Anna Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 07. Februar 1860
Berlin 7. 2. 60.
Vorüber ist ein ganzes Jahr.
Schon kehrt der Tag nun wieder,
An dem Dein Mädchen Dir bringt dar
Die besten Festtagslieder.
Vor einem Jahr sang ich nicht so
Nach dem fernen Süd’ hinüber.
Wie bin ich glücklich jetzt und froh,
Daß die bange Zeit vorüber.
Von Frühling, Heimkehr tönt’s in mir,
Es will nicht Winter werden;
Die milde Luft, ein Gruß von Dir
Verfrüht sich auf Deutschlands Erde.
So möge auch der nordische Wind
Dir meinen Gruß bestellen;
Dir Liebes zuflüstern von Deinem Kind
Des Hafens stürmische Wellen.
Halt Dich gesund im neuen Jahr
Du herrlicher, deutscher Mann,
Bleib in Gedanken und Thaten wahr,
Wie Du’s bisher gethan.
Glaub’ an den Gott der schönen Welt,
Hoff‘ frohes Wiederseh’n
Und liebe die, dir Dir erfleht
Vom Himmel Wohlergeh’n. ||
Welch’ reiche Beute liefert das Meer
Dir an dem festlichen Tag
Und Deine Aenni kommt ganz leer
Mit schleppenden Versen nach.
Doch wenn sich abermals erneut
Der sechzehnte Februar,
Da weiß ich, wer Dich dann erfreut
Und schmückt Dein goldenes Haar.
Dann bist Du nicht im schönen Florenz,
Messina’s Hafen liegt fern,
Voller Erwartung auf den kommenden Tag,
Entbehrst Du Italien gern.
Ich kann Dir gar nichts geben
Du lieber Erni mein
Nimm’ denn mein ganzes Leben
Mein Herz, das längst ist Dein.
Der Mond wirft heut’ seine Strahlen
So voll in mein Zimmer hinein
Da läßt sich prächtig malen
Die Zukunft von uns Zwein.
Der liebe, zarte Vertraute
Hat oft uns Grüße bestellt,
Wenn ich in der Nacht ’naus schaute
Die trübe Seele erhellt. ||
Er wird auch helfen feiern
Mein schönstes, hohes Fest,
Muß gegen die Wehmuth steuern,
Die an dem Tag mich nicht verläßt.
Doch Februar, März wird enden;
Und um die Osterzeit
Schüttet Fortuna mit vollen Händen
Über uns Beide Glückseligkeit.
Drum nicht mehr klagen und weinen,
Nein jubeln aus voller Brust.
Die Sonne will wieder scheinen
Nicht enden wird unsere Lust.
Das ist mein Festgruß, mein lieber, lieber Schatz zum 16ten, den wir zum zweitenmal von einander weit, weit getrennt erleben; laß das schmerzliche Gefühl des Entbehrens aber nicht Herr über Dich werden, wie ich es auch niederkämpfen werde, und denken wir nur an den Mai; (früher glaubte ich immer an den April, aber Dein eben einpaßirter Brief belehrt mich anders), wo unendliches Glück und Wonne ohne Ende unserer harrt. Wachend und schlafend träume ich nur vom Frühling, bald von Dir, bald von wunderschönen Gegenden, die ich nie gesehen habe und die vermuthlich Deine Beschreibung vom Buteragarten mir eingegeben hat, oder sollten die herrlichen Träume Zukunftsbilder aus dem Leben einer glücklichen Profeßorfamilie sein? – Doch was ich zuerst hätte thun sollen, habe ich über den 16ten ganz vergeßen, Dir tausend Dank zu sagen, Du lieber, lieber Erni für die schöne Gabe, die ich mir zum 16ten aufbaue: Das herrliche Buch: Italien, in dem ich tagtäglich schwelge. Es enthält wirklich eine Fülle tiefer, reicher Gedanken, wie sie der duftige Süden einem poetischen Menschen eingeben muß, namentlich verherrlichen Platen, Rückert, Tieck das schöne Land auf würdige Weise; nicht minder schön singen Geibel, Kinkel und viele Andere. Merkwürdiger Weise sind die meisten Gedichte wie || für