Anna Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 1./2. November 1859

Berlin d. 1.11.59.

Heute gilt es zwei Briefe zu beantworten, mein lieber, lieber Schatz, über die ich so glückselig bin, daß ich sie immer und immer wieder lese, trotzdem ich sie schon auswendig weiß. Morgen werden es acht Tage, als ich, eben im Begriff den letzten Brief an Dich abzuschicken, den ersten Gruß aus Deinem neuen Winterasyl erhielt und mit vor Freude zitternder Hand kritzelte ich dies noch in meinen Brief hinein, den Du hoffentlich inzwischen ebenso richtig, wie die anderen erhalten hast. Mir ist zu Muthe, als hätte ich Dich noch einmal geschenkt bekommen, seit ich Dich glücklich in Messina weiß; wie wird mir erst sein, wenn ich wieder in Deine lieben Augen sehe, die gewiß dieselben geblieben sind, wenn Du Dich sonst auch verändert hast; Augen und Herz sind dieselben geblieben, der Spiegel meines reinen, hohen Glückes. Ich bin recht begierig auf eine detaillirte Reisebeschreibung; namentlich über Palermo, den Aetna und Taormina, die Glanzpunkte der 5 Wochen, in denen ich mich trotz dieser Sehnsucht und mancher bangen Stunden nach dem Zeugniß meiner Verwandten recht tapfer gehalten habe. Du erhältst heute auch meinen ersten Gruß aus der Heimath, in der [ich] mich nach der langen Abwesenheit wieder recht behaglich fühle; ich bin gleich zu Deinen Alten gezogen, da Mutter noch nicht hier ist und Frl. Caro morgen wieder abreis’t, worüber ich beiläufig gesagt, recht froh bin, denn das zimperliche, altjunferliche [!] Wesen voller Redensarten und Sentimentalitäten ist mir herzlich unangenehm, und mir nicht allein, den Alten auch, die mit dem Wechsel ganz einverstanden sind. So lange also Fräulein Caro Dein Wohnzimmer einnimmt, schlafe ich an demselben Plätzchen, wo Du immer geruht hast und lasse mich dort allabendlich von lieblichen Bildern einwiegen, bei denen die Localität nicht ohne Einfluß ist; im übrigen Zimmer sieht es sehr unordentlich aus, da ich nur provisorisch meine nothwendigen Sachen aus dem Koffer gezogen habe. Morgen Nachmittag erwarten wir Mutter zurück; was sie zu dieser || meiner Behausung sagen wird, da ich mit ihr verabredet hatte, die ersten 14 Tage bei ihr zu bleiben, weiß ich nicht; es ist mir unangenehm ihr diesen Wunsch nicht gewähren zu können, da ich hier nothwendig bin, wenn Deine Mutter sich schonen soll. Über diese kann ich Dir recht gute Nachrichten geben; ich finde sie viel wohler aussehend als vor Töplitz; ihr Gang ist besser geworden und vor Allem ihre Stimmung, der beste Barometer für ihren Körper. Die beiden lieben Alten sind glückselig mich wieder zu haben und [ich] nicht minder, trotzdem ich unterwegs überall recht durch Liebe verwöhnt worden bin. Geschadet hat mir das aber nicht; ich glaube, ich bin die Alte geblieben und eher noch gewachsen in der Liebe zu Dir, meinem besten Herzen auf der Welt. Täglich fühle ich mehr Deine beglückende Liebe, täglich mehr, wie unsere Seelen immer näher rücken und sich vereinen trotz der fernsten Ferne. Der Stolz mit dem ich an Dich denke und von Dir spreche hat meine Verwandten und Bekannten am Rhein und in Westphalen ganz neugierig auf meinen Doktor gemacht; man freute sich überall über mein glückliches Gesicht, der Abdruck meiner Seele, die so reich in Deinem Besitz ist, da sie mit Recht beneidet werden könnte, wäre dies Gefühl nicht viel zu unedel für dies zarte, hohe Verhältniß, in dem wir zueinander stehen. O Schatzchen, wenn man Dein Bildchen, meinen treuen Begleiter, in die Hand nahm und mit Wohlgefallen ansah, befriedigt zurückgab; mir auch wohl sagte: in den hätte ich mich auch verlieben können und dergleichen mehr, wie warm wurde mir da immer um’s Herz und wie fühlte ich tief im Innern, ach kenntet Ihr den lieben Menschen mit seiner kindlichen, offenen, wahren, reinen und edlen Seele erst, dann würden Euch erst die Augen geöffnet, aber wie ein Heiligthum verwahrte ich diese seligen, wenn auch etwas egoistischen Gefühle in meiner Brust und plaudere sie Dir jetzt, ich weiß nicht zum wievielten Mal vor. Wüßte ich nicht, wie ein Liebender bei solchen Worten mitempfindet und zwischen den Zeilen lies’t, ich müßte || wahrlich fürchten, Dich zu langweilen immer und ewig mit den selben Gedanken. Ich soll Dir aber andererseits Rechenschaft von den dummen Dingern geben, und wird Dirs zu viel, so sagst Du mir es offen; Du weißt übel nehmen kann ich nicht, am allerwenigsten von Dir, der Du so hoch über mir stehst. Ich glaube einer Frau kann es leicht passiren, daß die Gefühle mit ihr durchgehen, da muß der Mann, als Representant der Überlegung und des Verstandes die überströmenden Gefühle in ihr Bett zurückdrängen und sie lehren, sich zu beherrschen. Ich glaube, wenn ich mir das nicht oft genug selbst sagte und mich zusammennähme, ich könnte mich Bogenlang in meinen Liebesgedanken verlieren, doch das soll nicht sein und reichlicher, Anderweitiger Stoff ist vorhanden, den ich mit der Feder ausbreiten kann. Ich komme zunächst auf Deinen