Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Landsberg an der Warthe, 29. April-9. Juni 1868
Landsberg d. 29/4 68.
Lieber Bruder!
Eben habe ich Bogen 4-6 gelesen. Mich hat darin besonders die ausführliche Mittheilung der Ansichten von Goethe, Oken, Kant, Lamark angezogen. Es ist gut, daß diese so detaillirt vorgeführt werden u. man gewinnt dadurch einen tieferen Einblick in die allmählige Entwickelung der Theorie.
Die Kant’schen Sätze haben mich angeregt, aufa seinen Unterschied zwischen mechanischer und teleologischer Auffassung tiefer einzugehen. Ich sollte meinen, wenn man der monistischen Auffassung zustimmt, die ich für die richtigere halte, müßte man danachb das teleologische Princip als in der organischen sowohl wie in der anorganischen Natur herrschend ansehen können (natürlich ohne dabei den anthropomorphistischen Schöpferbegriff zu acceptiren).
Wie aber versteht Lamark die jetzt noch fortwirkende Urzeugung? – Worin soll diese jetzt noch sich zeigen. Sollen jetzt noch aus der unorganischen Materie Organismen entstehen? Die Zelle kann man dazu ferner nicht rechnen. Darüber bitte ich um Aufschluß. – ||
d. 9 Juni.
Die umstehenden Zeilen haben lange gelegen. Ehe ich sie vollendet, kamen Bogen 7-12. Die wollte ich erst auslesen, u. dazu bin ich erst gestern u. heute gekommen. Vor dem Pfingstfeste hatte ich zu viel zu thun (in der letzten Woche bei starker Hitze den Vietzer Gerichtstag, mit dem mich Dominus dirigens seit Ostern betraut hat), im Feste war Tante Bertha da, so trödelte es sich bis jetzt hin.
Meine Bemerkungen habe ich Dir auf dem anliegenden Blättchen geschrieben. Gern hätte ich es gesehen, könntest Du S. 140 ändern, aber ohne Karten ginge das natürlich nicht. Meines Erachtens blamirst Du Dich durch solche taktlose Äußerungen. Im übrigen habe ich alles Folgende mit vielem Interesse gelesen: die nähren Ausführungen namentlich über die Stufen der Fortpflanzung u. über die Anpassung. Sobald Du wieder eine Partie Bogen zusammen hast, sende sie mir. Dr. Gauss (der kleine Mathematikus) brennt darauf. Thu’ mir aber die einzige Liebe u. vermeide in der weiteren Arbeit solche Stellen wie Blatt 140. Sie gehören in der || That nicht in solch ernste Entwicklung u. machen den Eindruck kindlicher Spielerei.
– Was sagst Du denn zu dem Synodalstreit ./. Lisco in Berlin? – Es ist gut, daß solche Extravaganzen das träge Bewußtsein der Massen aufrütteln.
Nun aber die neue Verlobung. Ich habe mich sehr gefreut, daß Schwager Heinrich endlich den Schritt gethan hat, den er wohl schon lange beabsichtigt hat. Tante Bertha sagte schon zu Pfingsten, es schiene ihr als müsse das Schweigenc nun bald brechen. Aber sie halte sich verpflichtet durchaus nichts dazu zu thun. Während sie noch hier war, kam dann auch die Nachricht, daß beide sich am Pfingstsonntag ausgesprochen hätten, aber noch Mutter Minnchens Zustimmung erwartet werde. Ehe die Aeltern zu Euch reisen, werde ich wohl noch mal, etwa Ende Juni, herüberrutschen. Das Brautpaar sehe ich dann freilich nicht zusammen, da Gertrud dieser Tage mit Onkel Julius nach Kissingen (seinetwegen) u. von da Anfang Juli mit Tante Bertha auf 4 Wochen nach Norderney geht. Mitte September soll die Hochzeit sein. ||
Wir werden uns in diesem Sommer wohl nicht sehen. Ich denke mit Carl – falls der Arzt nicht noch Anderes bestimmt – um den 18t Juli herum auf 4 Wochen nach Heringsdorf zu gehen. Die beiden Mädel u. Heinz sollen in den Hundstagsferien (4 Juli bis 2 August) nach Ziegenort. Wohin ich Hermann in dieser Zeit schicke, weiß ich noch nicht.
Daß die Alten zum Juli zu Euch kommen freut mich auf der einen Seite, aber ich wünsche auch andrerseits, daß es Deiner Agnes nicht schaden möge. In dieser Beziehung ist die Zeit eigentlich nicht günstig gewählt. Wie geht es denn jetzt?
– Mulder’s werden nun wohl dieser Tage in Berlin angekommen sein, ich hoffe sie kommen auch her.
Die Kinder sind munter; mit Carl geht es leidlich, doch in der Hitze weniger gut als sonst. Seit 20 Mai badet er täglich kalt in der Warthe. Nun ade, alter Junge, grüß Deine Agnes, und schreib mir bald mal.
Dein
Karl.
a eingef.: auf; b eingef.: danach; c gestr.: Eis; eingef.: Schweigen;