Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 13./14. Februar 1860

Berlin den 13. 2. 60.

Kann es auch heute nicht viel werden, mein lieber, bester Erni, so muß ich wenigstens meiner Freude Luft machen und Dir danken für Deinen Brief vom 5 ten der dieses Mal einen Tag früher einpaßirt ist, wie sonst und mich vor Ungeduld kaum zum Anziehen kommen ließ. Aus eigener Erfahrung weiß ich nur zu gut, wie weh es thut, einen Brief nicht zu bekommen und so lange, wie Du ohne Brief zu sein! Da hätte ich Dir denn mit dem nächsten vapore zwei gewünscht, der leider aber nur den einen flüchtig geschriebenen vom 25 gebracht hat, wogegen Dir der vom 18 ten, der erste verloren gegangenea unserer Korrespondenz viel mehr Freude gemacht haben würde, weil er lediglich von meiner Freude über mein Stübchen daheim, unserem Liebesplätzchen handelte, das mich bei meiner Rückkehr zur Mutter so anheimelte, daß ich mir ordentlich kindisch vorkam und seitdem 4 glückliche Wochen, wenn auch, bis auf Spazierengehen in der Mittagsstunde, eingesperrt, darin verlebt habe. Ich war und sollte ja auch sehr viel allein sein, was für mich niemals eine Entbehrung ist, am allerwenigsten jetzt, wo meine Gedanken so ungestört bei Dir und Deinem Leben und Wirken weilen können, wo sie zurückgreifen in die Wonnezeit unseres beiderseitigen ersten Liebesfrühlingsb und eine rosige, goldene Zukunft ausbauen, darüber die Gegenwart mit ihren Entbehrungen und Schattenlichtern vergeßend. Mein Zimmerchen ist etwas verändert worden durch hübsche neue grüne Gewächse, mit denen es Heinrich bei meiner Rückkehr geschmückte hatte; ich hege und pflege sie und ermahne die Schwächlinge, sich zusammenzunehmen und rede zum Wachsen zu, damit ihr durch Palmen und Cactus und Agave verwöhnter Freund, der am 3ten Mai gewiß die Vergangenheit in meinem Stübchen mit mir feiert, sich über die freuen kann. In diesem künstlichen grünen Walde sitzt Deine Aenni und wirkt und schafft für die Zukunft, nicht mit der Nadel allein, nein auch mit den weit fleißi-||geren Gedanken, worin die hell flackernden Feuer und die warm empfindende Italia, aus der ich bei der Arbeit lerne, mich stark unterstützen. Prächtige Heimkehrlieder verdanke ich diesem schönen Buch, das am 16 mir ein besonders schönes Gedicht von Kinkel zu eigen machen soll. Jetzt sitze ich an meinem Schreibtisch, über dem Salzburg prangt und darüber Karls Bild von Messina, wo meine Blicke gern und viel auf einem großen Bilde mit einem kleinen Thürmchen haften, auf das ich in Versuchung gerathe, neidisch zu sein: es birgt den liebsten, besten Menschen der Welt, dem der Adel der Seele auf der offenen, freien Stirn geschrieben steht, deßen wahre, freie und tiefe Empfindungen in den Augen zu lesen sind und von deßen Thätigkeit und strebsamen Geist manches Blatt, manche Zeichnung zeugen wird, die er nach dem Norden heimbringt und zu einem Werke vereinen wird, das laut Zeugniß ablegen wird von seiner Liebe zur Wißenschaft, die ihn nach dem Süden trieb und seiner Liebe zu seiner Aenni, die ihn dem Norden wieder gab. O lieber, lieber Schatz, ich weiß nicht, wie mir wird, wenn ich an Deine Heimkehr, an unser Wiedersehen denke, die Freude läßt sich nicht ausmalen, sie will nur still empfunden werden und wahr und klar wird sie ja erst, wenn der heißersehnte Augenblick da ist. Sei nicht bös auf Deine ungeduldige Aenni; Du weißt, das sind nur schwache Momente, die gegen die starken nicht aufkommen, in denen ich mich glücklich, beneidenswerth glücklich fühle in dem Gedanken, Dich glücklich und zufrieden unter den Schätzen des Meeres [zu wißen], die Dir so tiefe Einblicke in Deine geliebte Wißenschaft gestatten. Kehrst Du auch etwas später heim, als ich gehofft hatte, so kann ich nur einverstanden sein mit Deinem Plan nach Paris, in den ich mich, wie Du weißt, schon früher hineingelebt hatte; nur eine Bitte habe ich: könntest Du nicht Anfang April in