Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Freienwalde, 5./6. Juni 1859

Freienwalde, d. 5. 6. 59.

Es ist Sonntag Morgen, mein lieber Schatz, die Glocken läuten zur Kirche und ich will die ruhige, stille Stunde benutzen, Dir mein volles Herz einmal wieder ganz auszuschütten. Gerade in stillen Stunden, wo die Kinder angezogen oder unten beschäftigt sind, fühle ich meine Einsamkeit mitten unter lauter lieben Menschen doppelt; daher kommt es auch, daß ich an Festtagen, wo einmal besondere Ruhe [und] Friede über Stadt und Land ausgebreitet liegt, Dich ganz besonders vermiße. Schon aus frühster Jugend entsinne ich mich, wie mir die Abwesenheit von Haus an Festtagen immer schwer geworden ist. Ein Fest ist wieder vor der Thür, wo ich, wo wir Alle Dich wieder sehr vermißen werden. Kommt dieser Brief richtig an, so hast Du durch ihn noch eine zweite Festtagsfreude, denn ich weiß, wie Du Dich auch zu mir sehnen wirst. Doch genug davon, laß mich nicht weich werden, sondern den Sonnenschein, der mir in’s Fenster strahlt, auch über diesen Brief strahlen laßen, einen Festgruß für meinen lieben Erni.

