Anna Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 12./13. März 1860

Berlin 12. 3. 60.

Wieder habe ich einen Brief von Dir in Händen, mein lieber, bester Schatz, und was für einen herzigen, der mir den ganzen Tageslauf meines Geliebten, ihn mitten an der Arbeit schildert, die ihm eine Lust und Freude ist. Siehst Du, Du schilderst Deine reizenden Radiolarien so lockend, so zart und intereßant, daß ich gar gern einmal mit Dir in’s Mikroskop schaute, das Dir all die Wunder der schönen Natur erschließt; das muß ich hier nachholen, wie so manches Andere (!). Ich jauchze der schönen Zeit entgegen und wähle schon nach Tagen; doch Geduld, Geduld, Du übermüthiges Mädchen, das der Zukunft immer vorgreifen möchte. Wie freue ich mich für Dich, daß die Alten nachgegeben haben und Du Deinen einmal gefaßten Plan verfolgen kannst, Paris noch 2 – 3 Wochen zu schenken; ich habe mir es von Anfang an nicht anders gedacht und billige Dein Vorhaben ganz und gar; Deine Gründe sind triftig, namentlich der, daß Du ewig bereuen würdest, die große Weltstadt berührt und nicht gesehen zu haben. Sieh Dir Alles Schöne und für Dich Neue recht genau an und theile mir von Deinen Genüßen hier mit, die freilich mein kleiner Gehirnkasten nicht alle auf einmal faßen wird; ist auch nicht nöthig; wir haben, so Gott will, noch ein langes Leben vor uns, da werde ich noch oft in Gedanken von Dir nach Florenz, Rom, Neapel, Capri, Ischia, Messina, durch die ganze Insel Sicilien bis auf den Aetna geführt werden, von dem ich Dich immer noch nicht herunter weiß. Du glaubst nicht, wie träumerisch und in Gedanken verloren ich bin,|| wo ich wieder viel unter Menschen komme, womit ich bis dahin durch meinen Hausarrest verschont wurde. Man ist mitleidig mit mir, spricht viel mit mir von Dir und Deiner Reise, und da ist es nicht zu verwundern, daß ich glücklich und vergnügt bin, namentlich seitdem ich definitiv Deine Rückkehr in die Heimath weiß. Du wirst Alle, auch mich unverändert wieder finden, wogegen ich mich auf einen veränderten Erni gefaßt mache, und in dieser Beziehung eine gewiße Unruhe und Neugierde nicht unterdrücken kann. Ist dieser Brief bei Dir, wirst Du wohl schon die 100ste Entdeckung gemacht haben, Dein Buch schließen und das unangenehme Packen beginnen, das ich Dir gern abnehmen möchte, so wenig ich es auch liebe. Desto trefflicher wird nach den unruhigen, lästigen Tagen die Seefahrt, die Du hoffentlich ohne Gefahren und Unwetter zurücklegst, und die schöne Zeit in Paris schmecken, um die ich bei den Alten nicht vergebens gebettelt habe. Diesmal hat mich Dein Brief wirklich überrascht, denn am Sonnabend ist er seit vielen Wochen schon nicht mehr einpaßirt. Ich war gerade damit beschäftigt, meine Blumen zum Sonntag zu reinigen, als Mutter mir Deinen Brief hereinbrachte, über den natürlich Blumen, Zeit, Pflichten vergeßen wurden; der Inhalt feßelte mich ungemein; wohl magst Du Deine Arbeit eine poetische nennen; ist doch die ganze Natur Poesie für den, der sie versteht und belauscht. Weißt Du, daß ich stolz darauf bin, daß ich das noch Alles wußte, was Du im letzten Brief über die Structur der Radiolarien und ihren Unterschied von den Polythalamien schreibst? Beßer werde ich sie noch durch Deine Zeichnungen kennen lernen, und wie erst gar, wenn ich das schöne Werk vor mir sehe!!! || Es klingt unbescheiden, aber mir ahnt, daß Du nicht vergebens gearbeitet hast und nicht lange auf eine Profeßur warten brauchen wirst, das Ziel unser Beider sehnlichster Wünsche. Den Brief an Max Schultze habe ich erst heute nach Bonn abgeschickt; sei mir nicht bös deshalb, aber ich bin die ganze Zeit so im Trouble gewesen, daß ich keine Zeit zu Briefschreiben finden konnte, was ich damit an Hedwig verbinden wollte. Von dieser bekomme ich von Zeit zu Zeit Briefe und nehme regen Antheil an ihrem Leben und Treiben. Durch Deine beabsichtigte Rückreise erhält Hedwigs vorjähriger Plan neue Nahrung, wonach ich nämlich den Winter bei ihnen bleiben und mich von Dir abholen laßen sollte. Beneiden kann ich sie, daß sie Dich eher wie ich zu sehen bekommen. Bist Du erst in Bonn wird entweder meine Geduld ausgegangen sein oder durch energische Seelenanstrengung Oberwaßer behalten haben, die ich mir augenblicklich nicht zutraue. Mutter und Sophie liegen schon ein Weilchen schlafen, welche Zeit ich zum Plauderstündchen verwandt habe; leider schlägt es aber 11 Uhr, der äußerste Termin für mich; aus reinem Gehorsam und Festhalten an dem Quincke gegebenen Versprechen versage ich mir meine größte Freude, in der Stille der Nacht (der Tag macht jetzt durch Sophien’s Anwesenheit gar zu viel Ansprüche an mich) mich mit Dir zu beschäftigen und dem Papiere anzuvertrauen, was ich Dir gern selbst erzählte. Mein Herz ist so voll von Dank gegen Gott, der Dich so gnädig bewahrt, gegen das Meer, das Dir so reichen Stoff bot und gegen die Menschen, die dort freundlich sich Deiner angenommen haben, so voller Frieden und Ruhe und doch wieder solcher Unruhe und || Ungeduld, Sehnsucht und Hoffnung, Winter- und Lenzgedanken, daß ich nicht recht weiß, was ich aus ihm machen soll, erklärte ich dies Alles nicht durch das Eine Wort: Liebe, Liebe, die mein ganzes Wesen durchdringt, die ich Jedem wünschen und andichten möchte, mit der ich die ganze Welt umarmen möchte, die mein höchstes Glück ausmacht, Träume zur Wirklichkeit verwandelt, Mängel und Schäden mir verschwinden läßt, Leid zu Freude mir verwandelt und Alles in Allem mich in Dir finden, von Dir nehmen lehrt. Gute Nacht, lieber Schatz, bleib’ im Traum bei mir, um so williger schließe ich die Mappe und gehe zur Ruh!

