Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Potsdam, 28. Mai 1895

Potsdam 28 Mai | 1895.

Liebster Bruder!

Am Sonnabend Mittag glücklich hier angekommen, fand ich zugleich die Nachricht vor, daß Mulder’s mit Tante Bertha zum Freitag, 31/5, Nachmittags hierherkommen und bis Dienstag den 4. Juni Vormittags bleiben wollen. Es wäre daher sehr erwünscht, wenn Du für diese Tage, die ja auch Deine Ferientage sind, herkommen könntest. Ich bitte dich um baldige Nachricht hierüber wegen der häuslichen Einrichtung, die sich übrigens durchaus leicht u. bequem macht. Wir beide schlafen dann in dem zweifenstrigen geräumigen Zimmer des Anbaues.

Von Friedel nehme ich an, daß er wegen der kurzen Urlaubszeit nicht hierher kommt. ||

Mein Hiersein ist alsbald ein recht ernstes geworden. Als ich am Montag Vormittag nach dem Gottesdienst zu Ritter wollte, erfuhr ich, daß sich sein Zustand in der vergangenen Nacht sehr verschlimmert habe u. große Herzschwäche eingetreten sei. Ich ging hinauf und sah ihn noch durch mehrere offne Stuben hindurch. Er hatte große Angst u. Atemnot, war aber bei vollem Bewußtsein. Die Seinigen waren auf seinen baldigen Tod gefaßt, der dann auch gestern früh ½6 Uhr nach langem Kampf eingetreten ist. Die Vorbereitungen der Leichenfeier (Laufereien u. Kirchenrath-Sitzung) haben mich gestern in Anspruch genommen, so daß ich erst jetzt zum Schreiben komme.

Am Donnerstag Vormittag 10 Uhr findet die Beerdigung von unsrer || Kirche aus, in der Persius die Rede hält, auf dem alten Kirchhofe statt. Für seine Erlösung von noch längerem u. schwereren Leiden muß man Gott danken. Er war den Tag vorher noch bis Moorlake spaziren gefahren u. hat am Freitag noch 3 Stunden an einem Aufsatz, der ihm am Herzen lag, diktirend gearbeitet. Ich persönlich verliere an ihm meinen innigsten Freund, den ich hier hatte.

Am Sonntag Nachmittag war ich von 3-7 Uhr zum Familienessen bei Tante Bertha, Mulder’s zu Ehren, die ja noch leidlich auf dem Zeuge sind, namentlich sie, während er sich sehr schonen muß.a Der weite Kreis der Familie war zahlreich, fast 30 Personen, vertreten. Theodor Bleek mit Frau war zufällig auch da. So wechseln heitere u. ernste Stunden.

Nach dem 1 Juni schicke ich Dir für Friedel Gelder, wenn Du sie nicht || selber holst. –

Die Aussichten für gute Verwerthung der amerikanischen Papiere haben sich sehr gebessert. Ich soll aber noch warten mit der Veräußerung.

Mit herzlichem Gruß an die Deinigen und innigem Dank für die schöne Reise

Dein treuer Bruder

Karl.

a mit Einfügungszeichen eingef.: die ja noch…sehr schonen muß.

Brief Metadaten

ID
35303
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
28.05.1895
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,1 x 22.0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 35303
Zitiervorlage
Haeckel, Karl an Haeckel, Ernst; Potsdam; 28.05.1895; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_35303