Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 18. Januar 1860

Berlin 18. 1. 60.

Das sind die ersten Zeilen aus meinem kleinen, trauten Stübchen, mein lieber, lieber Schatz, die Dich hoffentlich in eben solch angenehme, freundliche Stimmung versetzen, wie ich mich wieder in den bekannten vier Wänden fühle. Entsetzliches Gewohnheitsthier ist doch der Mensch; mir fehlte bei Euch zu Haus, trotzdem ich in Deinem Zimmer schlief, außer dem bedeutenden Etwas, immer noch ein kleines Etwas und das war mein Zimmerchen, wo ich rings von hübschen grünen Pflanzen umgeben sitze. Auf meinem Schreibtisch prangen die neusten Bücher vor Dir, Dein prächtig Bildchen hängt am Tintenfaß; wenn ich aufblicke sehe ich Salzburg und Deine erste Sepialandschaft, welches erstere jetzt oft durch das Bild von Messina vertauscht wird, auf dem ich ganz vollständig durch den letzten Brief orientiert bin. Drehe ich mich um, erblicke ich Palermo, wo Du so schöne, genußreiche Tage verlebt hast und mein neues Lebensjahr angetreten hast. In diesem kleinen Dir wohl bekannten, unveränderten Raum wirkt Deine Aenni mit den Händen und Gedanken für die Zukunft, die rosigen, herrlichen Tage, die unserer warten. Ich schrieb Dir, glaube ich, im letzten Brief, daß ich an Appetit- und Schlaflosigkeit litt und bin auch noch nicht frei davon. Dies war der Grund, warum Quincke wünschte, daß ich wieder zur Mutter zöge, zu der es mich auch in Folge einer sehr traurigen Nachricht aus Westphalen stark hinzog. Mathilde Christ, die junge 20 jährige Frau, die ich in diesem Herbst eigentlich erst kennen lernte und lieb gewann ist im Wochenbett gestorben. Nachdem sie einen kräftigen Knaben geboren hat, bekommt sie am 4 ten Tage das Scharlachfieber und ist nach drei Tagen eine Beute des Todes. Tief beklag ich den armen, so glücklichen, frischen Mann und nicht minder den lieben Onkel und Tante Bercken, die binnen einem Jahre zwei blühende Töchter im Wochenbett verloren haben. Das sind recht ernste Mahnungen, die gewiß dem Menschen von Zeit zu Zeit recht gesund sind, damit er nicht zu übermüthig in seinem Glücke werde, wie ich es bin. || Mir wurde es schwer die Alten zu verlaßen, ehe Ottilie Lampert dort war und that ich es nur unter der Bedingung, daß die Mutter mir versprach, nicht herunter in die Speisekammer zu gehen, was sie auch treulich gehalten hat. Gestern Nachmittag ist nun Ottilie einpaßirt, die meine Stelle ersetzt. Morgen werden es schon 8 Tage, daß ich wieder am Hafenplatz wohne und noch habe ich weder Tante Bertha noch die Alten besucht, weil Quincke mir eine Zeit lang allen Verkehr abgeschnitten hat, vermuthlich, weil er den Zustand für nervös hält, welcher Ansicht ich nicht bin. Ängstige Dich aber gar nicht; ich bin frisch auf und meine gute Natur wird dem Magen schon wieder auf die Beine helfen. Übrigens sträube ich mich durchaus nicht gegen diese Verordnung, denn ich bin am glücklichsten, bin ich mit Dir allein; an Beschäftigung fehlt es nicht, und da verrinnen die Stunden nur gar zu schnell. Nun laß Dir danken für den lieben, herzigen Brief, der mir den schönsten Sonn- und Feiertag bereitet hat. Drei, vier mal habe ich ihn hintereinander gelesen und gejubelt und gedankt für die reiche, treue Liebe, die ich zwischen den Zeilen las, für die naiven, amüsanten Daten, die die Zeilen selbst enthalten, und die nicht mich allein, auch alle Anderen sehr ergötzen. Am meisten freue mich, Dich fortwährend in glücklicher, heiterer Stimmung zu wißen und danke den lieben Deutschen in Messina, die sich Deiner so freundlich annehmen. Du hast sehr nett das alte Jahr bei Klostermanns beschloßen und wie sinnig und hübsch das Neue begonnen! Der gute Klostermann ehrt Dich ja gewaltig, daß er Dein kleines unnützes Thierchen leben läßt, welches dadurch immer stolzer auf ihren Schatz wird, so wenig es seiner werth ist. Oftmals, wenn ich an Dich, strebsamen, mächtigen Geist denke, und dann auf mich blicke, ist mir [zu] Muth, wie wenn nach einem brausenden Orkan, ein leichter