Messina fertig werden, um am 3 Mai || wieder bei mir zu sein, an welchem Tage Dein und mein Geburtstag , unsere beiden Festtage des Jahres, zusammenfallen, denn da wurdest Du mir, ich Dir geschenkt und ein neues Leben erwachte in unseren beiden jugendlichen, erregten Seelen, wovon Du in Deinem letzten Brief wieder so schön Zeugniß gibst. O wie ist es beseligend, einen edlen, gleichberechtigten Menschen „Sein“ nennen zu können und wie natürlich der Gedanke, alle Genüße und Entbehrungen, alle Freuden und Leiden, kurz ein ganzes Leben mit seinen Licht- und Schattenseiten mit diesem geliebten Wesen zu theilen, und fern von ihm nur halb zu empfinden, zu denken, zu handeln. Heute bekommst Du meinen Geburtstagsbrief, der Dir hoffentlich Freude macht. Dieser schließt noch einen besonderen Kuß zum 16 ten ein; Grüße habe ich dem Mond, Wind und Wellen der Spree schon so viele aufgetragen, daß Einer Dein Ohr gewiß erreichen muß. Wehmüthig freudig ist mir zu Muthe in den Gedanken an den Donnerstag, den ich bei Deinen Eltern zu verleben denke. Gestern habe ich sie zum ersten Mal, nachdem ich Donnerstag 5 Wochen von ihnen fort bin, besuchen dürfen; Du kannst denken, wie wir uns gegenseitig freuten, denn die Alte und ich haben uns 4 Wochen lang nicht gesehen, in der sie sich wesentlich gebeßert hat. Sie ist voll im Gesicht geworden und sieht recht gesund aus, dabei geht sie rüstig und munter, wie ich es leider lange nicht von ihr gesehen habe; sie ihrerseits freute sich auch über meine rothen Backen, die keine Spur von dem Unwohlsein der letzten Wochen tragen; ich denke damit bist Du auch zufrieden. Ich war doppelt willkommen den beiden lieben Alten, denn ich brachte Deinen vor ein paar Stunden erhaltenen Brief mit, den ich ihnen vorlas, nachdem ich schon zu Haus in seinem Inhalt geschwelgt hatte. Dein erprobtes Mittel zum Gesundwerden laße ich mir gefallen und ziehe es Medizinschlucken und ruhig Halten gewiß vor. || Die Tour auf den Antenamare mit allen ihren Schikanen und kleinen bunten Abenteuern muß reizend gewesen sein; das wäre ganz nach meinem Geschmack, durch Waßer und Sträucher zu dringen und tüchtig zu klettern, und dann oben durch solch schöne Rundsicht belohnt zu werden. Freilich hätte ich Dir nicht in 4 ½ Stunde bis oben folgen können; allein würdest Du nicht in etwas mehr Zeit, bei langsameren Schritt denselben Genuß gehabt haben? Der Gedanke beschäftigt mich viel, ob ich wohl jemals eine längerec Fußwanderung mit Dir zusammen machen kann, da Du so Riesiges im Wandern und Klettern besteigst und vielleicht Dich nicht an den etwas langsameren Schritt Deiner Aenni gewöhnen kannst, läßt Du Dir schon eine kleine Unbequemlichkeit, einen Zwang gefallen, der eben nur auf Zeitaufwand hinausläuft. Nicht wahr, lieber Schatz? möglich, daß ich auch so tüchtig wandern lerne, wie Du. Die eigenthümliche Erscheinung der Fiumaren hat mich sehr interßirt; aber Grauen und Betrübniß mich erfaßt bei dem unendlichen Schaden, den sie dem schönen Lande zufügen und dem in keiner Weise von der Regierung gesteuert [wird]. Es ist ordentlich empörend, wie man das Verderben so hereinbrechen sehen kann, ohne Mittel dagegen zu ergreifen; das läßt aller Liebe zur Natur und zum Menschen entbehren, wenn man erstere nicht pflegt, sondern verkommen läßt und dadurch zusammenhängend, Letzterem die Existenz abschneidet und die Nachwelt, die unsere Früchte zu genießen bestimmt ist, gänzlich übersieht. Es ist der höchste Grad der Inhumanität und Gewißenlosigkeit, gegen die der Marschbewohner einen schönen Contrast bildet. Mit welcher unsäglichen Mühe, wie ich in Allmer’s [!] Buch gelesen habe, hat das Völkchen an der Weser und Elbe dem Meere Einhalt geboten und sich ein schönes Stück Land errungen, auf dem es seinen Unterhalt baut und Andere noch mit versorgt, und fortschreitet mit der Kultur, dem Entwicklungsprozeß des Menschen und seiner Garantie für sich selbst. ||