Ich habe den heutigen Tag schon herrlich begonnen und darf gewiß nicht undankbar sein. 2 Stunden bin ich schon nach den Molken in Berg und Thal umhergestrichen, auch ganz nach unser Beider Geschmack ohne Weg und Steg mitunter, mir immer die schönsten Stellen aussuchend, wo ich mich entweder in nächster Nähe an Bäumen und Pflanzen ergötzte oder mit den Augen weiter in die klar beleuchtete Ferne schweifte, und weit, weit über dieselbe fort nach dem Süden, nach Neapel, zu Dir, mein bestes Herz wanderte, wo das geistige Auge am liebsten ausruht, und immer Neues, Schöneres, Beßeres entdeckt. Nun möchtest Du aber gewiß auch wißen, wo ich denn eigentlich gewesen bin. Über den Ruinenberg wanderte ich immer am Abhang weiter einen reizenden versteckten || Weg bis zum sogenannten Dorn, einem Berge mit Eichen bepflanzt und reich mit Epheu, Waldmeister und sonstigen Waldpflanzen bewachsen, über diesen fort in’s Hammerthal, den Berg jenseits wieder hinauf, wo ich am Anfang in der Nähe der Teufelsbrücke eine ganz anständige Schlange im Grase sah, kam beim Alaunwerk wieder herunter und erkletterte hinter diesem Thal den Akazienberg, deßen Namensbäume in voller Blüthe einen köstlichen Duft verbreiteten. Feldblumen und Gräser, Alles blüht so üppig, daß ich immer mit einem großen Strauß heimkehre. Den heutigen soll Fräulein Arndt haben, bei der Hermine und ich heute Nachmittag Kaffee trinken, während Fräulein Wangemann mit den meisten Pensionärinnen eine Landpartie macht. Dein Bildchen bekommt die Blumen immer alle zu sehen, und blickt mich daraus immer so herzig und lieb an, daß ich ganz glücklich bin. Wenn ich so allein in der lieben Natur umherstreife, träume ich immer von einer Alpenreise mit Dir und male mir die Hochgenüße in der herrlichen Gebirgswelt mit Dir vereint auf’s Schönste aus. Mein allwöchentlicher Festtag ist jetzt immer Montag, wo ich richtig bis jetzt meinen Brief erhalten habe. Hab’ Dank für den letzten am 23 geschrieben, deßen Inhalt mich sehr befriedigt hat. Ich weiß Dich mit Lust und Freude in Deiner schwierigen, aber intereßanten Arbeit und zur Erholung auch in der schönen Natur Neapels, die gewiß sehr viel Verlockendes für Dein Naturauge und Schönheitssinn hat. Deiner zweiten Vesuvexcursion bin ich mit Spannung gefolgt; wenn Du auch nicht soweit gekommen bist, wie das erste Mal, so hast Du doch das nächtliche Feuerwerk in nächster Nähe im Dunkel der Nacht gesehen, was Dir beim ersten Ersteigen abgeschnitten wurde. Um Vorsicht muß ich Dich aber bei alleinigem Erklettern und Umherwandern in diesem nur leicht überdeckten Feuermeer bitten; wage Dich || nicht zu weit oder an Stellen, die irgendwie Gefahr bringen können; denke an Deine Aenni, so wirst Du gewiß nicht verwegen sein, wie ich in Gedanken an Dich und gleichsam für Dich meinen Körper jetzt mehr schone, wie ich es je gethan habe und mir oft zu vernünftig vorkomme. Ganz ist der Husten noch nicht weg, weswegen Quincke zu den 33 mal trinken noch 10 mal hinzugefügt hatte, was mir langweilig und unangenehm ist, doch will ich es gern thun, wenn ich dadurch gesund werde, wie Du mich ja haben willst, und wie ich mich selbst auch nur gebrauchen kann. In dieser Woche bin ich wenig zu reeller Arbeit oder Lesen gekommen durch Hinderniße und Störungen aller Art; die jetzige wird nicht beßer werden, da sie morgen gleich mit großer Wäsche beginnt, die, wie Du weißt, die Frauen nur allzusehr in Anspruch nimmt. Ich lese jetzt zur Übung ein recht hübsch geschriebenes englisches Buch: North and South „by the author of Mary Barton“ (Du weißt doch, daß das zu Deutsch Nord und Süd heißt). Man hat jetzt täglich in den Zeitungen so viel zu lesen, weil die Verhältniße und Entwickelungen aller Länder in dieser wichtigen, kriegerischen Zeit, mich sehr intereßiren. Preußen steigt immer mehr in der Achtung der übrigen Staaten, obgleich es noch keine bestimmte Stellung zum Krieg eingenommen hat; seit Mittwoch ist die freiwillige Anleihe vom Prinzregenten angeordnet worden, woraus ich eine baldige Mobilmachung vermuthe, da noch Fonds genug da ist, um die Kosten der Kriegsbereitschaft noch drei Monate zu decken und mobil wird nach den traurigen Erfahrungen von 50 nur gemacht werden im Fall eines Krieges. Laß Dich durch meine Vermuthungen aber nicht beunruhigen; die Zeit wird lehren, ob wir in den Krieg mit verwickelt werden, und Gott schließlich Alles || so einrichten, daß wir es ertragen können. Ich hoffe immer noch auf keine Störung für Dich, die gewiß immer sehr unwillkommen wäre, jetzt aber besonders nachtheilig sein kann. Dabei fällt mir ein; hast Du nicht einmal durch Martens gehört, ob Deine letzte Arbeit für Virchow schon gedruckt ist? Daß Kapitän Acton wieder fieberfrei ist freut mich sehr, noch mehr aber die Beßerung der Frau Hauptmann Blöst, die sehr schwer krank gewesen sein muß. Karl kommt morgen wieder zurück; gestern hat er von Dortmund aus geschrieben und zwar sehr befriedigt über die Westphalia; er hat sich gehörig in dem Bergwerk umgesehen und über die Verhältniße informiert. Nach der Generalversammlung am Mittwoch hat er noch alle unsere Verwandten die dort zerstreut in Dortmund, Bochum, Hamm etc. wohnen besucht. Von Tante Bertha hatte ich auch einen flüchtigen Brief mit vielem Dank für den Brief von Dir, den ich auch gelesen habe und mich sehr über Deine liebenswürdige Milde und Offenheit ihr gegenüber gefreut habe, von der ich viel lernen kann. Ich denke, sie wird dies auch anerkannt haben und ganz die Alte wieder zu Dir werden. Dienstag ist [in] Steinspring Taufe des kleinen Jungen, der prächtig gedeiht. Bertha hat sich ganz wieder erholt und ist schon seit Bußtag mit ihm spazieren gegangen. Wann Mutter zurückkommt, ist noch nicht bestimmt; ich denke das Fest über wird sie noch im Walde bleiben, der nach Briefen von dort wundervoll ist. Ein Heer von Briefschulden lastet wieder auf mir, die täglich durch neue liebe Briefe meiner Freundinnen wachsen. Ich werde mich 10 Procent leichter fühlen, habe ich die ältesten Briefe, die noch vom vorigen Jahr her datiren, beantwortet habe. Jetzt muß ich mich schleunig anziehen; findet sich dann noch Zeit, plaudere ich weiter mit Dir. Leb’ wohl für ein Weilchen. ||