West die Wangen berührt, wie wenn neben einer schön entwickelten Lilie ein kleines Veilchen im Grase kauerte oder um ein großes, schön geformtes, edles Thier, ein kleines Insekt umherkröche, ein einfältiges, winziges Thierchen, das nur || seinen Werth im Herzen hat; denn in der kleinen Seele ist reiche, warme Liebe für Deinen edlen, reinen Charakter, den ich täglich mehr schätzen lerne und täglich mehr mit ihm verwachse. Sei nicht bös über mein einfältiges Geplauder, das Dir, wenn auch heiß erwünscht, manchmal einen eigenthümlichen Kontrast zu Deiner ernsten Verstandesarbeit bilden muß. Die Gefühlswelt ist aber einmal stärker im weiblichen Geschöpft entwickelt, und da Du deren eins so lieb hast, mußt Du auch alle Gedanken, ob unnütz oder nütz mitanhören. Hätte ich doch Deine strahlenden Augen sehen können, als Alles mit Dir auf das Wohl der Aenni anstieß; wie begeistert würde auch ich Deinen Toast aufgenommen haben, der aus einer echt deutschen, jugendlichen, freien Seele kam. Der Alte meint zwar auch, Du hättest Klostermanns leben laßen müßen, allein ich verzeihe Dir schon diese Unart, weil ich mich ganz in Deine erregte Seele hineindenken kann und meine, daß sie speciell, wie alle Deutschen aus Deinen poetischen, wahren Worten anerkennende und dankbare Gefühle für sich herausfinden konnten. Ich wenigstens fühle heraus, daß Du Dich und mich unter der Gesammtzahl ganz besonders leben läßt, wenn Du von deutscher Männerehre und Frauentreue singst; habe ich doch einen so ehrenhaften Mann und Du eine treue Frau. Merkwürdig schnell weiß ich Deine poetischen Ergüße auswendig und Nachts, wenn ich wache, bilden alle hübschen Lieder von Dir meine liebste Unterhaltung. Gerührt hat mich Dein Gespräch mit den pommerschen Matrosen auf der Lisette, das vortreffliche Züge enthält. Kaum habe ich erwartet, daß die Leute Vater in Stettin kannten, viel weniger vermuthet, daß sie uns bemerkt haben würden. Allerdings, wenn ein neues Schiff ankam, mußten wir mit Vater hinaufklettern, die Ladung mustern etc, was mich immer sehr intereßirte; ich hatte nicht gedacht, daß die Matrosen uns dann bemerkt haben werden, da sie meistens || mit Ein- oder Ausladen beschäftigt waren. Eigenthümliches Zusammentreffen in der Fremde, das Dir gewiß große Freude gemacht hat. Des jungen Böttcher entsinne ich mich noch ganz gut, daher er auch meiner. Gewiß ladet die Lisette und Agnes, die glaube ich, ein Hofmeiersches Schiff ist, in Sicilien Apfelsinen ein, die im Februar und März in Schaaren in Stettin eintreffen. Das Schiffs- und Matrosenleben hatte dort großen Reiz für mich, obgleich ich nicht so tief hineingeblickt habe, wie Du in den paar Stunden. Das war in jeder Beziehung ein genußreicher Tag für Dich, der erste Januar, der hier gänzlich verregnete. Der erlistete Besuch der Citadelle hat mir sehr viel Spaß mit gemacht, obgleich ihm die traurige Gewißheit zum Grunde liegt, daß der Engländer nicht allein in Deutschland, wo er im Gegentheil jetzt an Ansehen verliert, sondern überhaupt in allen fremden Ländern, viel zu viel gilt. Dir kam das freilich sehr zu Statten und Dein stolzes, weggeworfenes Goddam hätte ich wohl hören mögen, das Dir die Thore der Festung öffnete. Ob Du aber wirklich schöne Blumen gefunden hast, verschweigst Du; daß die Aussicht von dort auf die Stadt und Hafen und sich dahinter aufthürmenden Berge sehr schön sein muß, hat mir das Bild schon oft gesagt und ich freue mich, daß ich mich durch dasselbe tief in Deine Anschauungen hineinleben kann. Wie prächtig endlich von den Nereiden, daß sie Dir Deinen Neujahrswunsch doppelt und dreifach erfüllt haben; damit machen sie mir aber zugleich ein Geschenk mit; wie sollte ich also auf Deine Lieblinge eifersüchtig sein; eine Leidenschaft, die mir überhaupt fremd ist, und die Du mir auch nur scherzhafter Weise zugedacht hast. Sind die beiden neuen Zoologen nette, umgängliche Menschen, so werden sie ein angenehmer Verkehr für Dich sein, um so mehr, da gleiche wißenschaftliche Intereßen Euch