uns Beide geschaffen, die sich denn auch schnell meinem Gedächtniß eingeprägt haben, so daß sie bei der Arbeit nächst den Messinawanderungen meiner Gedanken die liebste Beschäftigung bilden. Beschämt fühle ich mich durch Deine große Güte und die unendliche Freude, die Du mir an meinem höchsten Feiertag bereitet hast, während ich Dir keine einzige machen kann, daß ich darüber ganz traurig werden könnte, müßte ich mich nicht mit Geduld in das bittere Muß finden. Seit Sonntag habe ich früh Morgens, wo gewöhnlich Dein Brief kommt bei jedem Klingeln gehorcht, ob nicht der Postbote den bekannten blauen Brief brächte, der mich immer so unendlich glücklich macht, doch nein; schon hatte ich mich heute wieder in mein Schicksal gefunden, als um 1 Uhr zu ganz ungewöhnlicher Stunde mir Dein Brief gebracht wurde; und kaum habe ich mir seinen reichen Inhalt flüchtig zu eigen gemacht und ihn dann den lieben Alten zugeschickt, so setze ich mich schleunig hin, um meinen Geburtstagsbrief noch heute zu schreiben und ihn mit dem Courierzug abgehen zu laßen, damit der vapore nicht wieder in Messina einläuft und Dein Herz vergebens jubeln muß. Nur aus eigener Erfahrung weiß ich zu gut, wie unangenehm das vergebliche Warten ist und wie todt die Tage hinfließen, ist der Brieftag ohne Brief vorüber; doppelt mußt Du aber darunter leiden, a bringt der vapore keinen mit, denn dann vergehen wieder 8 Tage, ehe die Möglichkeit wird, Dir einen Brief zu verschaffen. Nun hast du wahrscheinlich zwei Briefe auf einmal erhalten; wenigstens habe ich ganz regelmäßig alle Mittwoch meinen Brief abgesandt in der Hoffnung, Dienstag darauf würde er in Deinen Händen sein. Sollte gerade der Brief vom 18 verloren gegangen sein, thät [es] mir besonders leid, weil er der erste in meinem Zimmerchen daheim bei der Mutter geschriebene ist, der Dir gewiß Freude gemacht haben würde. Nach Deinen beiden letzten so unregelmäßig erhaltenen Briefen, bin ich ganz ruhig, bringt mir der Sonntag nicht die gewohnte Freude. || Stürmt es doch hier an unserem Hafenplatz so gewaltig, daß man sich draußen kaum halten kann; wie wird der Orkan auf dem offenen Meere erst sein Spiel mit den Fahrzeugen treiben, wie er es mit dem stolzen Cephire gemacht hat. Wurden schon früher beim Sturm immer unwillkührlich meine Gedanken auf’s Meer gelenkt, wie viel häufiger weilen sie jetzt dort, wo ich in Gedanken mit Dir zusammen auf die weite Fläche hinausstarre und gewaltige, großartige Bilder in mich aufnehme, zu denen mir Sturm in Heringsdorf in verkleinertem Maßstabe Stoff genug gibt. O grüße das herrliche Meer, das ich so gern habe und jetzt noch einmal so sehr, wie früher liebe, weil es meines Erni heißeste Wünsche erfüllt, seinen Wißensdurst stillt und seine Zukunft, in die ich eng mit hineinverflochten bin, ausbauen hilft; ja grüße das schöne Meer und laß Dir dauernd reiches Material von ihm liefern, damit Du nicht so bald wieder von Deiner Aenni fort mußt und voller Zufriedenheit auf den Erfolg und Zweck Deiner schönen Reise blicken kannst, zu der Paris also den Schlußstein liefern wird, was ich Dir von Herzen gönne. Brich nur nicht zu spät von Messina auf, denn Quincke besteht fortwährend darauf, daß Mutter sehr früh, womöglich noch im Mai mit mir nach