Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 8./9. November 1859

Berlin 8.11.59.

Die Alte liegt auf dem Sopha und lies’t einen eben von Freienwalde angekommenen Brief, mein lieber, bester Schatz, mita dem Dein erster Brief aus Messina mit zurückgekommen ist. Ganz selig bin ich über Deinen letzten Brief vom 29, wonach ich Dich so glücklich und zufrieden unter Deinen reichen Schätzen des Meeres in Deinem behaglichen Zimmer weiß, daß ich ebenso gestimmt bin und Dich nun stündlich begleite, bald an den Hafen, bald auf den Mikroskopir-[,] Zeichen- oder Denkstuhl, bald Abends an Deinen Schreibtisch, wo ich Dir freundlich zulächle, und mir auch manchen lieben Blick und herzigen Gruß von meinem fleißigen Professor in spe stehle, mit welchen beiden Dingen sich’s merkwürdig gut und sanft einschläft. Du glaubst nicht, wie behaglich und angenehm mir es ist, genau in den vier Wänden Bescheid zu wissen, die den liebsten, besten Menschen der Welt bergen, Deine Tageseintheilung zu kennen und Dirb auf Tritt und Schritt im gewöhnlichen Tageslaufe folgen zu können. Morgens, wenn ich um 6 Uhr erwache, weiß ich, daß Domenico Nina anklopft und Dich in’s Meer führt, wo Du Dir Frische zum Tageswerk holst; später beim Frühstück hast Du gewiß auch den kleinen Schatten neben Dir auf dem Sopha gesehen, der gern selbst die Hebe machte. Ach Schatzchen die Zukunft schwebt mir so ruhig und golden vor, daß sie mich zeitweise die bittere Gegenwart vergessen machen [!], die nun ja auch täglich mehr zusammenschrumpft. Am meisten freue ich mich über Deine Fülle des Materials, daß Du nicht getäuscht worden in Deinen Erwartungen und daß diese lockende Aufmunterung zur Arbeit mit alter Liebe derselben anfängst, wie Du Dir es selbst nach dem süßen Schlaraffenleben des Geistes nicht zugetraut hattest. Daran erkenne ich meine Pappenheimer rufe ich mit Wallenstein aus. Ich war fest davon überzeugt, daß Du Deinem einmal erwählten Berufe nicht untreu werden würdest und der Verstand über die Phantasie siegen würde, dieses Lieblingskind aller jugendlichen Geister, || das man gar zu gern verhätscheln möchte, wenn Gerechtigkeit des Menschen nicht seinen anderen bedeutenderen Seeelenkräften zu ihrem Rechte verhälfe. Nähre sie aber neben dem Verstande und der Denkkraft nur fort und fort; wie Poesie sich mit der Prosa, Wissenschaft mit der Liebe, die größte leibliche Armuth mit dem überströmenden Reichthum des Geistes vereinen läßt, so kannc auch die abstrakte Phantasie die concreteste, nackteste Verstandeswissenschaft begleiten, ja soll sie gewisser Maßen durchdringen, um den verwöhnten Menschenkindern auf künstlichem Wege die Natur in voller Wahrheit und Schönheit vorzuführen, was Dein herrlicher Beruf ist. Wie ganz anders blickst Du jetzt in die Zukunft! Du meintest früher nichts leisten zu können und betrachtetest Dich oftmals als überzählig; jetzt baust Du schon auf eine andere Kraft: den Landschaftsmaler, solltest Du in der Naturwissenschaft nicht reüssiren, wovon ich mich für’s Erste noch nicht überzeugen lasse. Liebchen einen besonderen Kuß sollst Du für diese Lichtung Deines Charakters haben, die wir der schönen Reise verdanken, deren Wirkungen nicht ausbleiben werden. Heute ist Vollmond, der Dir schon um 4½ Uhr, als ich ihn über der Häusermasse erblickte und so selig anschaute, wie ich Dich würde, Dir 1000 Grüße zugewinkt haben muß über dem Hafen von Messina, an dem Dein Zimmerchen so günstig gelegen ist. Dein patriotisches deutsches Gefühl würde in diesen Tagen hier reichliche Nahrung finden, denn voller Begeisterung für den großen Schiller, den echten Dichter des Volkes, wird hier in Berlin, wie in den Provinzen in den kleinsten Orten, ja selbst in fremden Ländern eine großartige Feier seines 100jährigen Geburtstages des 10 November vorbereitet, von der ich hoffentlich auch zu kosten [!]