Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 04./05. März 1860

Berlin 5. 3. 60.

Heute habe ich Dir zwei Briefe zu beantworten, mein lieber, lieber Erni, die beide von Glück und Freude über das baldige Wiedersehen lauten; dem stimme ich von Herzen bei und kann das ungeduldige Herz kaum mehr zum Stillschweigen bringen; selbst unter fremden Menschen gebe ich meiner Freude lauten Ausdruck und denke nur dem April, dem herrlichen Frühling, meinem lieben, lieben Schatz entgegen, der neues Leben mir bringen, mich mir selbst wieder geben und sein geliebtes Mädchen treu, wahr und unverändert wieder finden wird. Läßt sich wohl eine größere Freude ausmalen, als wenn zwei geistig verwandte Menschen, die ihr Glück nur auf geistige Güter gebaut haben, auf Liebe, Wahrheit und Vertrauen, die viele gleiche Intereßen für Natur und Kunst fühlen, Die Beide einem hohen, edlen Ziele nachstreben und im Arbeiten und Schaffen, im gegenseitigen Fördern und Ergänzen ihre höchste Lust finden, wenn diese zwei Menschen 5/4 Jahr von einander getrennt gelebt haben, sich wieder sehen, Aug’ in Auge ihre innersten Gefühle austauschen können und der Lippe zartea Sprache wieder reden laßen dürfen, o gewiß der Himmel freut sich mit uns, wenn die schöne Stunde schlägt, die uns Beiden eine Ewigkeit voll Wonne und Glück sein wird. Wie wird er nur aussehen, frage ich mich täglich tausendmal, denn wo der Geist eine bedeutende Modification erleidet, sollte da der Körper da unberührt von dem Meißel der Kultur und Entwickelung bleiben. Deinen geistigen Umschwung kannst Du nicht leugnen, mein lieber Erni, den fühle ich Deinen Briefen durch. Die unschlüßige, schwankende Mephistonatur, der Weltschmerz Heines, gegen den Du Dich mit Recht in Deinem letzten Brief wehrst, || ist einem festen, männlichen Willen, einer inneren Zufriedenheit und Ruhe gewichen, an der Deine erfolgreiche Reise und Deine Aenni nicht unschuldig sind. Welch kostbare Entdeckungen hast Du gemacht der unscheinbarsten, reizendsten Thierchen, die ich alle zu sehen bekommen muß, die Dein gesundes Naturforscherblut in gerechte Wallung versetzen müßen und alle gleich strebsam an Naturen entzücken und erfreuen werden! Du bist wirklich ein Glückspilz, das habe ich immer gesagt und in Italien hat es sich wieder bewährt. In Menschen, Wetter und sonstigen Umständen, die den Genuß einer Reise erhöhen können, hast Du in Italien durchweg Glück gehabt, und wird Dich gern an die schöne Zeit in späteren Jahren zurück denken laßen, wie es ja überhaupt nicht allein darauf ankommt, die Gegenwart zu nutzen, obgleich mir dies sehr wesentlich ist, sondern auch Stoff für die Zukunft zu sammeln, die immer Zeugniß ablegen soll von der Vergangenheit, die jetzt Gegenwart ist. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke, was mir leider sehr fehlt; säßest Du neben mir auf dem kleinen Sopha, würde ich Dir klarer machen, was ich eigentlich damit sagen will; so mußt Du mit meinem Gedankenkram vorlieb nehmen, der durch Plauderei und Querfragen meiner Umgebung ganz in die Brüche geräth. Erlebst Du noch einen zweiten Februar, so hat die Zahl Deiner Entdeckungen gewiß 100 erreicht; wie ich mich, abgesehen von meinen egoistischen Nebengedanken, herzlich mit Dir über Dein erreichtes Ziel freue, brauche ich Dir kaum zu sagen; wir Frauen kennen leider nicht die Wonne des Schaffens, des Förderns, wir Ihr Männer, und namentlich Ihr Forscher und Kenner der Natur sie fast täglich bei Eurer Arbeit durchmacht und dadurch der Welt von großem Nutzen || werdet. Was ihr in dem Reiche des Verstandes leistet, ist uns in dem des Gemüthes gestattet, über deßen Vorhandensein Du Dich freilich beklagst. Ist unser Beruf nicht so umfaßend und bedeutend, so ist er nicht weniger in’s Leben eingreifend trotz des engen Kreises, der uns gezogen ist, trotz der scheinbaren Unthätigkeit und des Brachliegens. Ja, ich kann wohl sagen, mein lieber Schatz, ich bin stolz auf unsere Würde, die von edlen Männern nie verkannt und unterschätzt werden wird. Damit aber dem Mann der Verstand das Gefühl nicht ersticke und die Frau sich nicht in weichen Gefühlen und Empfindeleien verliere, ist dieser schöne Bund von Gott geordnet, der Harmonie in die Welt bringt, der die Extreme ausgleicht und jeder Kraft des menschlichen Geistes zu seinem Rechte verhilft: Denn wo das Strenge mit dem Zarten, wo Starkes sich und Mildes paarten, da gibt es einen guten Klang“ dem stimmen wir bei, Erni nicht wahr und durchdringen und ergänzen uns immer mehr? Daß wir Beide in gegenseitiger Wahl das Richtige gefunden haben, ist uns längst klar geworden, täglich finde ich aber fast in dem lebendigen Gedanken an Dich eine neue verwandte Seite mit Dir heraus und die Farben des zukünftigen Lebens werden immer lichter und strahlender, je tiefer ich Dich kennen lerne, je höher ich Dich achte; die Liebe zu Dir, die ich gar keines Wachsthums mehr fähig hielt, wird immer stärker in mir, immer ruhiger und maßvoller, je klarer ich mein großes Glück überschaue. Fast verwöhnt Dich Fortuna und wird Dich übermüthig im Glück machen, wenn sie Dir, wie am 10 Februar, wo ich in meinem Tagebuch den Spruch gefunden habe: O blicke, wenn den Sinn die Welt Dir will verwirren, Zum ew’gen Himmel auf; wo nie die || Sterne irren,“ 12 neue Thierchen bescheert, über die Dein Jubel gewiß groß gewesen ist. Daß Du an Deinem Geburtstag nicht leer ausgingst, ist mir eine ganz besondere Freude; wenn nicht die gütige Natur, hat auch Niemand Dich durch eine Gabe erfreut, schön, daß wenigstens Dein Wohl getrunken worden ist, wobei mich Deine Tischgenoßen auch wieder bedacht haben, die mir sogar die Ehre des Tages laßen wollten, die nur meinem lieben, lieben Schatz gebührt. Deine Beschreibung des Kirchenfestes, die mich an ähnliche Komödien erinnerte, denen ich als Kind in Münster beiwohnte, wo wir von Katholiken ganz umgeben waren, hat mich weniger entsetzt, obgleich der angebliche Brief der Heiligen Jungfrau an die Messineßen die Grenzen des Aberglaubens überschreitet und entsetzliche Bornirtheit des Volkes beweis’t, als das Kirchenfest der Vaga, wo man durch offenbare Verbrechen, denn so kann man doch nur das Quälen der kleinen Kinder, das oft den Tod zur Folge hat, ansehen, Gott zu gefallen meint und Eltern entschieden keine Liebe zu den Kindern haben können, wenn sie sie auf diese Weise dem Tode preis geben. Diese Feste werden jeden gebildeten, vernünftigen Menschen empören, wie viel mehr einen Naturforscher, der das ganze Leben auf natürliche Verhältniße zurückführen möchte, die die Kultur und steigende Entwickelung der Völker nicht zu laßen [!]. Dort bist Du auch als einziger Protestant den Menschen durch Deine Nichtteilnahme an ihren Ceremonien sehr aufgefallen, woran die Katholiken in unseren katholischen Kirchen schon sehr gewöhnt sind und vielleicht auch einen Fluch für den Ketzer im Herzen tragen, ihn aber nicht offen auszusprechen wagen. Noch in diesem Herbst, wohnte ich in Köln einer musikalischen Meße bei, wo ich nach langer Zeit den Hocus pocus wieder sah, die schöne Musik klang in den weiten Hallen wundervoll und weiter wollte ich nichts. ||

