Haeckel, Karl

Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Landsberg an der Warthe, 16. April 1868

Landsberg den 16. 4. 68.

Lieber Ernst!

Als ich eben den Brief an Dich gestern Abend abgeschickt hatte, fand ich daß ich den darin angezogenen Notizzettel beizulegen vergessen hatte.

Ich sende Dir denselben anbei nach.

Vater sagte immer früher: was man nicht im Kopf hat, muß man in den Beinen haben. Hier heißt es: man muß es in dem Portokonto haben! – Nun sollte ich aber doch die schöne Gelegenheit Dir noch mehr zu schreiben, benutzen, u. da will ich Dich denn bitten, mir fernerhin brüderlichst gewogen zu bleiben, wenn wir auch in so manchen Ansichten differiren, und mir’s nicht für ungut zu nehmen, wenn ich Dir meine Ansichten über Dich offen heraus sage. Ich habe durch die gelesenen || Druckbogen mich in der Ueberzeugung bestärkt, daß Du, wenn Du über solche Probleme schreiben willst, noch gründlichere philosophische Studien machen mußt, u. empfehle Dir u.a.a dazu ein neu erschienenes Buch: Gott u. Welt von Spaeth ‒ (vom Standpunkte des Protestantenvereins aus geschrieben) das Du später von mir bekommen kannst. Vorläufig lies mal auf dem Museum die Rezension in No 15. der Protestantischen Kirchenzeitung. Noch besser wäre es aber, wenn Du fürs Erste diese allgemeinen Fragen ruhen ließest und Dich wieder auf Spezial-Arbeiten würfest u. die versprochene Reisebeschreibung aufsetztest. Die andren Fragen würde ich mit mir mal wieder erst ein Jahrzehnt lang herumtragen, ohne darüber zu schreiben. Du leistest mehr auf dem erstgedachten Gebiete u. schaffst dort Wichtigeres und Besseres. Das ist meine unmaßgebliche Meinung, die ich Dir in brüderlicher Liebe u. Vertrautheit nicht vorenthalten wollte.

Dein

Karl.

Grüß Deine Agnes u. frage Gegenbaur, ob ich nicht Recht habe. ||

[Beilagen: Notizen Karl Haeckels zu den Druckbogen von Ernst Haeckels „Natürliche Schöpfungsgeschichte“]

Bemerkungen des Bruders Carl Haeckel

über

die Natürliche Schöpfungsgeschichte

(1868)

S. 3. Z. 11 Der höchste Triumph pp – mir zu pretensiös. Hast Du denn nun die wahre Erkenntniß? Ist damit der Urgrund gefunden, den zu erkennen man schon so lange sich bestrebt hat.

S. 4. Abs. 1. vorletzte Zeile: „Lehre von der wahren Ursache in der organischen Natur“? – das ist mir nicht präzis genug; Du meinst wohl: Lehre von der wahren Ursache derl mannigfachen Formerscheinungen in der Natur. Ferner: was ist mechanische Erklärung? in welchem Gegensatz bemühst Du hier diesen Ausdruck? ‒ Gewöhnlich setzt man doch die anorganische der organischen Entwicklung gegenüber. Paßt das hier?

S. 5. Z. 8, unermeßlichen? – wieder zu überschwänglich; sage doch „tief eingreifenden

S. 6. Z. 1, unerschütterlich festen Füßen – ich würde das „unerschütterlich“ streichen oder sagen: bereits wissenschaftlichb fest begründet ist

ibid. Z. 19: Deduktionsschluß und Inductionsgesetz sind nicht allgemein verständlich. Kannst Du nicht sagen Folgeschluß oder logischer Schlußc aus dem allgemeinen Erfahrungsgesetz? –

S. 8. Z. 2, Glaubenschaft? Das ist doch wohl kein gebräuchlicher Ausdruck; Sage: im Gebiete des Glaubens. ||

d S. 9. Abs. 2 Anfang: statt höchst e interessante u. bedeutsame Thatsache würde ich sagen: diese so wichtige Thatsache! ‒

S. 9. Z. 2 von unten: streiche das „ganz“, ebenso in der letzten Zeile.

S. 12. Z. 4 von unten: Kann man von einem Organ sagen es sei „zweckmäßig“ eingerichtet, wenn es dennoch eines Mangels oder Umstands wegen seinen Zweck nicht erfüllen kann? –

S. 13. Z. 11 f. Willst Du dieses famose, übrigens treffende Gleichniß, mit dem Du die „früheren Natorforscher“ geißelst, stehen lassen? – Paßt dieser Witz in den Ton des Ganzen? –

S. 23 in der Mitte. Z. 16 und 17: Die Passageaußerordentliche“ u. „denkende“ würde ich streichen.

u. Z. 19 wozu die Anführungszeichen? Ich würde auch das Wort heilige streichen.

