Karl Haeckel an Ernst Haeckel, Landsberg an der Warthe, 29. Oktober 1866, mit Beischrift von Bertha Sethe
Landsberg a/W den 29 October 1866.
Liebster Bruder!
Gestern erhielt ich Deinen zweiten Brief aus London und habe mich recht gefreut, daß Dir es dort so wohl gefällt und so gut geht. Das Leben und Getreibe in dieser ersten Weltstadt muß in der That ein großartiges, kaum beschreibbares sein. Deine Beschreibung erweckt recht die Lust, auch einmal diesen Eindruck empfangen zu können. – wenn man sich auch hinterdrein sagt, daß das wohl für immer ein frommer Wunsch bleiben wird. Das Volk als solches betrachten und von seiner Eigenthümlichkeit ein, wenn auch nur oberflächliches und allgemeines, aber doch ein Gesammtbild erhalten zu können, das würde mich bei den Engländern am meisten interessiren, mehr als Kunstsammlungen pp. Du ersiehst hieraus, daß trotz dem herben Geschick, das mich betroffen hat, der Sinn für das Leben mir nicht abgestorben ist. Es ist darin mit den Stimmungen ein eigen Ding. Bin ich angestrengt mit Arbeiten beschäftigt oder im Geschäft über Politik und öffentliches Leben, ob mit a Lektüre beschäftigt, so kann ich im Augenblick, auch auf längere Zeit von dem schmerzlichen Gefühl wie befreit erscheinen. Sobald || ich aber meine Mußestunden zu Hause oder auf dem Spaziergange habe, so nagt die Betrübniß über den unwiederbringlichen Verlust wie ein Wurm an mir. Selbst die Freude über die Kinder ist fast immer mit wehmüthiger Erinnerung an Mimmi gemischt. Doch wozu erzähle ich Dir das, der Du aus eigenster Erfahrung diese Art des Leides kennst! –
Die Kinder sind munter und machen mir in der That viel Freude, auch durch die größere Zärtlichkeit, die die älteren von ihnen mir, scheint es, bezeigen, als fühlten sie, wie wohl mir das thue. Die großen sind nun wieder fleißig für die Schule. Karl hat englische Privatstunden angefangen. Mieze ist auch seit 14 Tagen Schulkind, wird aber noch sehr mäßig angespannt: 2 Stunden Vormittags, Nachmittags nur Handarbeit. Sind die 5 dann fort so ist viel Ruhe im Hause. Ernst und Georg besuchen mich dann gewöhnlich früh Morgens nach dem Kaffeeb, um die Bilder aus unserem großen ledernen Bilderbuche zu besehen, das sie beide sehr ins Herz geschlossen haben. Georg ist immer noch ein sehr sprechfauler Mensch; aber er weiß sich dabei durch Pantomimen prächtig verständlich zu machen. Klein Julius gedeiht allerliebst bei der Flasche und ist ein sehr freundliches u. lebhaftes Kind. Frau Oberheim nimmt sich recht nett gegen sie, so daß sie ihr schon anhänglich sind. ||
Seit 8 Tagen ist Tante Bertha hier; sie kam zum 26sten, ihrem Geburts Tage, mir zur großen Freude. Es ist doch recht Schade, daß keiner der älteren Verwandten im Stande war, die Stelle von Mimmi zu vertreten; ich fühle es, wie viel angenehmer mir dann zu Hause sein würde, so sehr ich auch mit Frau Oberheim zufrieden sein kann. – Ich hoffe Tante bleibt noch die Woche aus. In nächster Woche wird wohl Mutter Minnchen auf der Rücktour von Heringsdorf auf einen Tag herankommen.
Nun, mein lieber bester Bruder, reise denn glücklich ab u. komme bald und gesund in Madeira an. Von Lissabon aus schreibst Du auch wohl. Der Himmel behüte Dich vor bösen Stürmen, die wohl grade jetzt grassiren. Wir haben hier schon seit 14 Tagen so kaltes Wetter, daß wir beständig heitzen müssen. Nächster Tage wird’s wohl zum Schnee kommen. Du segelst nun in die Wärme hinein. Ade, ade!
(Ich lege eine Photographie von Mimmi nach einem größeren Bilde vom Jahr 1860 bei u. von klein Julius einen Nachtrag, der besser gelungen ist, es ist das Mittelstück einer 2ten Aufnahme.)
Immer Dein
Karl. ||
[Beischrift von Bertha Sethe]
29/10 66
Einen Gruß muß ich Dir von hier aus auch senden; daß wir Dich vor Deiner Reise nicht gesehen, hat mir sehr leid gethan, noch mehr nach dem schmerzlichen Ereigniß, das uns Alle betroffen. Ich bin seit dem 20ten wieder hier, und werde wohl noch 8 Tage bleiben, eine mächtige Gewalt zieht mich immer wieder her, ach, und wie ist es doch so ganz anders, ohne meine liebe theure Mimmi, und doch bin ich am ruhigsten hier bei Karl und den Kindern. Denen geht es allen gut.
Dir wünsche ich volle Befriedigung in der Reise und dem Leben dort, und dann auch in der Heimkehr, und in der Heimath, wo auch Du Dir noch ein Heim wiederc gründen mußt, dann wird Dir das Leben in der Wissenschaft und Beruf ein erhöhters und vollers werden.
Und somit dann Lebewohl, ich müßte Dich beneiden, wenn ich nicht zu gebunden u. gehemmt wäre.
Immer Deine
alte Bertha.
a gestr.: der; b eingef.: nach dem Kaffee; c eingef.: wieder