Guten Morgen, lieber, lieber Erni; Du hast Wort gehalten; ich habe viel von Dir geträumt und unser Beider Wonne über köstlich grüne Wiesen; zwischendurch zog sich aber viel dummes Zeug von verschiedenen Persönlichkeiten, die mir ziemlich gleichgültig und lange aus dem Sinn gekommen sind. Noch leuchten die Feuer hell und flackernd, obgleich die Tageshelle ihr Recht schon geltend macht; schon seit längerer Zeit kann ich ohne Lampe Morgens um 6 Uhr sehen, wo ich Dich schon auf dem Meere weiß, Dir die Thierchen aus Messina’s reichem Hafen fischend, die Dich im Laufe des Tages bei der Arbeit so ergötzen. Die dortigen politischen Zustände müßen ja entsetzlich sein, wo Todtschlag offen auf der Straße wüthet, ist allerdings eine bedeutende Gährung im Volke entstanden, die sicherlich bald in eine offene Empörung ausbricht. Mir ist es sehr recht, wenn das nach Deinem Fortgang geschieht. Dann ängstige ich mich auch nicht speciell um Dich, faßt mich doch ein unheimliches Gefühl, Dich in solchem Wirrwarr zu wißen, der Dir Deine Arbeiten gewiß unterbrechen würde. ||

Dienstag 6 schrieb ich Morgens Deinen Brief, wobei ich, wie gewöhnlich oftmals unterbrochen wurde. Nach dem Eßen ging ich zu Deinen Alten heraus, die ich bei der gemüthlichen Tasse Kaffee fand und mit denen ich nach Herzenslust von Dir sprach. Der Alte ging um 5 Uhr in sein Kolleg, ich brach ½ Stunde später auf, um einen Vortrag von Riedel über die Churfürstin Elisabeth von Brandenburg mitanzuhören, der meinen schwachen Geschichtskenntnißen wesentlich half. Dein Alter und Fräulein Simon, die während Ottiliens Anwesenheit in Hirschberg deren Stelle ersetzte, waren auch dort, sowie Theodor, der mich heim geleitete. Ich spielte noch Klavier und arbeitete etwas; übrigens bin ich jetzt entsetzlich faul und habe mich gründlich vor meinem fleißigen Naturforscher zu schämen, kann aber den augenblicklichen Verhältnißen nicht aus dem Wege gehen, sondern muß mich fügen.

