Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Freienwalde, 7. Mai 1859, mit Beischrift von Bertha Sethe

Freienwalde, 7. 5. 59.

Gleich am ersten Tage meines Hierseins, herzlieber Erni, wollte ich Dir schreiben, einen recht innigen Frühlings- und Blüthengruß aus dem niedlichen Freienwalde; Hermine und die vier lieben Kinder haben aber fortwährend für Abhaltungen und Störungen aller Art gesorgt, so daß ich erst heute morgen ein ruhiges Stündchen für meinen Schatz erübrigen kann. Den ganzen vergangenen Montag, nachdem ich meinen Brief an Dich expedirt hatte, wartete ich auf einen von Dir, der auch richtig angekommen, leider aber erst spät Abends durch Verfehlungen aller Art in meine Hände gerieth. Ich war bis Mittag zu Haus gewesen, beim Leinwandzuschneiden beschäftigt, wogegen Deine Alten mich in der Stadt vermutheten. Zu Mittag aß ich mit Heinrich und Deinem Bruder Karl bei Jacobis, sagte vorher noch Tante Julchen und Magdalene Dieckhoff Lebewohl, welche letztere ganz betrübt über meine abermalige Abreise war. Gleich nach dem Eßen eilte ich wieder zu Haus und von da in die Stadt, um allerlei Besorgungen abzumachen. Zum Schluß ging ich zu Deinen Alten, wo ich aber nur Tante Lotte fand, durch die ich die Ankunft eines Briefes erfuhr; ich sagte ihr Lebewohl, erhielt noch viele Vorsichtsmaßnahmen für Hermine und mich und kehrte zu Haus zurück. Nach einem kurzen Aufenthalt ging ich zu Tante Bertha, die Besuch von Frau Thiem [?] hatte und fand dort Deinen Vater, Karl und Ottilie, Jacobis und Heinrich, kümmerte mich aber wenig um sie, sondern vertiefte mich im anderen Zimmer in Deinen lieben, lieben Brief, der mir Dein trauriges Osterfest schildert, das ich nun auch glücklich hinter mir weiß, schließlich aber in Folge des guten Wetters Deine geistige Umwandlung erzählt, die Einkehr von frischer Lust, frohen Muths und schöner Hoffnung in Deine unruhig bewegte und verstimmte Seele. So weiß ich Dich denn glücklich und zufrieden, hoffe, der Krieg soll Dir nicht sobald einen Querstrich in Deine Studien machen, wie es vorläufig ja auch noch nicht den Anschein hat, obgleich im Stillen immerfort gerüstet wird und man der Mobilmachung entgegen || sieht. Vielmehr bin ich jetzt gespannt auf die Sachlage in Italien, ob auch Neapel noch ruhig, oder der auch dort schon gährt; seit drei Tagen enthält die Zeitung gar keine Notiz vom Kriegsschauplatz, was etwas niederdrückt. Daß Du wieder einen Patienten an Deinem Schüler Acton hast, ist mir recht leid und wünsche, das schöne Wetter wird ihm das Fieber vertreiben und auch der guten Frau Blöst Genesung verschaffen, die ich nicht gern in Gefahr weiß. Ebenso ist es mir gar nicht recht, daß der Dr. Binz gewißermaßen so mit Dir und Deinem Heimweh sympathisirt; das ist kein Mittel gegen Deinen Kleinmuth, den Du hoffentlich nun nach wiederholten Erfahrungen ganz abschüttelst. Deine Aenni denkt viel lieber an Dich, wenn sie Dich glücklich und vergnügt weiß, als muthlos, niedergedrückt und schwach. Je näher die schöne Sommerzeit heranrückt, desto mehr vermiße ich Dich, entbehre ich und doch laße ich die schöne volle Baumblüthe, den melodischen Nachtigallensang, das erste saftige Grün der Bäume und Wiesen voll und kräftig auf mich einwirken im steten Gedanken an Dich und die Zukunft, in der Erinnerung an die schönen Tage, die wir im vergangenen Jahre hier und überhaupt verlebt haben. Ich weiß momentweis Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu vereinen und mich glücklich zu fühlen, fern von Dir, von meinem Lebensprincip, meinem beßeren Ich. Freilich kann ich nicht verhehlen, daß ich stundenweis, gerade wenn die Natur mich besonders