Was Deine Reise anbetrifft, so billige ich Deinen Plan vollkommen. Ende März wirst Du also Deine Arbeiten einstellen, packen und dem Norden zueilen; ich begreife, daß Dir es schwer wird, gerade in der schönsten Jahreszeit die liebliche Insel zu verlaßen; unser Frühling wird aber auch schön sein und kann sich mit dem italienischen meßen; ewigen Sonnenschein und blauen Himmel sollst Du auf meinem Gesichte finden und schöne Blüthen wird meine Liebe treiben, wenn der heißersehnte Geliebte wieder um mich ist; wollen uns drum nicht die schöne Zeit verderben durch den Gedanken an die Trennung, die hoffentlich nicht so bald eintritt, als ich Dir schrieb. Ich habe das Weh, das darin liegt, vergeßen über den Jubel und die Freude des Wiedersehens, die in meiner Seele festen Fuß gefaßt haben; übrigens denke ich, wird Quincke sich auch erbitten laßen, da es mir wieder so gut geht und den Termin hinausrücken; ich habe ihn in diesen acht Tagen nicht gesehen, sonst hätte ich ihn schon darum gefragt. Aus Deinem Briefe geht mir hervor, daß Du glaubst, wir sollen nur den Monat Mai nach Heringsdorf gehen; das ist ein Irrthum, ich soll den ganzen Sommer und Herbst dort zubringen und schon früh dahin aufbrechen. Wenn letzteres hoffentlich auch nicht geschieht, so wird ersteres nicht zu umgehen sein und rechne bestimmt darauf, daß Du mich öfter an der See besuchst; vielleicht kannst Du dort ordentlich arbeiten und in den Mußestunden mit mir an der nordischen See, im grünen Walde mit mir herumschwärmen. Daß Du Dich in Paris ein paar Wochen aufzuhalten wünschtest, kann ich nur billigen und begriff Deinen Vater nicht, der Dir im vorletzten Briefen [!] diesen Plan gänzlich durchkreuzte. Jetzt denkt er anders und gibt wenigstens einige Tage für Paris zu, das man auch unmöglich paßiren kann, ohne sich gar keinen Eindruck von der Weltstadt verschafft zu haben. Nach ein paar Tagen Aufenthalt || in Bonn, wo Philipp mir im Sommer immer vorschlug, den Winter zu bleiben und mich dann von Dir abholen zu laßen, was Durch Deine Pläne realisirt werden könnte, darf ich Dich hier erwarten, bei welchem Gedanken mir der Kopf schwindelt; ich weiß kaum, wie ich den Tag, die Stunde, den Moment des ersten Sehens erleben werde. Schreibe mir nur ja im nächsten Brief, wohin ich nach Deiner Abreise von Messina die Briefe addresiren soll, damit Du nicht noch zu guter letzt Nachrichten entbehrst. So spät Dein vorletzter Brief, erst am vergangenen Mittwoch eintraf in Folge des heftigen Sturms, so richtig überraschten mich heute Deine letzten lieben Zeilen vom 25, die ich zu meiner Qual ein ¼ Stündchen vor mir liegen sehen mußte, ohne sie lesen zu können. Da große Wäsche [war], war ich eben mit dem Waschen der Taßen beschäftigt und durfte den Brief nicht eher lesen, um das Waßer nicht kalt werden zu laßen; wie schnell das aber abgemacht wurde, kannst Du denken und wie glücklich ich war, als ich auf meinem Zimmerchen saß und das blaue Papier erbrach, das mir so manche schöne Stunde während der langen Trennungszeit bereitet hat.