verbinden und Ihr Euch vielleicht gegenseitig nützlich sein könnt. Das schöne Frühlingswetter dort, das hier etwas fabelhaft klingt, lockt Dich gewiß noch zu weiteren Expeditionen heraus. || Nun muß ich Dir doch auch eine Tageintheilung von meinem kleinen Stillleben geben, daß Du auch am Hafenplatz 4 mit mir fortleben kannst. Ex officio muß ich meiste Zeit des schönen Tages im Bett zubringen; um 9 Uhr muß ich zu Bett gehen, was mir jeden Abend, da ich sehr munter bin, gehörig sauer wird und um 8 Uhr stehe ich gewöhnlich auf, weil ich erst gegen Morgen einschlafe; wie kostbar könnte ich alle die übrigen Stunden verwenden, beharrte nicht Quincke so strenge auf seinem Willen; heute bin aber schon um 6 ½ Uhr aufgestanden und hoffe allmählich wieder in’s alte Gleise zu kommen. Bis zum Frühstück, bei dem ich mich mit einer Tasse Thee begnüge, lese ich in Schlosser’s Geschichte (andere Lektüre hat Quincke verboten) und verfolge jetzt die Entwickelung und Ausbreitung der Araber, wobei ich viel an die schönen Bauten denken muß, die Du von ihrer Hand, namentlich in Sicilien gesehen hast. Nach dem Frühstück wische ich Staub auf meinem Näh- und Schreibtisch und besorge meine lieben Blumen, denen ich oft vorerzähle, daß in drei Monaten der liebe Schatz heimkommt und in dieser Aussicht kleine Faulenzer zum Wachsen ermahne; damit ihr botanischer Freund sich über sie freue, der ohnehin durch die reiche, üppige Vegetation des Südens sein Auge sehr verwöhnt hat. Und doch denke ich, wenn ich in der Schummerstunde auf dem Sopha sitze, wie wird es dem Erni wieder hier behagen. Fällt dann manchmal auch eine Thräne auf das leere Plätzchen an meiner Seite, so wird sie schnell getrocknet und den leuchtenden Feuern jubele ich von Wiedersehen, von zwei strahlenden Augen vor, die im Frühjahr sie mit mir zusammen wieder ansehen werden. O könnte ich Dir die wonnigen Gefühle ausmalen, die mich in solchen Augenblicken beschleichen, alles Leid ist vergessen; losgetrennt von der Gegenwart weile ich in künftigen Stunden, laße der Vergangenheit schöne Bilder an meiner Seele vorüberziehen und bin so unaus-||sprechlich glücklich in dem Besitze des besten, edelsten Menschen, den die Welt für mich birgt, daß ich allen Menschen, jedem Halm und Stein mein Glück mittheilen zu müßen meine. O die Liebe ist die Quelle alles Guten, wohl dem Menschen, dem sie wahr und innig aufgegangen ist; sein Leben, voller Zweck und Ziel ist gesichert, mögen noch so harte Stürme dasselbe erschüttern, mögen noch so viel Freuden und Glücksumstände, die den Menschen leicht verwöhnen können, es schmücken, unangefochten, rein, klar und in sich fest wird der Mensch dem Schicksal, das Freud’ und Leid bringt, gegenüber stehen, wie ein Fels im Meer, von Liebe getragen, Liebe spendend. Auch auf Dich hat die Liebe schon tiefen Einfluß gehabt; Du bist fester geworden, männlicher; nicht a schwankst Du mehr, ob die Liebe mit der Wißenschaft vereinbar sei; sie haben sich durchdrungen; die Wogen haben es in der Sylvesternacht gehört; Du fühlst Dich reich, von früher nie geahntem Glücke überschüttet: die hehre Wißenschaft und Deine Aenni zu haben; o fahre fort, sie beide zu lieben, du kannst Beiden ein mächtiger Hebel sein, und weder wird die Wißenschaft, magst Du Dich noch so sehr hineinvertiefen, Dich Deiner Aenni entfremden, noch diese, so unendlich glücklich Du sie durch Deine reiche Liebe machst, Dich der Wißenschaft. So dachtest Du vor einem Jahre noch nicht: „drum glücklich, herrlich neues Jahr – das all mein Hoffen machet wahr – mit dem ich Dich entließ.“