entzückt, ich kalt und fühllos gegen sie werde und bitteren Trennungsschmerz empfinde; sie gehen aber vorüber, ich überwinde und freue mich, wenn ich mein Unrecht gegen die liebe freie Natur wieder gut mache und mit offenen Augen ihre Herrlichkeiten bewundere. Über Deine schöne Tour am Ostermontag freue ich mich sehr, überhaupt über Deine Bekanntschaft mit dem deutschen Gesangverein, der Dich recht anheimeln muß. Entsetzt hat mich aber Deine Schilderung des Popanzes, den man in Neapel mit der Religion spielt, und den man in 19 Jahrhundert kaum mehr für möglich hält. Es ist traurig und läßt auf die Entnervung des Volkes schließen, das in die-||sem Poßenspiel Befriedigung für den Drang nach sittlicher Festigkeit, nach Vereinigung der Welt in und außer uns findet. Ich theile Deine Freude über das beßere Material, wünsche aber, daß Du Dich nicht ganz in dasselbe verbiesterst, sondern täglich einen Spaziergang in’s Freie, in die herrliche Natur machst und Sonntags ganz von der Arbeit feierst und ungestört in Neapels Umgegend Deine Gedanken nach Freienwalde wandern läß’st. Nach flüchtiger Durchlesung Deines Briefes, setzten wir uns zu Tisch, wo Krieg und Du das Hauptgespräch bildeten. Von 10 ½ Uhr war ich wieder in meinem Zimmerchen, kam aber erst gegen 1 Uhr zur Ruhe, so lange hatte ich zu kramen und zu ordnen. Um 5 ½ Uhr Dienstag war ich wieder auf, verpackte meine Aquarelle, die ich noch Tages zuvor mit Emilie Scheller alle durchgesehen hatte, stellte alle Blumen in meinem Zimmer zusammen und packte meinen Koffer; was dabei für Reiselust nach Italien erwachte, kann ich Dir gar nicht sagen. Dabei half mir noch Helene, und später erhielt ich Besuch von Hedwig Petersen und bald darauf Richard, die Beide nach Frankfurt zur Hochzeit von Ferdinand Petersen reisen wollten. Ich traf Richard zum ersten Mal nach meiner abschlägigen Antwort wieder und freute mich, daß er aller Peinlichkeit ein Ende machte, mir freundlich entgegenkam und die Hand reichte, was ich freundlich erwiederte. Nachdem sie weg waren, zog ich mich an, frühstückte tüchtig und nahm denn noch Abschied von meinem schönen Instrument, deßen volle Töne in Mendelssohnschen Liedern und der Sonate pathétique mich recht erquickten. Dann sagte ich meinem Zimmerchen Lebewohl, in das die Sonne so warm und leuchtend auf das kleine Plätzchen schien, wo unser Liebesleben seinen Anfang nahm, daß ich mich ungern losriß. Der liebe Gott feierte den 3 Mai durch das herrlichste Wetter, hoffentlich in Neapel auch; dann hat Dir die Sonne meine glücklichen Augen zurückgespiegelt, auf die sie hier im Norden herabschien. O glückselig, wer so || lieben kann, wer so geliebt wird! Ich verabschiedete mich von Helene und saß um 12 Uhr mit Heinrich in der Droschke, der mich auf dem Bahnhof Karl übergab. Dort traf ich auch den Prediger Richter, der mir herzliche Grüße für Dich auftrug; ich werde ihn wohl hier noch sehen, da er Ende des Monats in Gustav Adolphs Vereinangelegenheiten hierher kommen will. Unser Coupé bestand fast nur aus Freienwaldern; Ich war die einzige Dame unter lauter Herrn, unter denen uns ein jüngerer Brasilianer höchlichst amüsirte, der bis Falkenberg mitfuhr, wo ein Profeßor Herrig aus Berlin in der ehemaligen Hufelandschen Besitzung ein Institut zur Erziehung überseeischer junger Leute aus allen Welttheilen angelegt hat. Ich hielt ihn anfangs für einen Italiener wegen seiner gelbbraunen Gesichtsfarbe und scharf geschnittenem Gesicht, ein Schicksal, das ihm auf dem Bahnhof von Seiten der Schutzleute auch schon paßirt war. Nachdem ich eine Weile an der lebhaften Unterhaltung Theil genommen hatte, las ich Deinen