. Wenigstens hat Schwager August schon vor 14 Tagen für Heinrich und mich mit Billets zu Wallenstein’s Lager und der Glocke bestellt, mit deren Aufführung der Meister am Abend des 10 gefeiert werden soll. || Vormittags wird auf dem Gendarmenmarkt vor dem Schauspielhause der Grundstein zu einer Statur [!] Schillers gelegt und und [!] der Platz fortan wahrscheinlich Schillerplatz heißen. Komme ich nicht in’s Theater, so bin ich zu Tante Bertha eingeladen, wo die Setheschen und Naumannschen Mädchen u. Herrn Vettern Scenen aus Schillerschen Dramen aufführen werden. Freitag werden wir auch Schiller zu Ehren bei Helene die Jungfrau von Orleans lesen, worauf ich mich sehr freue. Ich habe immer gern in vertheilten Rollen gelesen, wozu sich manches Stück besser, wie zur Aufführung eignet. Gern schickte ich Dir eine ganz kleine Schillerphotographie mit, die Alten fürchten doppeltes Porto; schreibe doch, ob das Blättchen mehr in den letzten Briefen den Preis nicht verändert; wir zahlen nach wie vor 8½ Sgr. pro Brief. Schiller’s Bilder in den verschiedensten Größen und Auffassungsarten füllen alle Schaufenster aus, der unzähligen Gedenkblätter und fliegenden Blätter gar nicht zu gedenken, mit denen kleine und große Poeten bei solcher Gelegenheit gleich bei der Hand sind; ja die Ankündigungen von Schiller-Cravatten, Schiller-Seife etc. in den Zeitungen ekeln mich ordentlich an; Dichter und namentlich solche Dichter sollte man doch wenigstens mit diesem materialistischen Kram verschonen. Vielleicht dringt die Schillerfeier auch bis nach Messina, woran mir allerdings Deine Unkenntniß der politischen Sachlage den Glauben benimmt. Du träumst von auf dem Leibrücken auf Österreich u. die 36 Raubstaaten, während hier das kriegerische Schwert längst in die Scheide gesteckt, oder vielmehr noch nicht heraus gewesen ist. Mit der Einheit Deutschlands hat es noch lange Wege, obgleich die meisten deutschen Staaten sich nach ihr sehnen und darin einer Meinung sind, daß Österreich durch seine hierarchische Pfaffenwirthschaft und falls keine Reformen in der Landesverfassung vorgenommen werden, seinem Untergang entgegen geht, trotz seiner blühenden Provinzen und gutmüthigen, leider schlecht geleiteten Bevölkerung. || Uns Preußen beschäftigt vorläufig vielmehr der Wechsel der Regierung, der wieder in blaue Ferne gerückt ist. Täglich erwartete man vor 4 Wochen den Tod des Königs; statt dessen erholt sich sein Körper täglich mehr, obgleich die Geisteskrankheit unaufhaltsam ihren Fortgang nimmt; der arme Mensch ist zu einem Klumpen Fleisch ohne Geist geworden, der als Jüngling zu so großen Hoffnungen berechnete. Ist es nicht unmenschlich, daß bei diesem Zustande allsonntäglich in den Kirchen um die völlige Genesung des Königs gebetet wird, statt von Gott ihm eine Erlösung zu erbitten? Wie glücklich preise ich da den lieben Vater, bei dem der Geist gesiegt hat und der Körper beim vergeblichend Ringen desselben zu Kraft und Frische unterliegen mußte. Ich bin da in die Politik gerathen und greife dem Alten vor, der Dich morgen gewiß besser darüber unterrichten wird, als ich mit meinem Laienverstande. Du kannst mir übrigens immerhin schreiben, wenn Du interessante, schöne Formen in Lebensbedingungen und Lebenserscheinungen unter den radiaten [!], resp. Echinodermen und Medusen findest; ich weiß noch ziemlich darin Bescheid, und darf doch nicht Alles in Deiner Abwesenheit vergessen. Um eins möchte ich Dich nur im Verein mit Allmers bitten, Sonntags zu malen, oder irgend eine andere Zerstreuung vorzunehmen und nicht pedantisch in der Arbeit zu werden, die dann Montags wieder viel besser schmeckt. Aus Wechseln besteht einmal das Leben; hast Du doch selbst den Vorzug der wechselnden Jahreszeiten bei uns vor dem ewigen Sommer des Südens erfahren. Sieh nur Sonntags Morgen Deine Aenni scharf an, da bittet sie Dich immer die Arbeit ruhen zu lassen und mit dem Pinsel Dich zu amüsiren, oder nette Menschen, die Dir zusagen, aufzusuchen, an denen Dir es ja in Messina nicht fehlt. Ich mache es ebenso; denke oder thue ich einmal nicht wie in Deinem Sinne, so sehe ich schnell das liebe Bildchen an und das kurirt prächtig und macht mich wieder Deiner werth. Ich vergesse ganz die Zeit über dem Plaudern; wüßte die Alte, daß es 12½ Uhr ist, sie hielt mich Deiner unwerth. Ich sage aber Gleich u. Gleich gesellt sich gern; der Erni macht es nicht anders. Gute Nacht u. warmen Kuß von