Heringsdorf gehen soll, um mich recht ordentlich in Wald und See zu stärken. Quincke hat mich in Folge der Schlaf- und Appetitlosigkeit recht streng, aber äußerst liebenswürdig behandelt, um dadurch einer Krankheit vorzubeugen, durch die ich Dir gewiß große Sorge gemacht haben würde. Dank also seiner äußerst aufmerksamen Behandlung, die diese, sowie meine gute Natur abgewandt hat; ich schlafe wieder, herrlich von Dir träumend und habe wieder Appetit; vorläufig lebe ich nun von Milch, weißem Fleisch und täglich drei Apfelsinen, die außer dem Wohlgeschmack durch den natürlichen lieben Nebengedanken an Messina || vortrefflich bekommen. Übrigens bin ich während der ganzen Zeit munter und frisch gewesen, wie meine Briefe Dir das gesagt haben werden; Angst und Sorge, die Mutter wohl gekommen sind, waren also unnütz und ich hoffe nicht, daß sie meinem lieben Naturforscher in den Sinn gekommen sind; der kennt seine Aenni beßer, die er unverändert, mit den frischen nordischen Backen bei seiner Heimkehr wiederfindet. Dafür mußt Du Dir aber auch rothe Backen mitbringen, die mir auf Deiner Photographie sehr fehlen; dort siehst Du elend und abgemattet aus. Wie Du weißt, sehe ich jetzt sehr wenig Menschen, was mir sehr recht ist; nur bin ich mit Quinckes Anordnung nicht zufrieden, da ich zu Niemanden [!] hingehen soll, auch nicht zu den Alten zu dürfen und die Klavierstunde schon viermal aussetzen zu müßen, die mir so sehr große Freude machte und gewiß würdest Du Dich auch über meine Fortschritte gefreut haben, die nach den wenigen Stunden schon zu bemerken waren. Du glaubst nicht, wie hübsch ich durch Quinckes Strenge gehorchen lerne, wenn es auch nicht ohne Ärger bei Deiner oppositionellen Aenni abgeht; vielleicht dankst Du es ihm und setzt’st in Zukunft seinen gesunden Unterricht fort. Deine Mutter habe ich in Folge deßen drei Wochen nicht gesehen; der gute Alte besucht mich fast täglich und muß dann immer sich von Dir vorplaudern laßen; ich verstehe es prächtig, ihn in den Frühling hineinzulocken, denn er theilt meine unbegrenzte Freude über Deine Heimkehr, von der ich nicht genug schwatzen und noch mehr denken kann. Heute habe ich sehr viel Grüße und Glückwünsche für Dich, die ich nur gleich ausrichten muß, weil es Geburtstag ist; sonst vergeße ich sie wie gewöhnlich. Also Mutter, Heinrich, Sophie Jacobi, Helene, die eben hier war und mir Rehbraten gebracht hat, sowie Tante Bertha gratuliren herzlich. Clärchen und Conrad, die hier gegeßen haben, schwatzen fortwährend von Onkel Ernst. ||
Nun zu Deinen beiden letzten Briefen, die kurz auf einander gefolgt sind und mir so viel Liebes erzählen, daß ich ganz glücklich bin. Die weiteren Mittheilungen über den Buteragarten haben mich ebenso, wie die ersten entzückt; und mit großem Intereße habe ich Dich auf Deiner Weiterreise durch Sicilien bis Girgenti verfolgt, was ich vermittelst meiner Karte genau kann. Jetzt ist der Brief in Freienwalde, von wo ich ihn bald zurückzubekommen hoffe; es ist mir gar nicht recht, die lieben Briefe so lange aus den Händen zu laßen und gern lese ich sie noch mehrere Mal durch, obgleich ich den Freienwaldern von Herzen diese Freude gönne. Die Postfahrt von Palermo bis b Girgenti muß entsetzlich gewesen sein; die