Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Landsberg an der Warthe, 15. Februar 1868

Landsberg a/W

15 Febr. 68.

Lieber Bruder!

Ich soll eben über Land fahren, um ein Testament aufzunehmen, kann es mir aber doch nicht versagen, Dir wenn auch nur kurz zu Deinem morgenden Geburtstage zu gratuliren. Es ist der erste, den Du wieder als ganzer Mensch feierst (denn ein Mensch wie ich ist nur ein halber, das fühle ich täglich). Möge der Himmel Dir die glückliche Verwirklichung derjenigen Hoffnung zu Theil werden lassen, die die häufige „Seekrankheit“ Deiner Agnes in Euch erweckt hat. Dann werdet Ihr beide noch mehr „ganze Menschen“ sein als jetzt. Namentlich hoffe ich, daß sich durch den nasciturus (oder –ra?) (oder die nascituri??) noch so manche utopistische u. abstrackte Lebensanschauung bei Dir beseitigen wird, die Du in den letzten Jahren Dir angewöhnt hast. || Für Deinen Brief und Rathschlag besten Dank. Ich bin immer noch schwankend, ob oder ob nicht. Deine Bedenken wegen der vielen Verwandtschaft würde ich nicht in dem Maaße hegen. Ich würde schon ein solches Ende von den Meisten abwehren, daß der Verkehr nicht allzu stark sein würde. Für sich hat es – u. das ist mir in der That ein sehr erheblicher Punkt – daß ich die Jungen, wenn sie von Schule abgegangen sind, voraussichtlich auf längere Zeit im Hause behalten u. dort, studieren oder auf Bauakademien etc gehen lassen kann, sie mir dann also dort weniger kosten, als wenn ich in der Provinz bin. Ueberhaupt würde ich sie dort leichter als außerhalb zu einer beliebigen Berufsart sich vorbereiten lassen können. Ob als dieser Vortheil finanziell so groß ist, daß er die sonstige Theuerkeit aufhebt u. ob ich überhaupt würde finanziell auf die Dauer in Berlin es aushalten können, darüber will ich mich nächstens noch mit Tante Bertha, die wahrscheinlich zum 18t (Heinz‘ Geburts Tag) herkommt, || näher besprechen.

Der andre Punkt, die Veränderung meiner häuslichen Verhältnisse, geht mir auch wohl im Kopfe herum. – Kurz, ich sehne mich recht über beide Punkte bald ins Klare u. zu innerer Ruhe zu kommen.

Grüß Deine Agnes recht u. tröste sie ob der Übelkeit.

Die Kinder sind leidlich munter, auch Karl bessert sich mehr.

Ade

Dein treuer Bruder

Karl.

Mutter schreibt neulich für Berlin: das wäre ja die einzige Möglichkeit, daß wir beide, Du und ich einmal an demselben Orte zu wohnen kämen! – Oh Illusionen! –

Übrigens, wenn ich nach Berlin gehe, mache ich mich jedenfalls darauf gefaßt, dort zeitlebens in derselben Stellung zu bleiben u. mache auch darauf hin meine ökonomische Rechnung. ||

P.S.

Glaube übrigens nicht, daß mir bei all dem, was mich jetzt quält, der Humor ganz ausgeht. Im Gegentheil; zeitweise bin ich wohlauf, u. recht auf dem Zuge u. kann dann die schönste Selbstironie über meine Selbstgrüblerei u. mein unschlüssiges Wesen üben.

Brief Metadaten

ID
34985
Gattung
Brief ohne Umschlag
Datierung
15.02.1868
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,1 x 23,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 34985
Zitiervorlage
Haeckel, Karl an Haeckel, Ernst; Landsberg a. d. W. (Gorzów Wielkopolski); 15.02.1868; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_34985