ersten Brief zurück, den ich außer dem für mich bestimmten Couvert sogleich nach Bochum schickte, wo man sich lebhaft mit mir nach Nachrichten bangte, mit der Weisung, nach Durchlesung ihn sofort nach Freienwalde zu befördern, wo er noch weilt. Auf meiner guten Karte habe ich die ganze Reise schon zurückgelegt und hoffe noch durch die Details auf recht hohe Genüsse. Liebchen, Du glaubst mich aus einem Irrthum zu reißen, wenn Du mir sagst: „Auf Liebchen nach Capri“ seien Deine eigenen Gedanken, woran ich nie gezweifelt habe. Ich meine Dir das auch gleich geschrieben zu haben, wenigstens bin ich von Anfang an davon überzeugt gewesen, nicht etwa der hinkenden Versfüße wegen, deren wirklich zu wenige sind, um einen Tadel für das ganze Gedicht zuzulassen, sondern der Wärme und Innigkeit wegen, die mir sofort den liebenden und verliebten Schatz verkündeten, der jedem Felsen seine Poesie, jeder Blume ihren Duft und dem lieblichen, kleinen Paradies-Eilande einen solchen Reiz verleihen konnte, daß die Braut sehr bald die verwandten Gefühle angeregt findet und den Hauch der sympathischen Seele fühlt, kurz, daß ich meinen Erni ganz aus diesem allerliebsten Lied Deines Geistes verstand, mag es auch mädchen-||haft sein, wie Allmers gesagt hast [!]. Ist das nicht ganz natürlich, wenn es gilt eine jungfräuliche Insel, wie das unverdorbene Capri zu besingen; natürlich ist es und eines Naturforschers im engsten Sinne würdig. Nicht konnte ich Dir aus früheren Briefen glauben, Du habest nur den Anfang und Ende hinzugesetzt und bei der Besingung der Flora geholfen. Verse wie „in dieser Grotte, bei stiller Nacht – Hat oft er des treuen Weibes gedacht; in tiefer Sehnsucht, in heißem Gebet – die Götter um Heimkehr angefleht –; wenn oft der modernen Gegenwart“ etc. oder „in den weißen Häuschen kuppelbedeckt“, kurz fast jeder einzelne, sind der Ausdruck Deiner zarten Seele, was, wenn a sie nicht einmal von Deiner Braut verstanden würden, Dich gerecht betrüben könnte. Allen, denen ich den ausführlichen Spaziergang auf der lieblichen Insel vorlas, b nannte ich Dich als Verfasser, weil ich vom ersten Moment an nicht anders gedacht habe. Die Allmerschen Gedichte, die ich gewiß sehr hoch schätze und ihren tiefen Gehalt verstehe, tragen einen ganz anderen, elegischeren Charakter, wogegen Deine frische Naturlaute sind ganz ohne Sentimentalität; wenn auch weniger kunstgerecht. Ich freue mich, daß ich mich nicht getäuscht habe und richtig durchgefühlt habe; ich möchte gern wissen, ob das bei dem Abschiedsgedicht auf Capri auch der Fall ist, deßen Inhalt ich mehr Dir, die Form Allmers zuschreibe. Sage mir doch, wie sich’s damit verhält. Daß Du in Sicilien auch Aquarelle gemacht hast, ist mir sehr, sehr lieb. Wie werde ich da bei Deiner Rückkehr mit Dir in den Hochgenüssen, die der herrliche Süden bietet, schwelgen und Deine Gefühle und Anschauungen immer besser werde verstehen lernen. Ich hatte den ganzen Sonnabend über, während ich herfuhr, richtig vermuthet, einen Brief von Dir vorzufinden, das war der beste Empfang, und nach den ersten Begrüßungen durchlas ich ihn sofort; ganz gegen meine Grundsätze im Bett nachher ruhig und genau und konnte mit Dir den Kontrast Deiner jetzigen eingeengten Verstandesbeschäftigung mit dem freien || Phantasieleben der letzten Monate empfinden, der Dich zu einem so harten Urtheil Deiner sonst so geliebten Wissenschaft verleitet. Du denkst gewiß noch anders, wenn das Mikroskop Dich wieder in die ewige Jugend der Natur, die grandiose Anlage des kleinsten, unbedeutendsten und von den meisten Menschen aus Unverstand und Unkenntniß verachteten Geschöpfe hineinschauen läßt, wobei Phantasie und Dichtung nicht weit liegt. Ist das nicht ein hoher Gedanke, der diese zarten Geschöpfe in’s Leben rief, jedes für sich höchst weise organisirte?; ja ich behaupte, die ganze Schöpfung ist ein Gedicht. Gott, die Urkraft, der Urstoff, dichtete, als er das All hervorrief, die Welt schuf! Ich fürchte, Dein Dachstübchen im IV Stock wird nicht Licht genug zum Mikroskopiren gebenc und Dein Stubennachbar Bartels ein schlechter Ersatz für den Dich so mächtig anregenden Allmers sein. Wie kannst Du aber der vergleichenden Anatomie so unrecht thun, indem Du ihr das freie Schaffen absprichst? Schaffst Du da nicht allein für Deinen Verstand, sondern auch für den vieler Anderer, wenn Du eins dieser Thierchen genau beobachtest und hier und dort neue Entdeckungen machst? Du solltest einmal einen Tag die Akten gekostet haben, ein Phantasiereich, voller Leben und Frische würdest Du Deine glücklich gewählte Lieblingswissenschaft finden, die Dich in das unmittelbare Leben der Natur einführt, in der wir meisten übrigen Menschen so dahinleben ohne von unseren Mitgeschöpfen, ihrem Leben und Organismus Etwas zu wissen. Wie gesagt, ich hoffe Du lernst Deine Wissenschaft wieder lieben, und finde es begreiflich, daß Dir dies anfangs sauer wird nach dem 4monatlichen Künstlerleben, über das ich mich mit Dir gefreut habe; wärst Du nicht