lieben Brief wieder mit Muße durch und freute mich über die prächtig grünen Saaten am Wege. Nach einer kleinen Stärkung in Neustadt bestiegen wir den Postwagen; glücklicher Weise erhielten Karl und ich die beiden Crabioletplätze [!] neben dem Conducteur. Die Fahrt war herrlich; fortwährend zwischen den blühenden Kirschbäumen auf der Chaussee, von Falkenberg ab links die grünen Wiesen, im Hintergrund die dunkelbewaldeten Berge und über uns der tiefblaue klare Himmel von leichten Zirriwolken durchzogen. Was Wunder, daß ich da ganz in Italien war bei meinem lieben, lieben Erni, mit dem ich im vergangenen Jahr ein paar Monate später die dieselbe Tour zurückgelegt hatte. Ich fand Hermine und die Kinder wohl, obwohl die zweite Brust auch aufgegangen ist. Nachdem ich meine Sachen ausgepackt hatte, machte ich noch mit Karl einen Spaziergang nach bella vista, wo man einen hübschen Blick auf das Bruch hat, den Brunnenweg zurück, wo die Nachtigallen mich auf’s Freundlichste willkommen hießen. || Mein Tageslauf ist hier folgender. Ich weiß nicht, ob ich Dir schon geschrieben habe, daß ich drei Tage in Berlin Molken und Salzbrunn getrunken und 4 Wochen lang fortbrauchen soll, um die letzten Spuren meines Hustens zu vertreiben, auf den Quincke sehr ärgerlich war. Sie bekommen mir sehr gut, ängstige Dich also ja nicht; ich bin frisch und fühle mich ganz wohl. Um 5 oder 5 ½ Uhr stehe ich auf, koche mir meine Molken und trinke sie mit Salzbrunn zusammen; um 6 Uhr bin ich damit fertig, und gehe dann entweder mit Karl oder allein spazieren, was ich in der reizenden Gegend, namentlich jetzt zur Blüthezeit recht gern thue; könntest Du mich nur einmal begleiten, wie viel lustiger würde ich da springen! Dann schmeckt um 7 Uhr der Kaffee mit Hermine, Karl und den Kindern vortrefflich. Letztere sind sehr nett geworden, Annchen, mein klein Pathchen sehr poßierlich, und der Vorzug von Vater und Mutter. Der kleine Heinrich, ein sehr ruhiges, gutes Kind, sieht Karlchen frappant ähnlich; er läßt sich sehr gern von Tante Anna herumtragen und vorerzählen. Nach dem Frühstück lies’t Karlchen etwas bei mir, was schon ganz hübsch geht; dann besorge ich mit Hermine die Wirthschaft, ergötze mich ferner am Heinrich im Bade, wo er einer Eidechse nicht unähnlich ist, und während Hermine ihn stillt, begieße ich die Blumen und mache Frühstück für die Kinder; dann ziehen wir uns Beide an und sitzen bei der Arbeit. Nach Tisch, während Karl und Hermine ruhen, lese ich im Roßmäßler, den ich bald beendet haben werde. Entweder wird vor oder nach dem Kaffee ein Spaziergang in toto Familie gemacht; vor dem Abendbrod treibt Karl unter meiner Anleitung Englisch, nachher lies’t er uns Schleiermacher’s Briefe vor. Um 10 Uhr treibt er uns wie ein zweiter Quincke in’s Bett, wo ich noch lange mit meinen Gedanken beim Erni bin und endlich einschlafe. Mittwoch Morgen wanderte ich noch [xxx]. Nachmittags spazierten wir in den Schloßgarten und ergözten uns an den Nachtigallen. Das frische Grün lacht Einem überall entgegen und stimmt heiter und froh. Donnerstag Morgen spazierte ich auf dem Wege nach dem Fährkrug hinaus und entzückte die Kinder bei meiner Rückkehr durch blühende Weidenstengel, die ich gepflückt hatte. Nachmittags turnte Karlchen zum ersten Mal draußen an der Geschwisterbank; er zog mit strahlendem Gesicht mit Karl um 3 Uhr ab. Gegen 4 Uhr gingen Hermine und ich mit Hermann und Anna, Du kannst denken, in welchem langsamen Schritt nach und amüsirten uns sehr an den Spielen der Knaben, die schicklich 6 [?] kleine Trommler voran, wieder zur Stadt hereinmarschirten. Zu Hause angekommen las ich Hermine Deinen Brief vor, der