Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, [Berlin, 21. Dezember 1859]

Frisch gewagt, ist halb gewonnen

Fünfviertel Jahr sind bald zerronnen!

Mein lieber Schatz kehrt wieder heim,

Wenn Schnee und Eis schmilzt vor der Sonnen

Natur und Mensch begrüßt mit Wonnen

Des neuen Frühlings ersten Keim.

O glücklich, herrlich neues Jahr,

Das all mein Hoffen machet wahr,

Mit dem ich Dich entließ.

Das Meer bringt Dir tagtäglich dar

Die seltensten Thiere in reicher Schaar,

Und ruft Dir zu: „Genieß.“

Ja nutze, was der Süden bringt,

Wo Schönheitssinn herrscht unbedingt

In der Natur und Kunst.

Der Vogel, der uns Sommers singt,

Und sich im Winter dorthin schwingt

Schenkt wieder aus sein’ Gunst.

Du Zugvogel flieg’ auf mein Dach,

Ruf’ in mir die zarten Gefühle wach,

Die Du schon mal geweckt.

Schlüpf auch hinein in’s kleine Gemach,

Wo die letzte Schranke zwischen uns brach –

Die Herzen sich entdeckt!

Und kehrst Du mit schönen Schätzen zurück

Im Herzen den reichsten: das selige Glück

Dich innig geliebt zu wißen.

Und fällt dann auf Eltern und Braut Dein Blick

Vergißt Du das harte, verlangte Geschick,

Das Liebste lange zu mißen. ||

Viel Veredelung dankst Du der langen Fahrt

Deiner Anschauungen und Sinnesart,

Dem Leben angepaßt.

Dein Gefühl für’s Edle und Wahre sich paart

Wertvolle Klarheit und Schönheit so zart,

Alles Niedere ist Dir verhaßt.

Im Kreise von Freunden und Lieben

Wird dann die Reise beschrieben

Durch Italiens Wunderwelt;

Voller Lust und Fleiß niedergeschrieben,

Was Du im Süden getrieben

Auf wißenschaftlichem Feld.

Drum jubeln wollen wir, dankbar sein,

Wenn endlich endet die lange Pein,

Und wir uns wiederseh’n.

Wie werden sich Braut und Eltern freun,

Ich meine, es rührte den härtesten Stein,

Wenn wir vorüber gehn.

Was sonst das Jahr uns bringen mag,

Darüber unser Schöpfer wach‘,

Dem ich recht dankbar bin,

Er hata Dich beschützet Tag für Tag –

Er helfe Dir nun auch vor wie nach

Zum lieben Deutschland hin!