solcher Naturmensch, d. h. der natürlichsten Eindrücke Deiner nächsten Umgebung fähig, wodurch Du Natur und Kunst immer voll genießen wirst, Du hättest nie solch köstliches freies, ungebundenes Künstlerleben führen können; sei dankbar, was die Natur Dir bot, auf dem Gebiete der Kunst zu verarbeiten; sei aber auch nicht undankbar gegen die liebe Natur, die Dir in der reichen Faune Si-||ciliens den Schlüssel in die Hand gibt, auf dem Gebiete der Wissenschaft Tüchtiges zu leisten, manche neue Entdeckung zu machen, um durch Beschäftigung mit den kleinsten, unansehnlichsten Geschöpfen das große Ganze der Natur fördern zu helfen, Deinen eigenen Gesichtskreis und Vieler Anderer mit zu erweitern; kurz einen Stein zu dem Bau des großen Weltgebäudes, das in der Kultur und Entwickelung der Menschen sich fortbildet, hinzuzufügen. Du schreibst ja ganz entzückt über die Fülle von Material, die sich Dir in Messina bietet; dabei ist es aber nicht recht, daß Du den Muth verlierst; daran werden wohl die ersten Arbeitstage schuld sein, die natürlicher Weise nach dem phantasievollen Künstlerleben nicht schmecken wollten. Mir ist nicht bange, daß Du die Masse bezwingen wirst, und das zu Deinem Studium nothwendige Material herausfinden wirst, was Dir nach dem unangenehmen Arbeiten in Neapel, der Vorschule für Dein jetziges in Messina leichter werden wird. Vor allen Dingen nicht den Muth verloren; das ist eines jeden Menschen unwürdig, am allerwenigsten eines Naturforschers, der über solche kleinlichen Schwächen der Menschen hinweg sein sollte. Du hast also wirklich daran gedacht, umzusatteln und Landschaftsmaler zu werden? Das hat die schöne südliche Gegend und Vegetation bewirkt; wüßte ich nicht, daß Dir die Malerei im Ganzen als Erholung von der Arbeit besser schmecken wird als Hauptbeschäftigung, bei der es sich um den Broderwerb handelt, so könnte ich traurig werden in dem Gedanken, d Grund zu sein, Dich in Deiner Lieblingsbeschäftigung zu stören und störend bei der Wahl eines Berufes zu sein, der Dein Lebensglück ausmachen würde. Ich habe solche Kämpfe kurz nach unserer Verlobung durchgemacht; Du weißt, daß ich Dir von Anfang an das Versprechen gegeben habe, nie hinderlich in Deiner Entwickelung zu sein, handelte es sich auch um jahrelange Trennung; ich fühle mich so stark und muthig in meiner vollen Liebe zu Dir und Deiner zu mir, daß ich auch jetzt noch kein Wort gegen eine beabsichtigte Tropenreise einwenden würde, obgleich || ich sehnsüchtig März oder April herbeiwünsche, wo ich meinen liebsten Schatz wiedersehen werde. Hoffnung hat starke Wurzel in mir gefaßt und läßt mich im Verein mit festem Gottvertrauen die Trennung von Dir leichter tragen, die nun ihrem Ende entgegen geht. Doch wohin bin ich Alles gerathen? Du könntest fast glauben, der letzte Brief, der mich hier so freudig willkommen hieß, hätte mich betrübt, statt erfreut. Doch im Gegentheil; Du schreibst so wahr und lieb über Deine Stimmungen und Gefühle, die so natürlich und individuell sind, daß sie Zweifel und Skrupel in die Zukunft eines nüchternen Philisters oder trockenen Professors mit 1½–3 Zuhörern, und was Du Dir alles noch für Ehrentitel beilegst, nothwendig enthalten müssen, weil diese Dich von jeher stark gequält haben. Ich hoffe auch das Gute wird die schöne italienische Reise bewirken, daß Du diesen für immer Valet sagst und im Mittelmeer begräbst, daß Du Goethes bezeichnenden Ausspruch: „ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst“ in Dir wirken läß’st und verbinden lern’st, und mit dem Streben vorwärts Deinen schönen selbstgewählten, wenn auch ernsten Beruf treibst und Dir Heiterkeit und Frische in den Mußestunden von der Kunst und Deiner Aenni holst, die freilich keine schöne, wild romantische Gegend, keine alte Ruine, kein exotisches Gewächs oder eine duftende Myrthe ist, aber ein Herz voll Liebe, eine Seele voller guter Vorsätze und ein Gemüth voller Frische und warmen Lebens allezeit für Dich bereit hat und Dich gewiß glücklich machen kann, wenn Du es ohne Tropenreisen, ohne Umherirren in fremden Ländertheilen, im vaterländischen Deutschland werden kannst. Ich denke heute noch so wie am 3 Mai; ich will nicht schuld sein, daß Du Dich an Deutschland gefesselt glaubst; ich folge Dir überall, und darf oder kann ich Dir nicht folgen, werde ich in Deiner Liebe glücklich sein und fern von Dir ein reiches geistiges Leben mit Dir fortführen, das mir auch die größte Entfernung, die längste, bitterste Trennung nicht rauben kann. Es ist Zeit, daß ich Dir von meinem || Leben schreibe, das auf dem wenigen Raum, der mir noch zugemessen ist, arg zusammengedrängt werden muß. Denke Dir Siegfried Reimer hat sich mit Elisabeth Jonas verlobt, die vor 4 Wochen ihren Vater verloren hat. Ich hätte ihr besseren Geschmack zugetraut; freue mich für Siegfried, der sehr glücklich aussieht. Wenn es nicht unnütz wäre, möchte ich in Bezug auf die Braut sagen: Hochmuth kommt vor dem Fall. Du mußt nun noch einmal mit mir nach Hamm zurückkehren.