S. 27. Z. 16: den Ausdruck Molekularverhältnisse hätte ich gern erklärt.

S. 30. Z. 9 und 11 von unten: wozu die Epitheta: geocentrische und anthropocentrische Parthei, laß doch diese beiden fremden Ausdrücke ganz weg ||

S. 30. Z. 4. würde ich statt des Wortes: vernichtet sagen: widerlegt“ –

S. 32. Z. 3. einzelne Theile: das wünschte ich schärfer einzelne „Organe.“ Die Gestaltung einzelner Organe

S. 34. Z. 12 von unten: deutlicher scheint mir: sind – ganz unabhängig von 1ander entstanden

S. 39. Z. 5. Soll wohl heißen: einen besonderen Schöpfungsakt?

S. 39. Z. 10 von unten: warum führt die Consequenz der Darwin‘schen Theorie zur Urzeugung? – das leuchtet mir nicht ein. –

S. 41. Z. 12 von unten: fehlen Schlußanführungszeichen

S. 43. Z. 16 von unten: soll wohl heißen: erste statt höchste Keime. ||

S. 133. Ende im Abs.: was ist eine mathematische (?)f Naturnothwendigkeit? Wozu dieses Beiwort?

S. 138. Z. 12 von unten: rechnest Du Dummheit zu den Charakterzügen des Menschen? – Letztere gehöreng doch nur im ethischen Gebiete an, nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauche.

S. 140. Abs. 1: Satz 1. hättest Du mit mehr Ueberlegung fassen sollen. Was Du gewiß am meisten vermeiden willst, den Schein höfischer Unterwürfigkeit u. Augendienereih, das wird mani in dieser Verherrlichung grad der Protektoren-Regentenhäuser Eurer Universität nur zu leicht finden, ich hätte dieses Beispiel das nicht einmal ganz zutreffend ist ‒ weggelassen. Ebenso machst Du Dich lächerlich, wenn Du – so kann man es wenigstens dem Satzbau nach – nicht blos die Unterdrückung der Freiheit, sondern auch die Neigung für das Kriegshandwerk, zu den rohen Gewaltthätigkeiten rechnest. Für einen so unverständigen Anhänger Elihu Burritt’s halte ich Dich denn doch nicht, daß Du einer so beschränkten Auffassung der nothwendigen Einrichtungen zur Landesvertheidigung huldigen solltest. Den versteckten Seitenhieb auf unser Königshaus will ich dabei gar nicht in Anschlag bringen.

S. 141. Wozu bringst Du denn auchj in diesen populären || Vorlesungen immer wieder Deine vermaledeiten Fremdwörter Tocogonie, Amphigonie, Monogonie hinein? – Sind die Ausdrücke: Fortpflanzung, geschlechtliche u. ungeschlechtliche Fortpflanzung nicht verständlich genug? M. E. verwirrst Du nur dadurch. –

S. 144. Z. 3. des Textes unter der Abbildung muß wohl das Wort oder fortfallen.

S. 147. Ende des 1. Abs. vermisse ich die Erläuterung des Ausdrucks: placentales Säugethier.

S. 156 und 157. Der Schluß, daß durch die Vererbung alle Erscheinungen der Individualisirung sich vollständig erklären, geht doch zu weit. Es trägt diese Thatsache zur Erklärung bei, aber ist noch nicht allein das Erklärende. Daß bei der geschlechtlichen Zeugung die Vererbung der individuellen Eigenschaften stattfindet, dieses durch die vielfachen Beobachtungen gewonnene Resultat ist u. bleibt eben ein Räthsel, ein Wunder. Ebenso wie der Umstand, daß es eine Urzeugung (S. 141) giebt – Die causa für diese beiden Gesetze in der Natur können wir eben nicht auffinden. Oder weißt Du sie? −

a eingef.: u.a.; b eingef.: wissenschaftlich; c am Rand eingef.: oder logischer Schluß; d gestr.: S. 8. Z. 7 von unten:; e gestr.: mächtig; f eingef.: (?); g gestr.: liegen; eingef.: gehören; h korr. aus: AUgendienereien; i irrtüml. doppelt: wird man; j eingef.: auch;

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
16.04.1868
Entstehungsort
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 34988
ID
34988