Dienstag Morgen. Gestern Abend mußte ich auf wiederholte Ermahnungen von Mutter hier abbrechen, und mein Erstes ist heute, Dir einen frischen Morgengruß zu senden aus dem kalten Norden, wo heute der Schnee ebenso wild in der Luft herumstöbert wie gestern und naß zur Erde fällt. Mag der Schnee undb Sturm wüthen, der in Messina ja entsetzlichen Schaden angerichtet hat, es gelingt ihm nicht, mir die Lenzgedanken zu verscheuchen, die zu tief stecken; jedes laue Lüftchen begrüße ich mit Jubel, und vergeße Sturm, Näße und Kälte, über die sich seit einigen Tagen Jedermann beklagt. Ich bin gestern Morgen unverzagt durchgegangen und brachte den Alten freudestrahlend den neusten Brief, wonach Du auch einige Male in Gesellschaften gewesen bist. Ich habe in der || letzten Woche herrliche Kunstgenüße gehabt, von denen ich Dir in meinem kleinen Tagebuch näher erzählen will.

Dienstag 29 ging ich, nachdem ich den letzten Brief expedirt hatte und nach einer Uebungsstunde auf dem Flügel mit Mutter gegen Abend etwas zu Tante Bertha herüber, die uns zum Thee dort behielt, zu dem sich Voswinkels hatten anmelden laßen. Tante Gertrud und Theodor fanden sich auch ein und bei gemüthlichem Geplauder wurde Deiner viel gedacht. Ich säumte an Tischzeug für die Profeßor-Wirthschaft, von dem Alle gern einmal eßen wollten.