Mittwoch 26 schickte ich den letzten Brief an Dich ab, Abends war ein sehr netter kleiner Kreis bei Jacobis versammelt: Präsident mit Frau u. Töchtern, dessen gemüthliches, kindliches, frisches Wesen Dir zugesagt haben würde, Dr. Darnstedt und Frau, Verwandte von uns, die Dich auch kennen und Direktor Wendt und Frau, Beide Stettiner Kinder, er mein Privatlehrer, der mir sehr gern Unterricht gegeben hat; sie ist eine Freundin von Anna Triest; Beide sehr musikalische, geistreiche Leute, mit denen sich prächtig unterhalten läßt. Sie spielten wundervoll zusammen quatre-main und Sophie Jacobi Solo. Alwine Lendt war leider heiser; sonst hätte sie gewiß gesungen. Da war denn vielfach von Dir die Rede und ich habe mir von Wendt erklären lassen, was Latomien sind, die Du bei Syrakus erwähntest.

Donnerstag 27 schrieb ich früh an Hermine Bercken und schickte Deinen Brief zur Weiterbeförderung nach Freienwalde mit, über dessen Ankunft die guten Berckens sich mit mir gefreut haben werden. Um 10½ Uhr fuhr ich mit der Eisenbahn nach Münster, wo ich von 12½ Uhr bis 6½ Uhr blieb, leider zu kurze Zeit, um wirklichen Genuß durch Wiedersehen vieler Bekannter von früher zu haben. Namentlich wäre ich in meinem Standquartier gern noch länger geblieben, bei der Oberbürgermeisterin Hüffer, einer Freundin der Mutter, die zwar Katholikin, aber sehr gescheit und angenehm ist und in deren italienischen Schätzen ich gern umher gewühlt hätte. Sie ist nämlich mit ihrem verstorbenen Mann 1 ganzes Jahr in Italien gewesen; hat ein ganzes Zimmer mit Sachen || aus Rom angefüllt, die ich flüchtig gesehen habe; in die großen Mappen, die Bilder von Neapel, Rom etc. enthalten konnte ich keinen Blick hineinwerfen, was mir recht schwer wurde. Ihr hat Neapel ebenso wenig nach Rom behagt wie Dir und ihr einziger Wunsch ist der, Rom noch einmal wiederzusehen, den Du ja auch theilst. Sie hat noch zwei Töchter, liebenswürdige Mädchen und einen Sohn von 12 Jahren zu Haus, mit denen ich sehr vergnügt zu Mittag aß. Nach Tisch ließ Frau Hüffer anspannen und begleitete sich [!] auf meinen Fahrten zu verschiedenen Bekannten; die Zeit, die ich bei denen blieb, über fuhr sie spazieren und holte mich immer zur festgesetzten Stunde ab. Auf diese Weise habe ich dann die Familie Hering, Eltern der Frau Schrader in Stettin; Delius, die ich sehr lieb habe; Louise Jacobi; ihre Schwester: Frau Musikdirektor Schmidt; Familie Schulte und Fräulein Engels wiedergesehen, die 92 Jahr alt, sehr schwach ist und gewiß bald stirbt. Sie hatte trotzdem frische Erinnerung, erzählte von jedem Einzelnen von uns und ließ sich komischer Weise, da sie selbst Dein Medaillon nicht sehen konnte, von ihrer alten Magd Christine referiren, wie Du aussähest, was diese alte Person auch nur mit Hülfe der Magd konnte. Ich habe ein liebes, freundliches Bild von der alten prächtigen Person mitgenommen, deren Bild Du bei uns gesehen haben mußt. Onkel Louis holte mich Abends auf dem Bahnhof wieder ab und las mir nach dem Abendbrod, als Tante und Sophie vor Müdigkeit zu Bett gegangen waren, bis 11½ Uhr fast den ganzen Wallenstein’s Tod vor, wenigstens die Hauptcharakterstellen, die ich früher alle auswendig konnte. Der große Dichter bildet jetzt Tagesgespräch; sein hundertjähriger Geburtstag wird in ganz Deutschland in den kleinsten Orten gefeiert werden, was recht für seine Popularitäte spricht. Hier soll ihm eine Statur [!] errichtet werden und Abends Wallensteinsf Lager und die Glocke aufgeführt werden, worin ich ihn wahrscheinlich mitfeiern helfeng werde. Sein Bildniß aus den verschiedensten Jahren ist in allen Läden zu kaufen.h