reichen Bilder des eben gesehenen Palermo, wo Du durch Allmers Freunde auch viel von den schönen Trümmern in Athen gehört hast, werden Euch über die unbequeme Lage fortgeholfen haben; aus eigener Erfahrung weiß ich wenigstens, daß wenn ich mich äußerlich in einer unbequemen oder gar unangenehmen zur Langeweile geeigneten Lage befunden habe, ich mir nur schöne, glückliche Stunden, Kunst- oder Naturgenüße oder irgend wie geistige angenehme Eindrücke in’s Gedächtniß zurückrufen brauchte, um so fort [!] in der besten Situation von der Welt zu sein. Daß Du einen Brief von Allmers gehabt hast, freut mich sehr; ich kann mir denken, wie die Mittheilungen des lieben Freundes, namentlich sein Behagen in der Heimath, sein gemüthlicher Abend bei den Tyrolern meinen deutschen Jüngling angesprochen haben werden, der bald die selben Gefühle durchmachen wird. Auch wirst Du gespannt sein, Allmers Tafelaufsatz mit ihm selber darauf, noch dazu im Capricostüm, das Geschenk seiner Freunde in Rom zu sehen, und gewiß wirst Du ihn bald einmal in seiner Heimath aufsuchen. Also 50 neue Thiere hast Du schon herausgefunden aus den reichen Schätzen des Meeres! Du glücklicher Mensch, wie lohnend muß sich’s bei solchen Erfolgen arbeiten! || Nie ruht das Streben nach Vorwärts bei dem fortwährenden Schaffen, Entdecken, Bereichern der Naturwißenschaften, dem weiten Gebiete geistigen Strebens und Denkens, das in Dir keinen unwürdigen Jünger, einen dankbaren Arbeiter gefunden hat. Und abgesehen von allem Äußeren, von Werk, Stellung, Amt und Heimführung Deiner Aenni, trägst Du den schönsten Lohn in Dir selbst, in dem befriedigenden Gefühl, etwas Tüchtiges zu leisten und ein brauchbares Glied in der großen Kette zu sein, ein Gefühl, was so wenig Menschen kennen und darum auch nicht glücklich sind; entweder mit sich oder der Welt zerfallen sind, in der sie sich unnütz fühlen – trauriges Schicksal, das wir nicht kennen; kann ich Dich wenigstens gar nicht entbehren, wie ich glaube, Dir in etwa nützlich sein zu können. Im Alpinischen und Transalpinischen lese ich mit großem Intereße; Alles erinnert mich an Deine Alpenreise, in die ich mich lebhaft hinein versetze; heute habe ich auch den Gemsenkönig: Colani kennen gelernt, deßen Sohn Dich auch im Engadin geführt hat. Außerdem lese ich jetzt Schillers Leben von Palleske, das ich mit dem Alten zusammen angefangen hatte; die es inzwischen allein ausgelesen haben. Die Entstehung der einzelnen Werke von Schiller ist höchst intereßant und lebhaft kann ich mich in die damalige Begeisterung versetzen, als in der trüben, dunkeln, unfreien Zeit die Räuber etc. erschienen und neue Ideen herrliche Gefühle in der schlummernden Nation weckten. So wird sich von Jahrhundert zu Jahrhundert das Volk immer freier, natürlicher und reiner entwickeln und Formen und Gesetze sich mildern. Die humoristischen Mittheilungen in Deinem letzten Briefe haben mich sehr amüsirt; der Vorfall im Theater hätte lästig und unangenehm werden können, hat mir aber tausend Spaß gemacht, obgleich ich fürchte, der Alte runzelt etwas die Stirn über seinen rücksichtslosen, zerstreuten Jungen, der sich in die Menschen nicht finden kann, wie er immer sagt. ||
[Briefschluss fehlt]
a gestr.: kommt; b gestr.: Syrakus