Mittwoch 1 erhielt ich Deinen heißersehnten Brief, der so freudig und muthig an dem ersten Tag Deines neuen Lebensjahres geschrieben ist, daß ich ganz glückselig war und im lebhaften Antheil an Deinen immer wachsenden Entdeckungen mir die schönsten Zukunftsbilder ausmalte. Es war entsetzliches Wetter und obendrein hatte ich schon um 2 Uhr Klavierstunde, so daß ich erst um 3 ½ Uhr zu den Eltern ging und den Brief ihnen vorlas. Ottilie reis’te denselben Abend mit Schubert zur silbernen Hochzeit ihrer Eltern nach Hirschberg, an welchem Tage denn auch die Veröffentlichung der Verlobung datirt. Ich war so in’s Plaudern gerathen, daß es ganz dunkel geworden war, und der Alte mich vor seinem täglichen Spaziergang zu Haus brachte. Abends trank der Geheimrath Bitter mit seiner Frau und Schwägerin, Beide Schwestern von Bernhard in Steinspring, bei uns Thee. Er war sehr aufgeräumt und erzählte sehr intereßant über die Türkei und Griechenland, welches letztere er von seinem zweijährigen Aufenthalte im Gebirg [?] aus besucht hat. Nachher spielte er Klavier, während ich Klara meine reizenden Alpenpflanzen zeigte und Sophie von Fiesko berichtete, deßen Aufführung sie beigewohnt hatte. Da ich sie kürzlich durch Veranlaßung der Schiller-Biographie von Palleske, wieder gelesen hatte, intereßirte ich mich sehr für die Auffaßung und Darstellung der einzelnen Charaktere. ||

Donnerstag 2 wanderte ich früh in die Schneiderstunde und fand zu Haus eine sehr muntere Tischgesellschaft vor, bestehend aus Theodor, Louis und Moritz Lüdtke außer den gewöhnlichen Tischgenoßen. Gleich nach dem Eßen erhielt Mutter Besuch von einer alten Bekannten, einer Fräulein von Auer aus Wiesbaden, die Sophie und mich beim Spielen der Ouvertüre zur Zauberflöte unterbrach, die wir Beide Abends hören sollten. Die Ouvertüre ist reizend, aber wegen des feurigen Allegros sehr schwer und macht uns viel zu schaffen. Um 5 ¾ Uhr wanderten wir Beide dem Opernhaus zu, wo wir eine sehr gute Aufführung der komischen Oper hörten. Die frischen, schönen, bekannten Melodien tönen mir noch immer in den Ohren; die Köster als Königin der Nacht sang meisterhaft, ebenso Herr Fricke als Sarrastro, namentlich die köstliche Arie: in diesen Heiligen Hallen kennt man die Rache nicht. Ist der Text auch noch so unsinnig, tiefe Lebenswahrheiten enthält er auch, die schön gesungen, mir starken Eindruck gemacht haben, so in dem Duett zwischen Papageno und Pamina, wo letztere singt: Ihr hoher Zweck zeigt deutlich an, nichts edleres sei, als Weib und Mann. Mann und Weib und Weib und Mann, reichen an die Götter an. Da hatte ich denn oft Noth, meine Gedanken im Opernhaus zu feßeln, so [!] eilten immer nach dem Süden, denn die ewige, bewährte Liebe der Beiden, Tamino und Pamina, erinnerte mich in jedem Zug an unser Beider Verhältniß. Dazu waren die Rollen sehr fein aufgefaßt und wurden so edel dargestellt, daß ich immer Hermann und Dorothea vor mir zu sehen glaubte, von der ich mir freilich nichts zurechnen darf. Sehr entzückt kehrte ich nach Haus zurück und summte immer die niedlichen Melodien vor mich her; spielte auch mit Sophie noch die Ouvertüre.

Freitag 3 machte ich früh einen Besuch bei Klara Petersen, ging dann mit Helene, wo ich Hänschen baden sah, und Sophie || beim köstlichsten Frühlingswetter in’s neue Museum, wo wir dies Mal die 2 ½ Stunde auf das Aegyptische und Ethnographische Museum verwandten. Im ersteren beschäftigten mich die schönen Aquarelle besonders, die gewiß eine treue Vorstellung von dem südlichen Farbenglanz geben, in dem die Sonnenlandschaft der Insel Phylae und Marmorstatue bei Mondenlicht excellirten. Hier trafen wir mit Magdalene Dieckhoff und ihrem Bruder, dem Baumeister zusammen, der sich bemühte mir die Hieroglyphenschrift oben im Atrium zu erklären, was mich aber nicht so feßelte, wie die schönen Wandgemälde, zu denen ich immer und immer wieder zurückkehrte. Abends waren wir bei Deinen Alten mit Jacobis zusammen, wo viel die neue Verlobung durchgesprochen wurde, die den Verwandten Allen keine Überraschung gewesen ist.

