Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Potsdam, 2. Juni 1893

Potsdam 2 Juni 1893.

Lieber Bruder!

Deine „Fragen“ betreffend des Professor Hamann habe ich an Richard Hahn abgegeben; derselbe hat mit einem Freunde, der an der Königlichen Bibliothek angestellt ist, aber in einem andern Fach, gesprochen, aber eine ablehnende Antwort erhalten. Der betreffende kennt den Hamann gar nicht und vermag auch nicht durch 3te die betreffenden Daten ermitteln. Hamann ist, wenn ich recht gehört, im April vorigen Jahres dort eingeschoben worden. Du wirst hiernach wohl auf weitre Ermittlungen verzichten u. Deinem Vertheidiger es überlassen müssen, eine Verurtheilung – der Du Dich schon durch die Form der Publikation der Thatsachen ausgesetzt haben magst – abzuwenden oder doch in möglichst glimpflicher Weise herbeizuführen. –

Erfreulicheres kann ich Dir zufällig über unsern Nationalliberalen Wahlkandidaten für Potsdam-Osthavelland berichten. || Es ist der uns vom Central-Comité empfohlene Dr. jur. et phil. Rethwisch-Berlina, ein Verehrer von Dir, der Dich im Jahr 1886 angesungen und von Dir damals Deine Ceylon Photographie erhalten hat, mit einem verbindlichen Schreiben. Beides ließ Dr. Rethwisch mir dieser Tage vorlegen. Wenn wir ihn also durchbringen sollten − was ich sehr bezweifle – so hast Du auch einen speziellen Vertreter des Darwinismus im Reichstage! Ich habe den Herrn noch nicht gesehen (der Hochzeitsfeier wegen) u. auch in Berlin verfehlt. Doch soll er ein einnehmendes Wesen haben; er wird jetzt auf lautes – und populäres Sprechen dressirt. – – Wie aber das ganze Wahlgeschäft weitergehen wird, wird sich erst morgen Abend entscheiden. Unsere Nation ist gar zu zersplitterich, gegen andre; nun wollen die Einen, die mehr links standen, || nicht unbedingt bei der Stichwahl, die voraussichtlich kommt, auf den zur engeren Wahl kommenden Konservativen oder Antisemiten übergehen; andre wieder fallen ab, weil sie die Stichwahl vermeiden wollen und stimmen, wenn auch mit saurer Miene, sogleich für den Agrarier. Dabei sind die wenigsten geneigt, anb dem unerquicklichen Werk der Wahlagitation selbst mitzuarbeiten. Kurzum, die Situation ist recht unerquicklich. Daß ich übrigens mein bischen Kräfte nicht überanstrenge, kann ich Dir, lieber Bruder, versichern. Ich machte bisher keine Wahlreise mit; nur 2 hiesige Versammlungen besuchte ich, darunter eine antisemitische, ohne selbst zu sprechen, habe aber aus dem Kampf der Sozialdemokraten mit ihnen viel gelernt. Die Kampfesweise war eine leidlich anständige; || aber gelogen u. dem Publikum zum Munde geredet wurde auf beiden Seiten gründlich.

– – Nun zur Familie; da klingt es besser. Das junge Paar ist bei Euch am Sonntag Nachmittag 2 Uhr vorbeigefahren nach Schwarzburg u. hat sich bis vorgestern dort an den köstlichen Buchenwaldungen u. den schönen Bergen wohl ergötzt. Gestern wollten sie bis Eisenach u. heut Abend in Cassel einrücken. Sie schreiben sehr vergnügt.

Heute erwarte ich meinen Ernst auf seiner Rückkehr von der Reblausreise aus Ungarn kommend. Er bleibt 2-3 Tage; Julius noch nächste Woche. – Grüß mir die Deinigen u. meinen Heinz herzlich von

Deinem treuen Bruder

Karl.

c Einen alten Finsterbusch’schen Brief lege ich bei –

a eingef.: -Berlin; b gestr.: bei; eingef.: an; c weiter am Rand v. S. 4: Einen alten Finsterbusch’schen…Brief lege ich bei –

Brief Metadaten

ID
35330
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
02.06.1893
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,2 x 22,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35330
Zitiervorlage
Haeckel, Karl an Haeckel, Ernst; Potsdam; 02.06.1893; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35330