Deiner Aenni. ||

Mittwoch Morgen 12 Uhr.

Gestern hast Du meinen letzten Brief erhalten und ich muß zum Schluß des heutigen eilen, damit Du nicht vergeblich einen Brief erwartest. Deine kommen immer Sonnabend, wo Du zwischen 9 u. 10 Uhr 3 Leute sehr glücklich machst; Du weißt selbst, was es für eine Wonne ist, die Zeilen vom fernen Geliebten zu durchfliegen und fort mit ihm zu leben von acht Tagen zu acht Tagen. Martens habe ich noch nicht nach meiner Rückkehr gesehen, er wird bald mit der Thetis Europa verlassen; doch glaube ich, kannst Du noch einen Brief an ihn einlegen, ehe er fortgeht. Ich habe mich wieder ganz behaglich mit den beiden Alten eingelebt, so behaglich es geht bei dem ewigen Hin- und her zwischen Hafenplatz und Wilhelmstraße, denn natürlich bin ich so viel wie möglich bei der Mutter, die sehr frisch und munter ist und Dich 1000 mal grüßen läßt. Mein Zimmerchen ist reizender, denn je; Heinrich hat mir sehr hübsche grüne Gewächse geschenkt, die, wenn sie in meiner Abwesenheit gut gepflegt werden, den kleinen, trauten Raum so reizend schmücken, daß Du Dich darüber freuen wirst. In den nächsten Tagen werde ich auch Klavierunterricht bekommen, worauf ich mich sehr freue. Der schöne Flügel von Adolph Schubert, der ein Euerem Eßzimmer steht, lockt sehr zum Spielen, noch mehr aber das Versprechen, was ich Dir vor Deiner Abreise gegeben habe; ich denke, etwas werde ich doch lernen, und meine und Deinee Freude an der Musik nähren werde. Unterricht im Schneidern werde ich auch wieder nehmen, damit ich womöglich als Frau Professorin meinen Staat selbst fabriciren kann, allerdings, wenn es alle 12 Jahre ein Kleid giebt, wie Du einmal scherzhaft äußertest, werde ich die edle Kunst bald verlernen! Ach lauter dummes Zeug! höre lieber, wie ich diese 8 Tage gelebt habe. Noch weiß ich nicht, wie Du den 14 September zugebracht hast; nur der schöne Sonnenaufgang vom Schiff muß Dich recht geburtstaglich gestimmt haben; wie wird sie erst leuchten, wenn Du wieder bei mir bist, mein lieber, lieber Erni! Sehr leid ist es mir für Dich und || Allmers, daß Ihr das schöne Milazzo, Cefalu, dessen Bild von der vorigjährigen Ausstellung noch klar vor meiner Seele steht, und Cap Orlando, die ganze schöne Nord- und Westküste nicht näher und eindringlicher gesehen habt, als vom Meere aus, trotzdem Ihr drei Tage Euch nach einer Gelegenheit umgesehen hattet; so muß mancher Wunsch schweigen, dessen Unausführbarkeit man sich in der Entfernung nur schwer denken kann. Ich hoffe im nächsten Brief von dem wunderbaren Palermo zu hören, von dem ich ein Stückchen durch mein Sophabild kenne, das seitdem bedeutend im Werth gestiegen ist. Das Plätzchen darunter ist öde u. verlassen.