Dienstag 14. 2. 60.

Guten Morgen mein lieber Erni und frischen Gruß von Tante Bertha, bei der ich gestern Abend ein paar Stunden war, während Mutter, Heinrich und Sophie bei Tante Sack waren. Tante Bertha war allerliebst und wußte sich mit in unsere Zukunft zu versetzen; ich las ihr Deinen letzten Brief vor; wollte ihr auch noch den mit der Syrakusbeschreibung vorlesen; allein über vieles Plaudern war es 10 Uhr geworden, wo ich zu Bett sein soll, eine Errungenschaft des Sonntag, da ich bis dahin zu meinem großen Ärger schon um 9 Uhr ganz wach und munter hineinkriechen mußte. Daß Du auch nicht ganz wohl warst, ist mir nachträglich leid; die Nerven scheinen uns Beiden zu schaffen zu machen, von denen ich bis dahin nichts ahnte; Quincke behauptete es wenigstens, obgleich ich mich durchaus nicht krank oder angegriffen fühle. Meine Wanderungen bestanden statt auf den Antenamare täglich in den Thiergarten, wo ich alle unsere Lieblingswege aufsuchte und dort einsam und ungestört frische Vergangenheitsbilder an meiner Seele paßiren ließ. Mitunter begleitete mich Sophie auf meinen Wanderungen, öfter ging ich noch allein. Es ist mir für Sophie recht leid, daß mir aller Verkehr, aller Besuch von Museen, Theatern etc. verboten ist, sonst bin ich ganz damit einverstanden, was mich anbetrifft und laße mir an meinem eingezogenen, ruhigen Leben vollständig genügen. Dienstag Vormittag erhielt ich Deinen vorletzten Brief, die naive Theatergeschichte enthaltend, die einige der Verwandten sehr unrecht, ich mehr komisch finde; am selben Nachmittag beförderte ich den Geburtstagsbrief an Dich und besuchte nachher Tante Bertha, die sich merkwürdig wieder erholt hat. Mittwoch ging es durch Besuche den Tag über ziemlich unruhig her; am Abend war Alles fort, ich mit meinen Lieblingsgedanken allein, dazu strahlten die flackernden Sterne in der klaren Luft || wunderbar schön und unser blaßer Freund erzählte mir sehr viel Liebes von einem Deutschen im Süden, der ihn so gern und oft ansähe, als wolle er ihm Nachrichten aus dem Norden ablocken, die ihm dort ein Mädchen allabendlich vertraut; oderd versteht er mich nicht, sieht er doch zwei strahlend glückliche Augen, die ihm eine lange Erzählung ersetzen. In solchen hellen Vollmondnächten komme ich wenig oder gar nicht zum Schlafen, sondern unterhalte mich mit Dir und laße meiner Phantasie freien Spielraum. Donnerstag aßen Theodor und Louis hier, Sophie ging Abends in das Gustav Adolphsconcert, während ich Besuch von Magdalene Dieckhoff hatte, die sehr innigen Antheil an unserem Glücke nimmt und aus Liebe zu mir mit großem Intereße Deinem Leben und Treiben folgt, von dem ich ihr aus Deinen Briefen vorlas. Schließlich versicherte sie mich, wie so oft: Nein Anna, ich könnte Dich gar nicht mit einem anderen Manne zusammen denken, wie Ernst, der Dich so richtig versteht und auf deßen Ideen Du so schön einzugehen verstehst; ist solch ein Urtheil auch längst in mir reif geworden, so höre ich es doch gern von einer klugen Persönlichkeit, die mich schon lange kennt. Freitag Vormittag war ich ein paar Stunden bei Tante Bertha und half ihr an Vorbereitungen zu einer kleinen Abendgesellschaft. Wir waren Alle zu Haus, auch Louis Jacobi und da dieser mit Sophie Abends darauf Heinrich IV sehen wollten [!], den sie noch nicht kannten, schlug ich vor, ihn in verteilten Rollen zu lesen, was denn auch geschah; ich las den Heißsporn, eine männliche Kraftrolle, die schön und kernig durchgeführt, sich prächtig lies’t. Sonnabend wanderte ich an einem herrlichen Tag mit in den Thiergarten, soweit war ich gekommen, als Besuch über Besuch kam, worüber ich sehr ärgerlich bin, denn nun ist es 6 Uhr geworden und ich muß den Brief schleunig absenden, trotzdem die Alten und Tante Bertha noch nichts zur Einlage geschickt haben, wie ärgerlich, daß so viel Raum verloren geht; doch liegt mir daran, daß Du den Brief erhältst, drum Kuß und Gruß und Lebewohl für heute von Deiner

treuen Aenni.

a korr. aus: dem ersten verloren gegangenen; b korr. aus: Lieblingsfrühlings; c eingef.: längere; d eingef.: oder

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
14.02.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 34489
ID
34489