Freitag 28 packte ich meine Sachen; nach dem Kaffee machten Sophie und ich einen [ ] Spaziergang mit Onkel, wo leider Nebel uns die Aussicht auf Hamm verdarb. Ich machte nachher noch ein paar Besuche und hatte Abends den Hochgenuß 36 junge Mädchen aus Hamm um mich versammelt zu sehen, denen ich dann und wann mit Alwine Lent und Therese Leo, eine alte Bekannte aus Stettin, entfloh und mich in ein anderes Zimmer stahl. Spät Abends erhielt ich noch sehr liebe Briefe von Onkel Bercken und Hermine nebst einer Schachtel mit der Etiquette: Sonnabends auf der Reise zu eröffnen; das geschah denn auch in einem hungrigen Moment und aus einer ausgehöhlten Semmel entwickelten sich zwei gebratene Krammetsvögel, die mir trefflich mundeten. Sonnabend 29 verließ ich 10 Uhr Hamm u. rutschte 12 Stunden auf der Eisenbahn herum, von Minden aus mit einem sehr verliebten jungen Ehepaare, das sicherlich seine Hochzeitsreise machte; sonst war die Gesellschaft wechselnd. 10 Uhr Abends empfing mich Heinrich auf dem Bahnhof und brachte mich zu den Alten, die sich sehr freuten.