Mittwoch Nachmittag brachte ich selbst den letzten Brief auf den Potsdamer Bahnhof und blieb dann bis 8 Uhr in unserem Quartier, wo ich nebst Helene und den beiden Kindern (Heinrich war auf dem Bahnhof) Mutter um 6½ Uhr empfing. Trotz Sturm, der den ganzen Tag gewüthet hatte, kam sie glücklich, ohne seekrank geworden zu sein, an und konnte nicht genug von dem lieben Heringsdorf erzählen, wo der Wald bei der schönsten herbstlichen Beleuchtung noch in vollem Laub stehe, während hier die Bäume schon ganz kahl sind. Mutter hat noch bis in den Oktober hin, im Ganzen 21mal gebadet, was sie seit 4 Jahren nicht durfte. Nachdem ich ihr die nöthigsten Sachen ausgekramt und mit ihr Thee getrunken hatte, ging ich mit dem Alten, der inzwischen auch sich eingefunden hatte, zu Euch zurück. Nach dem Abendbrod lies’t uns der Alte Humboldts Reise in die Aequinoctialgegend vor, die mich sehr interessirt. Für mich lese ich Allmers Marschenbuch zu Ende, wozu ich auf der Reise nicht kommen konnte; es gefällt mir mehr und mehr und habe ich die Bewohner dieser interessanten, weil mir ganz neuen Marschgegenden so lieb gewonnen, daß ich gern einmal unter ihnen leben möchte. Bleibt denn Allmers eigentlich den ganzen Winter in Rom? oder eilt er in die Heimath zurück. Schreibe mir doch darüber. Der ganz andere von Allmers so verschiedene Charakter des Dr. Bartels ist für Dich recht schwer zu tragen; doch hoffe ich, wenn er ganz gesund ist, wird er auch frischer und verkehrlicher sein. ||

Donnerstag 3 ging ich früh wieder zu Mutter heraus und half ihr auspacken und einkramen und packte eine Kiste für Bertha, deren Geburtstag am 5ten gewesen ist. Mittags aßen wir bei Jacobis; mit Mutter Jacobi und Lucie und August Zaluskovsky, dem Landwirth zusammen; es war sehr munter und lebendig; mit Dunkelwerden ging ich zu Haus, Abend zum Thee kamen Mutter und Heinrich auch, wobei Mutter uns sagte, daß sie in Zukunft, wenn ich verheirathet sei, nur 2 Zimmer in Berlin als Absteigequartier haben wolle und die 3 Wintermonate entweder in denselben oder bei ihren Kindern, den ganzen Sommer in Heringsdorf zubringen werde, was ich sehr verständig finde. Sie hängt gar zu sehr an Wald und See.

Freitag 4 machte ich Vormittags mit den beiden Alten einen Spaziergang in den Thiergarten bei schönstem Sonnenschein, der zwischen den kahlen Bäumen uns voll traf. Nach dem Essen spielte ich mit Theodor, der Montag, Mittwoch und Freitag unser Gast ist, quatre-main: die schöne Figaro-Ouvertüre, die Du auch so gern hattest. Den Abend brachte ich bei Tante Bertha zu, wo ich Frau Kortüm traf, die lieb und freundlich wie immer war. Außer Mariechen Sethe, die den Winter über bei Tante Bertha bleibt, fand auch Theodor sich ein und las uns aus Graf Goertz’s Reise in Amerika vor. Tante Bertha ist prächtig frisch und wohl.