Sonntag Abend

Es ist eine längere Pause im Schreiben geworden, mein lieber, lieber Erni, als ich wünschte. Vormittag bat mich Hermine, mit ihr und den Kindern in den Schloßgarten zu gehen, wo wir denn 1½ Stunden zugebracht haben, aber nicht lesend, wie wir wollten, sondern langsam mit Freienwalder Größen spazieren schlendernd, was mich sehr müde gemacht hat und mir überhaupt immer sehr sauer wird. Da schmeckte denn das Mittagbrod vortrefflich und nachher ordnete ich meine heute früh gesammelten Blumen zu einem recht schönen Strauß, mit dem ich Fräulein Arndt erfreute, zu der Hermine und ich um 3 Uhr gingen. Sie ist wirklich ein nettes, liebenswürdiges geistig reges Wesen, mit der wir drei angenehme Stunden verplauderten. Dann wollte ich noch eine Bekannte von mir aus Stettin: Frau Fritzner geb. Triest aufsuchen, die sich hier von wiederholtem Bluthusten erholen soll, fand sie aber nicht zu Hause. Sie ist eine Cousine von Anna, die du ja kennst, und die mir leider seit drei Monaten nicht aus Meran geschrieben hat. Nun sitze ich, nachdem ich die Kinder mit saurer Milch und Brod, was auch mein tägliches Abendbrod ist, versehen habe und will Dir erzählen, wie ich diese Woche zugebracht habe. Montag, nachdem ich meinen letzten Brief beendigt hatte, der hoffentlich beßer ankommt, wie der erste von hier (übrigens kann die falsche Expedition nicht am hiesigen Postsekretär liegen, der ihn ja nur bis Berlin befördert; ich hoffe es soll nicht wieder vorkommen) führte ich Jacobis noch nach dem Brunnen heraus, und nach dem Mittagbrod fuhren wir Alle, außer Heinrich, nach dem Baasee, den ich noch gar nicht kannte. Der See rings von Bäumen umgeben, macht sich recht hübsch, namentlich die kleine Seezunge hinein, wir lagerten dort 2 Stunden, doch unsere Freude, um den See herum zu wandern, wurde durch einen kleinen Schreckschuß vereitelt; im Augenblick, wo wir aufbrechen wollten, fiel Conrad vom Wagen, während die Pferde weiter gingen, ob der Wagen ihn überfahren hat, wißen wir nicht; kurz er konnte nicht gehen und auf dem || linken Beinchen nicht stehen; wir machten gleich kalte Umschläge und fuhren zu Haus; am anderen Morgen sprang er wieder a munter umher und ich denke, er wird keinen Schaden genommen haben. Dienstag Morgen lief ich meine Stunde im Schloßgarten ab bei köstlichem Wetter, nachher half ich Helene einpacken, die nebst August und den Kindern um 1½ Uhr bei Gluthitze abfuhr. Ich wanderte von der Post zu einem Gärtner und holte mir schöne Blumen für Agnes Stubenrauch zum Geburtstag am 1 Juni, den sie in Potsdam gewiß im Freien gefeiert hat. Zu Hause angelangt, schlief ich über der Zeitung ein, schrieb dann an Agnes und expedirte die Kiste. Hermine und ich aßen früh Abendbrod und machten dann noch einen schönen Spaziergang über den Monte Caprino und zu Aegidis heran wo wir im Garten sitzend, uns so verplauderten, daß es 10½ Uhr war, als wir zu Haus anlangten. Frau Aegidi erzählte Sachen aus Prag und fällte in ihrer Exaltation so harte Urtheile über ihren Schwiegersohn, daß ich daraus entnehmen muß, daß Ida nicht glücklich verheirathet ist. Ach, wenn ich nicht offenes Vertrauen zu Dir hätte, könnte ich Dich auch nicht lieben; dies scheint zwischen diesem Ehepaar, wie so vielen anderen nicht zu herrschen und im Stillen lernte ich von Neuem mein reines, ungetrübtes Glück schätzen und fast hätte ich meinem Stolz über meinen echten deutschen Jüngling Worte verliehen, wenn mir sie nicht bei Frau Aegidi verschwendet und schlecht angebracht erschienen wären. Es ist überhaupt eigen, daß ich ungern zum Dritten über mein Glück spreche; ich denke, es versteht mich Keiner und mit einer gewißen heiligen Scheu wage ich nicht meine wahren, reinen Gefühle auszusprechen, so klar ich auch über sie bin. Ich sehe das Unrecht, was hierin liegt, recht gut ein, da ich viel liebe Menschen kennen [!], die sich für mein Geschick, für meine Entwickelung intereßiren; ich werde den Egoismus bekämpfen b und die Menschen würdigen lernen, einen Einblick in unser reiches Seelenleben zu thun; freilich wer selbst || ein solches nicht kennt, wird auch kein tiefes Verständnis dafür haben; wer aber geistig Eins mit seinem zweiten Ich geworden ist, fühlt solche Harmonie auch bei Anderen gleich durch. Die Ehe ist das schönste, heiligste Verhältniß, das die Erde kennt, die freiste und vollkommenste Entwickelung beider Geschlechter geschieht eben durch die Ergänzung des männlichen und weiblichen Charakters in einer wahren Ehe; ist sie aber nicht ein solcher Zusammenschluß zweier Geister, auf Äußerlichkeiten gegründet und zu gemeinen Zwecken ausgebeutet, so ist sie das größte Unglück für den Menschen, eine Feßel die Geist und Körper knechtet und ein gänzlichc verfehltes Leben zur Folge hat. Viel beßer in diesem Falle: Mann und Weib entwickeln sich selbstständig und bleiben unverheirathet. Wohl dem aber, der eine richtige, gute Wahl getroffen hat und in dem schönen Gefühl, Alles mit einem geliebten Wesen zu theilen, den Grundstein zu seinem Glücke gelegt hat! Mittwoch Morgen kletterte ich auf den Ruinenberg, genoß eine klare Aussicht und suchte mir dann einen sehr hübschen schattigen Weg zwischen Erlen hindurch aus, der mich an das Ende des Schloßgartens brachte, den ich von Außen umging und auf der Berliner Chaussee zurückkehrte. Die zierlichsten Blumen brachte ich heim, die selbst den Kindern Eindruck machten. Im Haus wurde das Unterste zu Oberst gekehrt, Küche gestrichen etc. Gegen Abend wollten wir noch einen Spaziergang machen, als ein furchtbares Gewitter heraufzog, von einem Wolkenbruchähnlichen Regen begleitet, der entsetzliche Verwüstungen in der ganzen Umgegend angerichtet hat und von denen wir uns am folgenden Tage selbst überzeugen konnten. Nachmittag hatte ich an Mutter geschrieben, die mir in ihrem letzten Brief wieder sehr viel Grüße aufgetragen hat. Donnerstag, Himmelfahrtstag fing mit einem köstlichen, frischen Morgen an, den ich auf den Bergen um den Brunnen herum genoß. Zur Festfreude hatte ich mir || Briefe von Dir mitgenommen und lebte an den reichen Naturgenüßen, die Du gehabt hast, in Gedanken mit. Um 9 Uhr ging ich mit Hermine zur Kirche, wo leider wenig für Geist und Herz zu haben war. Zu Haus schrieb ich einen Brief zum Geburtstag an Helene, der am 3 gewesen ist; dann war der Mittag wieder da. Hermine bekam heftige Zahnschmerzen und entschloß sich Nachmittag, den Uebelthäter heraus nehmen zu laßen, was Tschepke mit einiger Ungeschicklichkeit ausführte. Gegen Abend gingen wir Beide noch mit den Jungen spazieren und trafen auf der Straße nach dem Brunnen das Ehepaar Fritzner und mehrere hiesige Bekannte, die auf dem Brunnen Musik genoßen hatten und noch dazu schlechte; nach meiner Ansicht ist dies ein entsetzliches Vergnügen; die Leute sitzen dort in vollem Staat wie auf dem Presentirteller, begaffen und besprechen Einer den Anderen und hören schlechte Musik. Wir erstiegen die Königshöhe, von wo aus die Landschaft nach dem Regen sich herrlich ausnahm. Auf dem Wege dorthin fanden wir einen großen alten Eichstamm mit den Wurzeln aus der Erde gerißen und vom Sturm umgeworfen.