Sonntag 30 besuchte ich Helene, deren kleines Häuschen ganz manierlich geworden ist u. Tante Bertha, die Alle wohl und munter und Dich herzlich grüßen lassen, sowie Theodor, den ich Montag Mittag mit Heinrich hier sah. Sonntag aß Adolph Schubert mit uns; nach Tisch spielte ich mit ihm quatre-main auf seinem schönen Instrument, das hier im Eßzimmer steht. Abends mußte ich mit den Alten zu Georg Reimers, wo Siegfried Reimer als Bräutigam gefeiert wurde und Du und ich auch noch einmal lebten. Montag 31 hatte ich den ganzen Tag sehr heftige Kopfschmerzen und war gänzlich unbrauchbar; hatte also gerechte Sehnsucht nach meinem Doktor. Nachmittag besuchte mich mein Vetter Louis Jacobi, der hier jetzt studirt und sehr nett geworden ist. Gegen Abend war Quincke über eine Stunde hier und neckte mich wie gewöhnlich; zum großen Ärger Deiner Alten und meiner Freude, legte er kein Gewicht auf die Kopfschmerzen. Gestern Dienstag war ich natürlich frisch wie ein Fisch im Wasser; machte einige Besorgungen, aß Mittag bei Jacobis mit Heinrich, Theodor, Louis Jacobi und Konrad Saluskovsky zusammen, der Dich ebenfalls grüßt u. mich die Braut von Messina nannte. Nachher war ich in unserem Quartier zum ersten Mal und schrieb vor dem Abendbrod den Anfang dieses Briefes. Heute Mittag ißt Tante Bertha hier, die nächstens an Dich schreibt. Leb wohl, 1000 Grüße u. Küße von Deiner

glücklichen Aenni.

[Adresse]

Al | Signore Dottore Ernesto Haeckel | p. ad.: Signore Mueller | Victoria Hotel | Messina (Sicile) | via Marseille

a Dittografie: wenn; b gestr.: sagte; c eingef.: geben; d gestr.: Dich; e Siegelausriss, Text sinngemäß ergänzt; f Siegelausriss, Text sinngemäß ergänzt; g Siegelausriss, Text sinngemäß ergänzt; h Siegelausriss; Text sinngemäß ergänzt

Brief Metadaten

ID
34474
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Zielort
Zielland
Italien
Datierung
02.11.1859
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
10
Umfang Blätter
5
Format
22,0 x 14,2 cm; 28,4 x 22,0 cm; Brieffaltung
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 34474
Zitiervorlage
Sethe, Anna an Haeckel, Ernst; Berlin; 02.11.1859; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_34474