Ich drücke meinem Neujahrswunsch für Dich, lieber, lieber Erni, einen Kuß auf und bitte Dich, über die schlechten Verse den Sinn nicht zu vergeßen. Ich jubele froh und vergnügt dem Jahre 1860 zu und vergeße die bangen Stunden, die das Jahr 59 gebracht hat; verspreche Dir auch, lieb und gut zu sein und mit aller Energie gegen meine vielen Fehler und Schwächen anzukämpfen und mich immer mehr Deiner hohen, reichen Liebe werth zu machen, die ich täglich intensiver fühle, bist Du auch noch so weit weg. Schatzchen hättest Du doch vorgestern in meine || strahlenden Augen sehen können (das wäre noch ein hübsches Weihnachstlicht gewesen) als ein Paquet aus Leipzig ankam, 25 Exemplare der schönen Arbeit enthaltend, die Du mir bisher verheimlicht hast. Hübsch wäre es gewesen, wenn sie gerade zum Fest gekommen wäre, wie Du es gewiß gewollt hast. So habe ich meine schöne Festfreude schon vorweg und herrlich ist Dir Deine Überraschung gelungen, Du liebes Herz. An den feinen, schönen Tafeln konnte ich mich gar nicht satt sehen, in denen so mancher mühsame Strich meines lieben Schatzes steckt. Lesen werde ich sie erst in den Festtagen, weil ich jetzt vergeblich nach Zeit dazu ringe. Ich kann Dir also erst später schreiben, was ich begriffen habe, was nicht. Leider hat der Verleger recht schlechtes, graues Papier genommen, mit dem Georg Reimer bei Deiner letzten patologischen Arbeit splendider gewesen ist. Ein paar Tage vor der Sendung wußte ich schon um Deine Antwort aus dem Briefe von Kölliker, den ein junger Hitzig, deßen Karte der Brief einschloß, Deinen Alten brachte. Ich sollte ihn lesen, um zu entscheiden, ob der Inhalt Dir wichtig sein könnte und in diesem Falle auf dünnerem Papier abzuschreiben, weil der gute Mann, das dickste, das existirt, genommen hat, das das erlaubte Gewicht voll machen würde. Ich habe Dir daher den ganzen Brief abgeschrieben und hoffe, daß ich die etwas unleserliche Schrift nicht falsch gelesen habe. Außerdem folgt noch ein Brief von Georg Quincke bei, der ihn vorgestern selbst brachte und einer von Gegenbaur, der am Sonntag für Dich ankam. Das ist fast zu arg, diese Beschränkung für mich; ich denke aber die Briefe machen Dir alle Freude und hoffe, das Maß wird nicht überschritten, wenn ich diesen Bogen beilege. Du schreibst in Deinem letzten Brief, daß einer doppeltes Porto gekostet habe, was ich nicht recht begreife; da muß ich mich allerdings rangiren und bitte Dich, ja zu schreiben, ob dieser auch doppelt gekostet hat. Über Deinen Sonntäglichen Ausflug habe ich mich, wie Du denken kannst, ungemein gefreut, und hoffe, er hat Dir so gut gefallen, daß andere ihm folgen, || wenn auch nicht gerade so übermäßig anstrengend und tollkühn. Über meine Geschwüre etc. kannst Du Dich beruhigen; sie sind abgeschüttelt, wenn ich auch immer noch ein Pflaster trage und zur Abwechselung ein Gerstenkorn habe, das mich aber durchaus nicht beim Schreiben genirt. Unzufrieden bin ich aber sehr mit mir, weil ich nicht halb das leiste, was ich möchte und mir entsetzlich faul und unnütz vorkomme, namentlich im Gedanken an Dich, der Du täglich 8-9 Stunden ununterbrochen arbeitest und denkst. An letzterer Thätigkeit laße ich es auch nicht fehlen, und ich glaube das ist es, was mich an der Arbeit hindert. Quincke verlangt tyrannisch, daß ich um 11 Uhr zu Bett gehe, wo ich denn gewöhnlich 1 – 1 ½ Stunden wach liege und mich mit Dir beschäftige. Wie schön, daß Du in Neapel, wo Du so über Material klagtest, eine Arbeit zu Stande bringen konntest, was wird da das reiche Messina erst liefern! Liebe, Liebe, lauter Liebe flüstert mir die 8 Seiten starke Schrift zu, denn ich weiß, Du hast dabei meiner gedacht, und mir hilft sie ebenso gut weiter, wie Dir. Könnte ich nur eine Kritik darüber lesen von Sachverständigen, doch weiß ich nicht recht, wie ich dazu gelangen soll. Wenn Du diesen Brief erhältst, sind die Festtage vorüber, wo Du uns, wir Dir ganz besonders fehlen werden; laß aber nicht den Kopf hängen, denke vorwärts, nicht zurück und begrüße mit mir freudig das neue Jahr, das wir beßer beschließen werden, wie dieses. Das Fest scheint bei uns nicht allzu fröhlich werden zu wollen, da sehr viel Krankheit in der Familie ist. Deine Alte, die sich unnöthiger Weise auch einen tüchtigen Husten angeschafft hat, ist viel beßer, was wir wohl der spanischen Fliege danken müßen. Die Kinder sind Alle erkältet und haben Hausarrest. Bei Helene liegt Conrad an der