Mittwoch 7 verging der kurze Morgen mit Hausarbeit, obgleich die warme Sonne nach langer Zeit recht in’s Freie lockte. Um 1 Uhr aßen wir schon, weil Sophie und ich von 2 – 4 Uhr Klavierstunde haben. Ich nehme immer die erste, die mir sehr viel Freude macht, und in der ich entschieden Fortschritte mache; jetzt übe ich die reizende Fmoll Sonate von Beethoven. Nach dem Kaffee besuchten Sophie und ich Untzers, die mir sehr niedliche Ansichten aus der Schweiz und Oberitalien zeigten, die Julius gehört haben. Einige [?] gute Gletscherbilder erinnerten mich lebhaft an die Roßmäßlersche Beschreibung der intereßanten Eiswelt in den Alpen. Louis holte uns dort ab und beschützte uns in der Emilia Galotti, die ganz meisterhaft gegeben wurde. Sämmtliche Rollen waren gut besetzt: Emilia: Fräulein Fuhr, Gräfin Orsina: die Hoppé, Marinelli: Dessoir, Angelo: Döring, der Prinz: Liedtke, Edoardo Galotti: Kaiser, Claudia: Frau Werner, kein Wunder daß das Ensemblespiel ganz vollendet war und die tiefen Lebenswahrheiten, die Lessing darin ausspricht, mir zum klaren Bewußtsein werden und kräftige Aufnahme in || mir fanden. Döring als Angelo machte einen so vortrefflichen Lazzaroni, daß man ihn als Bösewicht hätte liebhaben können. Ich weiß, Dich hat die Emilia von der Fuhr früher auch schon sehr entzückt, ich theilte Deine Begeisterung und kehrte sehr befriedigt nach Haus zurück.

Donnerstag 8 wanderte ich, nachdem ich feine Wäsche gewaschen hatte, zur Schneiderstunde zu Ohrtmanns, wo fleißig genäht und geplaudert wurde. Im ersten Winter, den wir hier lebten, hatte ich auch diese Stunde und kam nachher öfter bei Euch herein, um einen Auftrag auszurichten, wo ich Dich gewöhnlich mit dem Alten zu Tisch fand. Solche Vergangenheitsbilder, in denen ich Dich gesehen habe, knüpfe ich fortwährend an die Gegenwart an und erleichtere mir dadurch bedeutend die Trennung von Dir, meinem Liebsten, Besten auf der Welt. Während Mutter Abends bei Tante Gertrud in Gesellschaft war, hatte ich Besuch von Gretchen, Katherin Ohrtmann, Anna Reimer und Magdalene Dieckhoff. Wir saßen traulich in meinem Stübchen zusammen und spielten nachher etwas Klavier. Die beiden Rosen an meinem Geburtstagsstämmchen blühten zum letzten Mal und entzückten die Mädchen auch. Jetzt habe ich noch 4 Knospen zu pflegen, die vielleicht erst Ende April aufblühen. Das wäre hübsch von den Blumen, wenn sie unser Jubelfest mitfeiern hülfen. Meine lieben Alpenpflänzchen paradirten an dem Abend auch wieder.

Freitag 9 hatte ich prosaische Beschäftigung vor, die einmal von uns Frauen gethan werden muß. Ich wußte sie mir durch Hersagen aller Deiner lieben, warmen Gedichte und durch Auswendiglernen neuer aus der Italia angenehm zu machen. Wie gesagt, sind bei uns die Hände auch nicht nach Wunsch beschäftigt, das Herz kann es sein; und es weit, weit herschickend über’s Meer, vergaß ich darüber Servietten, Handtücher, Taschentücher etc., die durch meine Hände wanderten. So schön kann gewiß Niemand denken, als ich || weil Niemand einen so würdigen Gegenstand liebt und verehrt, an den sich alle Gedanken und Gefühle anreihen. Abends blühte mir und der ganzen übrigen Familie ein schreckliches Zauberfest bei den sogenannten Wahren-Jacobis, wo wir durch Kartenlotterie unterhalten worden [waren]. Ich hätte etwas daran gegeben, daheim in meinem Stübchen in Gedanken bei Dir zu sein, die durch langweilige Menschen und den entsetzlichen Papageiartigen Aufputz der vier Schwestern Jacobi immer abgelenkt wurden. Der Rückweg durch den Thiergarten bei schönem Mondschein war das Beste.