Sonnabend 4 War ich fleißig zu Hause bei der Arbeit; spielte mit Sophie die schöne Ouvertüre zum Barbier von Sevilla, zu dem wir Abends endlich in der Italienischen Oper Billets erhalten hatten, was schon seit drei Wochen vergeblich gewesen ist. Die italienische Truppe spielt in dem neu erbauten Victoriatheater, zu dem wir d. h. Helene, Heinrich, Sophie die Reise bis in die Münzstraße per Droschke antraten. Das Haus ist recht hübsch, wenn auch nicht so schön, wie das Opernhaus; der Gesang übertraf Alles, was ich bisher gehört habe und dazu das vortreffliche abgerundete Spiel Aller hat mich sehr entzückt. Die Stimmen sind durchweg schön, namentlich der Sopran der Demoiselle Artot von der großen Oper in Paris, der einen Umfang und eine Zartheit und zugleich Kraft hat, daß man wirklich staunen muß. Was mir besonders gefällt, ist,c daß man sämmtlichen Sängern anhört, wie leicht ihnen der Gesang wird, und daß es reine Untertöne sind, [die]d man zu hören bekommt. Ich entsinne mich, nie so schönen Gesang gehört [zu haben]e Du kannst also denken, wie begeistert ich heimkehrte und Mutter nicht [genug]f davon erzählen konnte. Von Dir muß ich doch schon etwas Italienisch profitirt haben, denn hin und wieder verstand ich den Text, den ich übrigens Italienisch und Deutsch in meinen Händen hatte.

Sonntag 5 war ich früh um 9 Uhr schon in der Nicolaikirche, um Prediger Richter aus Mariendorf seine Probepredigt halten zu hören. Sie war sehr gesund und populär und hat mir recht gut gefallen. Möchte sie ihm von Erfolg sein, was ich aber nicht glaube, da seine Mitbewerber mehr Chancen haben. Auf dem Rückweg machte ich unter den Linden bei Anna Obernitz einen Besuch, mit der ich eine angenehme Stunde verplauderte. Ihr Mann ist Adjutant beim Prinzen Friedrich Wilhelm; da konnte sie mir nicht genug Liebenswürdiges von der Victoria erzählen, außerdem mußte ich ihr von Deinen Aquarellen g erzählen, da sie selbst auch aquarellirt, aber in anderer Manier. Sie untermalt die ganze Landschaft in Sepia und malt dann die bunten Farben, deren sie 24 besitzt, über. Da scheint mir Deine Manier einfacher zu sein. Zu Hause übte ich und las dann eine vortreffliche Rede Vinckes, die er einst in der Kammer bei Gelegenheit einer Petition wegen der italienischen Frage gehalten hat. Ich hätte sie gern selbst gehört, wenn ich es vorher gewußt hätte. Louis aß Mittags bei uns und gegen Abend gingen Sophie und ich ein Stündchen zu Voswinkels, wo Emilie uns vorsang und h ihrem [!] Bruder zur Violine auf dem Klavier begleitete, was sehr gut klang.

Montag 6 erhielt ich Deinen Brief, lieber Schatz, für den ich sowie den vom 16 herzlich danke. Ich las ihn Tante Bertha vor und brachte ihn im schrecklichsten Wetter den Alten heraus, die ihn heute schon nach Freienwalde abgesandt haben. Nachmittag war ich mit Sophie bei Anna Reimer zum Kaffee, wo außer mir noch zwei Bräute, Fräulein Freche [?], Fräulein Forstner und Ohrtmanns waren. Daheim schrieb ich Abends noch und vollende jetzt nach Tisch den Brief, an dem ich heute Morgen fortwährend unterbrochen worden bin. Mutter, Tante Bertha grüßen herzlich und einen innigen Kuß schließt er ein von Deiner Aenni. ||

[Adresse um 90 Grad nach links gedreht]

Al Signore Dottore Ernesto Haeckel

p. ad. Signore Mueller

Hotel Victoria.

Messina (Sicile).

via Marseille

a korr. aus: zarten; b korr. aus: währ; c eingef.: ist,; d Siegelausriss; Text sinngemäß ergänzt; e Siegelausriss; Text sinngemäß ergänzt; f Siegelausriss; Text sinngemäß ergänzt; g gestr.: intereßiren; h gestr.: mit

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
05.03.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Messina
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 34492
ID
34492