Das war eine lange Pause nach dem Staubwischen und Blumenbegießen geworden, die ich täglich mit Baden und Anziehen ausfülle. Dann sitze ich bis Mittag an meinem Nähtisch am Fenster, Dein Bildchen, von grünen Blättern überdacht vor mir, auf dem mir der liebe Kopf immer zunickt und zuflüstert: „ja arbeite nur fleißig, das ziemt einer deutschen Hausfrau und ein fleißiger, strebsamer Mann kann nur eine Frau mit gleichen Eigenschaften gebrauchen.“ || Nach Tisch bis zum Dunkelwerden lese ich ein Buch, das mich schon lange reizte und das mich sehr intereßirt seiner tiefen Lebensweisheiten wegen; ich werde unendlich mit Dir darüber sprechen. Wie ich die Schummerstunde verwende, weißt Du; dann sitze ich mit der Mutter zusammen im großen Zimmer und nähe abwechselnd oder lese im Schlosser, wobei die Hände auch nicht ruhen, sondern für die anderen Pole, die Füße sorgen. Um 8 Uhr schwelge ich in meinem Teller Waßersuppe und um 9 Uhr ist der Tagesablauf zu Ende, der mir zu kurz ist, als daß ich mit ihm zufrieden sein könnte. Abwechselung in dieses Einerlei bringen Besuche, die ich fleißig von Diesen und Jenen erhalte. Dein Alter, der wegen des Hustens, der übrigens sehr abgenommen hat, nur in den Mittagsstunden ausgehen darf, kommt häufig heran, sich nach seinem Töchterchen umzusehen, ebenso Helene und die Kinder, Tante Gertrud, Vetter Louis und Theodor und Magdalene Dieckhoff. Theodor las mir am Sonntag sehr hübsche Briefe aus Bonn mit Details über Arndts 90 jährigen Geburtstag, in welchem dem jugendlichen Greise viel Liebe und Anerkennung von fern und nah zu Theil geworden ist und Peau mit sehr günstigen Nachrichten über Marie und Wilhelm vor, wofür ich ihm als Belohnung aus Deinem Briefe vorlas, der ihn sehr amüsirte. Sonntag Nachmittag, während Mutter bis 8 Uhr bei Untzers und Tante Bertha war, schwelgte ich in den römischen Briefen, die prächtig geschrieben sind, leider aber wenige Details über Rom’s Kunstwerke enthalten, die Du immer in einem Tagebuch geben wolltest, zu dem [Du] aber wahrscheinlich auf der Reise gar nicht kommst. Mittwoch, dem letzten Tage in der Wilhelmstraße besuchte uns die liebe Frau Weiß Nachmittags und blieb zum Thee dort, wozu sich leider auch Untzers einfanden. Als Richter und Theodor, die Mittags da gegeßen, sich entfernt hatten, || las ich der Weiß Deinen schönen Sylvestertraum vor, wobei ihr die dicken Thränen von den Backen rollten und sagte sie: es ist doch ein prächtiger Mensch, ganz der liebe, alte Junge, wie früher; gern hätte ich ihr auch den hübschen Neujahrsbrief an Deine Eltern vorgelesen, worin Du Dich so klar über Dich und den Einfluß der Reise aussprichst, allein er war in Freienwalde, wo man nicht sehr pünktlich mit dem Zurückschicken ist. Sobald ich ausgehen darf, wandere ich mit diesem und dem letzten Brief zu Deiner mütterlichen Freundin hin und erquicke mich an der Freude, die sie über meinen Schatz hat. Gleich in den ersten Tagen meines Hierseins habe ich alle Schätze, die in Schränken eingesperrt waren, um mich versammelt und an den Aquarellen und Pflänzchen mich erfreut. Georg Quincke habe ich noch nicht gesehen, werde ihm aber gelegentlich Deinen Dank abstatten. Über Richthofen habe ich Dir im letzten Brief geschrieben, der hoffentlich heute schon in Deinen Händen ist. Tante Bertha geht es wieder recht gut; wie gern huschte ich mal zu ihr herüber, wenn Quincke nicht so grausam consequent wäre. Der Winter ist hier jetzt sehr milde; mir wäre Frost lieber; das ewige naßkalte Wetter mit dem trüben, grauen Himmel ist mir verhaßt, so nordisch und heimathlich es auch ist; Du könntest mir schon ein Stückchen sicilianisches Blau schicken und frisches Grün, statt der erstorbenen, grauen Natur wäre mir auch willkommen. Deine Alte beßert sich merklich, obgleich sie nach ihrer Weise es nicht Wert haben will; ich denke aber, Du findest sie frisch und unverändert bei Deiner Rückkehr wieder, ebenso Deinen Alten, der prächtig aussieht und wenn körperlich nicht ganz so rüstig, wie früher, geistig Leben und Beweglichkeit ist. Und Deine Aenni, Du findest sie hoffentlich ein gut Theil beßer und frischer, als Du sie verlaßen hast; wenigstens behauptete damals die liebe Verwandtschaft, ich sähe sehr elend aus. Mutter grüßt Dich herzlich und Deine Aenni schickt Dir einen innigen Kuß.

a gestr.: schw

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
18.01.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 34485
ID
34485