier, sich in den Vordergrund drängen: das sind Auswüchse des Parteilebens, die von der Ungesundheit unseres politischen Lebens zeugen. – –

Was kann man denn an der Riviera für deutsche Zeitungen haben? Läßt man sich welche nachkommen? –

Du schreibst doch hoffentlich nett über Reise u. Unterkunft in Messina? Über die Riviera möchte ich nur einige Andeutungen über Ausflüge, die Du zu Fuß gemacht hast, haben. Ist man da allein überall sicher? Wie hieß das durch Erdstoß (oder Bergsturz?) halb zerstörte Dorf? – ||

2.)

Habe ich Dir von meinem Ernst geschrieben, daß er Mitte Mai mit Joseph Ritter reist: zunächst in die Botzener Gegend (St. Michele) dann über Venedig, Triest nach Buda-Pesth, über Berlin nach Hause. –

Wie lange denkst Du denn in Messina zu bleiben? U. welche Rücktour? –

Wie ist jetzt das Wetter dort? –

Potsdam 20. Febr.

Ich hatte den Brief noch liegen lassen, um Dir über den gestrigen Tag berichten zu können. Wir waren mit den Bräuten u. Brautmutter bei Hahn’s zu Mittag u. freuten uns recht an || den Kindern. Die Lotte ist, wenn auch etwas zart, doch frisch u. lieb und erinnert in ihrer natürlichen Anmuth u. Zärtlichkeit recht an Anna, die kleine Eva, die nun nächstens auch zur Schule geht, ist eine wilde, lebendige Schummel, anscheinend kräftiger als Lotting (die schon unter den Anstrengungen der Schule etwas leiden mag; da gehn in diesem Alter die rothen Backen stets weg!). Der Walter gedeiht prächtig, hat den richtigen Haeckel’schen blonden Lockenkopf u. erinnert sehr an Georg. Er spricht jetzt alles mögliche mit Vergnügen nach, hängt || aber noch arg an Mutter’s Schürzenband. Vor mir hat er des Bartes wegen Scheu u. heult wenn ich ihn nehme.

– Julius hat vom 17t dieses Monats endlich aus Coeln, von Psident Struckmann, die angenehme Nachricht erhalten, daß er zunächst auf einige (3-4) Monate nach Trier kommt. Wo es später hin geht ist noch im Dunkel, Julius freut sich bei seinem Kunstsinn, grad in diese an römischen Alterthümern reiche Stadt zu kommen u. in die schöne Gegend, die er wohl gründlich absuchen wird, grad || so wie Georg den Schwarzwald. Letztrer wird öfter mit Heinz zusammen sein; so nächsten Sonntag, wo Heinz nach Karlsruhe will oder beide in den Schwarzwald gehen. Wir haben seit vorgestern Abend rechte Regenzeit! –

Nun ade, altes Bruderherz. Schreibe uns bald! –

Tante Bertha läßt grüßen. Sie war gestern trotz dem Wetter in Lichterfelde.

Mit herzlichem Gruß an Agnes – von der Du wohl schreibst, was sie denn während Deines Fischens macht –

Dein treuer Bruder

Karl.

a eingef.: eher

Brief Metadaten

ID
35334
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
20.02.1893
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
10,4 x 17,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35334
Zitiervorlage
Haeckel, Karl an Haeckel, Ernst; Potsdam; 20.02.1893; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35334