Montag Mittag Leider habe ich gestern den Brief nicht mehr beendigen können und muß auch jetzt sehr kurz sein, wenn ich den Brief noch mitforthaben will. Heute Morgen habe ich keine Minute für Dich erübrigen können; Du sollst ein ander Mal dafür entschädigt werden, ich denke beßer einen kurzen wie gar keinen Brief. Freitag Morgen schwärmte ich im Weinbergsthal umher; den übrigen Tag habe ich mit Hermine zusammen mit Jäten und Pflanzen im Garten bei greller Sonne zugebracht; durch sauere Milch Abends wieder aufgefrischt, studirte ich noch Zeitung und schlief dann herrlich nach den Strapatzen. Sonnabend Morgen wanderte ich über den Caprino. Gegen Abend besuchten wir Fräulein Wangemann, die sich immer sehr theilnehmend nach Dir erkundigt und sich gern von Deinen Erlebnißen erzählen läßt. Hast Du auch so schönes Wetter gehabt, möchte ich von vielen Expeditionen zu hören bekommen. Heute scheint kein Brief zu kommen, da es bereits 12½ Uhr ist; vielleicht Nachmittag noch. Lebe wohl, mein lieber Schatz, bleib gesund und munter. Hermine grüßt, Deine Aenni küßt Dich herzlich.

a gestr.: umher; b gestr.: lernen

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
06.06.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34453
ID
34453