Sonnabend 5 machte ich früh auf dem Markte Einkäufe und fand dann zur Belohnung bei meiner Rückkehr Deinen lieben Brief vor, über den alle Wirthschaftssorgen vernachlässigt wurden und ich weit, weit weg aus Berlin war. Du glaubst überhaupt nicht, wie wenig meine Gedanken hier sind und im IV Stock des Victoria Hotels an der Palazzata in Messina weilen; durch meine Zerstreutheit mache ich die dümmsten Geschichten und mir zu häufig doppelte Wege. Im Laufe des Vormittags kam Mutter, die uns zum Sonntag Mittag einlud, und mich auch Sonnabend Mittag wünschte, wo ich mit Helene und den Kindern bei Mutter Bertha’s Geburtstag feierte und nach Tisch mein Zimmerchen behaglich machte. || Beim Kaffee las ich Deinen letzten Brief vor, den mein Zimmerchen auch zu hören bekam bei dieser Gelegenheit. Abend war ich mit der lieben Alten allein, während Onkel in der geographischen Gesellschaft war, und plauderte viel von Dir; sagte bei der Arbeit der Alten Dein reizendes Caprigedicht auf, das natürlich hohen Beifall hatte; ich lebe ordentlich darin und summe es mir oft im Tage vor. Auch muß ich Dir das traurige Ereigniß mittheilen, daß an diesem Abend um 10 Uhr die geliebte Tante Drüke aus Aurich wieder in ihr Raubnest einzog, worüber Du gewiß mit mir und Vielen inniges Beileid empfindest.

Sonntag 6 fuhr ich mit dem Alten zu Nitzsch in die Nicolaikirche, wo ich eine schöne Predigt hörte und den guten Vorsatz faßtef, zu gleich das kühne Heldenwerk unternahm, bei der lieben Verwandtschaft Besuch zu machen. Frau Karl Reimer und Anna, sowie Voswinkels waren nicht zu Hause. Bei Brunnemans mußte ich aber lange aushalten, ebenso freilich sehr gern bei der alten Mutter Reimer, die sich sehr behaglich in der Parterre-Wohnung in Georg’s Haus eingerichtet hat und merkwürdig frisch und lebenslustig ist; augenblicklich selig über Siegfrieds Verlobung, der schon am 4 Dezember heirathen will. Freitag Morgen war das Brautpaar hier, er strahlend glücklich, sie ruhiger und ernst. Auch Georg Reimers besuchte ich auf einen Augenblick und wurde dermaßen gequält, einmal Briefe von Dir vorzulesen, daß ich kaum weiß, wie ich der Bitte ausweichen soll. Dann machte ich Tante Gertrud noch meinen Kratzfuß, die merkwürdig stark und voll geworden ist, sonst ganz die Alte. Sie aß mit bei Mutter zu Tisch, wo Jacobis, alte und junge, der Alte, und Louis Jacobi, ein Vetter, der Bergmann ist u. Theodor zusammen aßen. Es ging sehr munter her; die Bowle mundete Allen vortrefflich, mir nicht minder und ein ganzes Glas habe ich auf Dein Wohl ausgeleert. Ehe ich gegen Abend zu Haus ging, las ich Tante Bertha noch Deinen Brief vor, wurde dabei aber durch Besuch unterbrochen; Abends waren wir bei der guten Alten, die den Winter gar nicht ausgehen soll. ||