Grippe zu Bett und das kleine 7 Monat Hänschen hat Brustentzündung, weßhalb wir gestern Alle sehr in Sorge waren; heute geht es beßer, doch hat Quincke erklärt, wenn die Kinder sich nicht sehr beßerten, (Klärchen hat auch ein paar Tage gelegen) so dürften sie keinen Aufbau sehen. Das wäre für sie und || uns traurig; denn Kinder gehören einmal unter den Weihnachtsbaum. Helene ist auch elend. Das traurigste Fest erlebt Tante Bertha, die ich vielleicht heute zum ersten Mal sehen werde; sprechen darf man aber nicht. Die Gehirnentzündung ist gehoben; nun hat sie aber die Rose sehr heftig im Gesicht und leidet entsetzlich. Das wird wieder lange Zeit kosten, bis sie wieder zu Kräften kommt, die arme Seele! Mutter ist jetzt auch nicht mehr einsam; seit Montag ist Bertha mit ihren beiden prächtigen Kindern da und Karl wird in den nächsten Tagen auch kommen. Alle Drei sehen recht nach Waldluft aus; Bertha frisch unverändert, grüßt Dich herzlich. Klärchen ist zierlicher, wie Herminens Anna, Eduard, aber, der 2 ½ Monat jünger, als Heinrich ist, diesem bei weitem vor; ein köstlicher Junge wie Milch und Blut. Mein Leben ist mit kleinen Abwechselungen in diesen acht Tagen still und ruhig fortgefloßen; am Freitag lasen wir bei Helene den Schatz des Rampsinit von Platen, ein sehr humoristisches, drolliges Ding, bei dem viel gelacht wurde. Sonnabend Morgen kam Dein lieber Brief an mit der Einlage an Dr. Schneider, dem wir sie zugeschickt haben. Ich spielte den Tag über Mutter von den drei Jungens, da Hermine mit dem Alten und Anna in Potsdam war. Abends zum Thee waren Mutter und Heinrich hier und Herr von Richthofen, dem ich zu seiner großen Freude und meiner nicht minder die Aetnabesteigung vorlas, auf deren Fortsetzung ich sehr gespannt bin. Die beiden Blätter sicilianisches Tagebuch haben mich sehr intereßirt; also gar zum Diebstahl kann Dich der wißenschaftliche Eifer verleiten[;] das Mißlingen war gewiß ein Kummer für Dich. Richthofen erzählte uns, daß Martens aus Leyden geschrieben habe, ganz entzückt über die [ ]b Museen, von denen ich schon neulich im Forster gelesen hatte; da [wird er]c ordentlich gekramt haben. Freitag Mittag aßen wir Alle, außer der [ ]d bei der Weiß, an welchem Tagee Dir gewiß die Ohren geklungen haben. Hermine fuhr [ ]f um 12 Uhr mit den Kindern hin, die sich köstlich amüsirt haben; ich folgte mit dem Alten um 2 Uhr nach und habe viel mit ihr durchgeplaudert. Mittwoch Nachmittag hatte ich sie besucht und ihr sowie Ernst Weiß, der sie zufälliger Weise besuchte, aus Deinen Briefen vorgelesen und Deine warmen Grüße bestellt. Sonnabend hörte ich sehr schöne Musik im Gustav – Adolphsconcert, in denen in diesem Jahr Euere und unsere Plätze dicht zusammen liegen; diesmal benutzten der Alte und wir drei Schwestern sie. Musikdirektor Vierling, uns noch aus Frankfurt bekannt, führte mit seinem Bachverein eine sehr schöne Kantate von Bach und ein eigenthümliches Oratorium von Händel: Frohsinn und Schwermuth auf, in dem diese beiden Stimmungen im Menschen in den schönsten Kontrasten wechselten und herrliche Partien enthielten, namentlich ein Flötensolo, die Nachtigall täuschend nachahmend, wozu die Tuczeck die Antwort nicht minder schön sang. Montag begleitete mich Vetter Louis Jacobi mit Dunkelwerden auf den Weihnachtsmarkt, wo ich für die 3 Neffen und Nichten einkaufte, denen ich in diesem Jahr nichts gearbeitet habe. Den Abend brachte ich mit Hermine zusammen bei der Mutter zu, wo Bertha eben glücklich einpaßirt war. Gestern besuchte ich nach langer Zeit Tante Julchen, die auch Grippe hat und gratulirte dann Klärchen Jacobi zu ihrem Geburtstag, der unter diesen Umständen ohne jegliche Feier begangen werden mußte. Wie ich zu Haus kam, fand ich Bertha vor, die bei uns Thee trank. Da weißt Du von meinem Treiben; jetzt muß ich, ich mag wollen oder nicht zu Ende sein. Bleib munter und frisch und laß Dir einen innigen Kuß geben von Deiner treuen Anna. ||

[Adresse um 90 Grad nach links gedreht]

Al Signore Dottore Ernesto Haeckel

p. ad: Signore Mueller

Victoria Hotel

via Marseille

Messina (Sicile)

a korr. aus: Daß er; b Siegelausriss; c Siegelausriss; Text sinngemäß ergänzt; d Siegelausriss; e gestr.: wo; eingef.: an welchem Tage; f Siegelausriss

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
21.12.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Messina
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 34481
ID
34481