Sonnabend 10 überraschte mich früh Dein lieber Brief, der mir den Sonntag verfrühte [!]. Ich las ihn glückselig ein paar Mal durch, war unangenehm berührt durch die grauenhaften politischen Zustände um Dich herum, denen ich Dich bald mit Freuden fern weiß, beendete meine häuslichen Geschäfte und eilte dann mit dem Brief zu den Alten, die sich nicht weniger, als ich über ihn freuten. Ich fand dort auch das Brautpaar und Frau Lampert vor, die auf 8 – 14 Tage mitgekommen ist. Sie hat mir einen sehr angenehmen Eindruck gemacht, wogegen mir das Brautpaar nicht recht gefallen will. Ich fing noch vor Tisch an, Deinen Brief vorzulesen, wurde aber durch Besuch darin gestört und las ihn nun beim Kaffee noch einmal vor. Der Alte schien gleich Deinen und meinen Bitten wegen Paris Gehör zu geben, allein die Mutter schüttelte mit dem Kopf und gab uns als Grund dafür, daß sie nicht mit Deinem Plan einverstanden sei, an, Du seist lange genug weg gewesen, der in meinen Augen bei einer Reise von 18 Monaten nicht stichhaltig genug war; ich fürchtete also sehr für die Bewilligung und führte, ehe ich fortging alle möglichen Vernunftgründe an, die sie dazu bewegen sollten. Zu Haus angekommen, mußte ich mit Mutter noch einen Besuch bei Eichmanns machen, dann blieb ich bis 9 Uhr bei Tante Bertha und las ihr den lieben, warmen Brief vor, in dem || sie Deine detaillirte Arbeitsbeschreibung auch sehr intereßirte.

Sonntag 11 las ich beim Frühstück den Meinigen den Brief vor und ging dann mit Sophie zu Sydow in die Kirche, von dem ich nach langer Zeit eine vortreffliche Predigt hörte, die mein Inneres sehr bewegte. Nachdem wir uns bei Schauß [?]durch eine Taße Chokolade erquickt hatten, eilten wir schleunig in die Singakademie, wo zum Andenken der kürzlich verstorbenen Schröder – Devrient das Mozartsche Requiem von den Opernmitgliedern und dem Sternschen Gesangverein wunderschön ausgeführt wurde. Das Benedictus klingt mir noch immer in den Ohren. Außerdem wurde der schöne Psalm: Wir preisen selig Dich, Zion aus dem Paulus gesungen, und was mich vor Allem ergriff, der Schröder – Devrient Lieblingslied: Es ist bestimmt in Gottes Rath, vierstimmig arrangirt und dreifach jede Stimme besetzt. Die Schlußworte – auf Wiedersehen sang ich immer mit, aber nicht in der melancholischen Melodie, sondern fröhlich und gewiß, während sie in der bekannten Komposition so zweifelhaft und fragend klingen. Frau Hoppé sprach eine Art von Nekrolog oder Prolog in schönen, einfachen, wahren Worten zu der Büste der hohen Künstlerin gewandt, die zwischen Palmen und grünen Gewächsen im Saale prangte. Abends war bei uns Gesellschaft von Deinem Alten nebst Brautpaar, Voswinckels, Naumanns, Fräulein Jacobis, Untzers, Helene und August und Tante Gertrud. Moritz Lüdtke und Sophie spielten sehr hübsch Klavier; ich bemühte mich, die Gäste zu unterhalten und kam erst spät zur Ruhe. Montag 12 schrieb ich früh einen Brief an Hedwig; nachher plättete ich feine Wäsche. Nachmittag war ich mit Sophie bei Tante Bertha zum Kaffee mit zwei Frau Kochen [?], Albertine Sommerfeld, auch einer Braut und Laura Wismann aus Bonn zusammen. Tante Bertha gab mir von Tante Gertrud eine Adresse für Dich an Gerhard Sethe, den Sohn vom Amsterdamer Sethe, Bruder von Louise mit, der Dir in Paris vielleicht behilflich ist. Füge sie Karl’s Zettel bei und schließe noch einen innigen Kuß ein von

von [!] Deiner treuen Aenni.

Brief Metadaten

ID
34493
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Datierung
13.03.1860
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
22,0 x 14,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 34493
Zitiervorlage
Sethe, Anna an Haeckel, Ernst; Berlin; 13.03.1860; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_34493