Montag 7 wanderte ich mit Blumentopf: Veronica und einem reizenden Blumenkörbchen zu zwei Geburtstagskindern, erst zu Magdalene Dieckhoff, die ich noch gar nicht wiedergesehen hatte und sehr wohl und heiter fand; wie ich an meinem Geburtstage war sie mit vielen Briefen erfreut worden an diesem für sie sehr wichtigen Tage, da sie an demselben majorem wurde. Wir hatten viel, seit wir uns nicht gesehen hatten, mit einander zu plaudern; von ihr ging ich zu Schwager August, den ich nicht zu Hause traf; bei Helene aber Mutter und Tante Gertrud, die auch ihren Glückwunsch brachten; Mutter in Form einer Ananas, deren Bowle uns am Abend vortrefflich schmeckte. Von da besuchte ich noch Tante Sack, die sehr schwach und alt geworden ist; sie wohnen jetzt in dem früheren Quartier von Kortüms in der Potsdamerstraße. Nach dem Mittagbrod spielten Theodor und ich wieder quatre main und lasen dann zusammen Englisch, was wir regelmäßig treiben wollen: peasant life in Germany, ein höchst drolliges Buch einer Engländerin, die das Bauernvolk Deutschlands so irrig und wunderbar komisch aufgefaßt hat bei einem wahrscheinlich sehr flüchtigen Besuche Deutschlands, daß man sich des herzlichen Lachens nicht erwehren kann. Nach dem Kaffee, wo der Alte immer von 5–6 im Kolleg täglich hört; nämlich 4 mal in der Woche Droysen über französische Revolution und 2 mal Müller: Geographie, und dann spazierengeht, las ich der Alten Forster’s Ansichten vom Niederrhein vor, die ich schon mit Dir zusammen angefangen hatte. Bei Gelegenheit von Brüssel giebt er einen sehr hübschen, klaren und kurzen Überblick über den Aufstand der Niederlande und hilft dadurch meinem spärlichen Wissen in der Geschichte auf die Beine. Abends gingen der Alte und ich zu Jacobis, wo wir mit Mutter, Mutter Jacobi u. Lucie, Tante Gertrud, Theodor und Marie Sethe zusammen waren. Heinrich war stark erkältet und hatte Stubenarrest. Das Tagesgespräch: Schiller fand reichliche Nahrung durch Gedenkblätter und Bilder des Dichters. Auch vertheilten wir die Rollen zur Jungfrau von Orleans, die Freitag bei Helene gelesen werden soll; wobei mir die Johanna zugefallen ist; jedenfalls eine der dankbarsten, die aus Deinem Exemplar gelesen werden wird. Mit einer Gans wurde August in’s neue Jahr hineingegessen, von der ich Dir mein Stück gewünscht hätte, da Du sehr schlecht mit Braten dort bestellt zu sein scheinst. Schwerlich ist saurer Wein im Stande die Sehnenbänder schmackhafter zu machen. Wie wird die nordische Kost wieder munden! Bleibst Du mir gesund bei Deiner Lebensweise, so will ich Dich nicht beklagen.

Dienstag 8 war ich von 9–2 Uhr auf den Beinen, theils wegen Besorgungen hoch in der Stadt, theils bei Ohrtmanns und bei Karl Reimers, um wegen der Schneiderstunde zu verabreden und schließlich bei Mutter, die ich im besten Kramen fanden [!]. Um 2 Uhr war ich wieder hier, aß mit der Alten zusammen und wollte nach dem Kaffee der Tante wieder Forster vorlesen, als die alte Frau Schenk sich zu einem längeren Besuch einfand, so daß aus dem Lesen nichts wurde. Nach dem Abendbrod las Onkel zu unser Aller Ergötzlichkeit herrliche Anekdoten vom alten Fritz vor, die er in Schlesien pexirt hat. Der alte Kühne hatte sie ihm mitgegeben. Eine prächtige Art und Weise hatte doch der humane Fürst, mit dem Volk zu verkehren, das ihn aber auchg liebte, wie das Kind den Vater, wie er sich auch zum Volk wiederum stellte. Im letzten Brief vergaß ich Dir zu sagen, daß ich eines Morgens einem Dr. Joseph Brettauer die Thür öffnete, der nach Dir fragte und mit dem Bescheid, Du seist in Messina und kämst erst im März oder April zurück, bat er, wenn Dir dorthin geschrieben würde, seine Visitenkarte einzulegen, was natürlich wegen Raumverschwendung nicht passiren kann; da wissen wir ihn besser anzuwenden, nicht wahr? Du schreibst mir neulich, Du würdest in 8 Tagen von Messina aus in der Heimath sein; dann würdest Du ja Paris gar nicht, oder wenigstens sehr flüchtig sehen, was ich Dir nicht anrathen kann. Berühren mußt Du es auf der direkten Route jedenfalls, und dann fände ich es Unrecht, es ganz links liegen zu lassen. Doch hiervon später. Heute noch die herzlichsten Grüße und Küße von Deiner treuen Aenni.

[Adresse]

Al | Signore Dottore Ernesto Haeckel | p. ad: Signore Mueller | Victoria Hotel | Messina (Sicile) | via Marseille.

a eingef.: mit; b korr. aus: Dich; c eingef.: kann; d eingef.: vergeblichen; e korr. aus.: meiner und Deiner; f eingef: faßte; g eingef.: auch

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
09.11.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Messina
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 34475
ID
34475