Abend verging wie gewöhnlich. Gestern Morgen erkletterte ich mit Karl den kahlen Berg und genoß bei großer Klarheit eine schöne Rundsicht auf das Bruch und die bewaldeten Höhenpartien mit der entgegengesetzten Seite. Die Buchen färben sich auch schon etwas grün, und außer den Eichen prangt Alles im grünen Schmuck. Nachmittags um 3 Uhr wanderten wir Alle außer Annachen nach dem Fährkrug, wo wir mit zwei Familien Kathens, deren Bruder aus Halle auch hier war, einer Familie Berennig [?], deren Schwager und Ziethens, einer Münsteranerin, mit der ich mich dutze, zusammen Kaffee tranken. Auf dem Heimweg brannte die Sonne so heiß, daß mir mein kleines Mäntelchen zu warm wurde und auf dem Rückweg freute ich mich sehr über den hübschen Blick auf Freienwalde und die einzelnen hübsch geformten Berggruppen, die sich rechts an dasselbe anlehnen. Heute Morgen bin ich allein über den Ruinenberg nach dem Akazienberg gewandert immer zwischen blühenden Weißdornhecken, von denen ich mir kleine Zweige sowie verschiedene niedliche Frühlingsblumen mitheimbrachte, darunter auch Anemonen, die vielleicht das Drittel der Römischen Blumen groß sind. Ich eile sehr, damit der Brief noch fortkann; mehr konnte ich nicht schreiben wegen der Einlage von Tante Bertha. Ade, lieb Herz, Karl und Hermine grüßen herzlich.

Einen innigen Kuß von Deiner Aenni. ||

[Beischrift von Bertha Sethe]

Berlin 2/5 59.

Warum sollte ich es Dir verhehlen, daß ich lange geschwankt habe, ob ich Dir schreiben sollte oder nicht, doch kann ich nicht an meiner Weise lassen, und möchte es auch nicht. Ebenso wenig kann ich es Dir auch nicht verhehlen, daß es mich schon diesen ganzen Winter, noch mehr aber jetzt nach Deiner Abreise a schmerzlich bangt, gar in der tiefsten Seele geschmerzt hat, daß ich es sehr wohl durchgefühlt habe, daß Du nicht mehr der Alte in Beziehung zu mir bist. Anna hat mir darüber jetzt einen Aufschluß gegeben, und ich will keinen Anstand nehmen, mein Unrecht zu bekennen, wenn ich es auch durch Vieles in ein milderes Licht Dir stellen könnte, aber das will ich nicht, denn ich habe doch immer nicht recht gehandelt; aber das kann ich Dir nicht verschweigen, daß es mir unendlich schwer ist, daß Du so lange einen Groll im Herzen gegen mich gehabt hast, ohne Dich mir auszusprechen, noch mehr aber daß Du so abweisen konntest. Auch das mußte ich Dir sagen, nun ist es genug. – Ich beanspruche ja nicht, daß irgend etwas in der Welt wahr ist, von dem was das Lebens uns bietet, sondern weiß nur zu gut, daß Alles, was in dieser Weise mir geboten wird, oder auch was ich mir erwerbe, nur eine Blume am Wege ist, die uns erquickt und auch innerlich erfreut und beglückt; ist es nun nicht einer einsamen Seele, die b außer dem Leben steht, das für sie ja eigentlich nur Entbehrungen und Entsagungen aller Art hat, ist es einer solchen zu verdenken, || wenn sie so lange wie möglich möchte die Blume blühen und gewachsen sehen; sich an ihrer Schöne und ihrem Duft erquicken möchte? – Ach Ihr wißt es nicht, was es heißt, einsam und allein ein wärmelos Dasein zu leben! – Doch nun genug davon, so todt bin ich auch nicht in mir, daß ich nicht mit einigen warmen Gefühlen bei Dir wär, Dich mit einem Gedanken verfolgte unnd auch all das Schöne und Köstliche kennte, was Dir das Leben bietet; daß ich nicht aus tiefstem Herzensgrunde es wünschen sollte, daß Dich eben diese Eindrücke all des Herrlichen und Schönen, was Natur und Kunst, was Dir in Deinem Berufe wird, nicht immer mehr veredeln sollten, Dich immer tüchtiger und empfänglicher machen, aus dem heraus, was sie in Dir gewirkt haben, Herrliches und Schönes zu schaffen und zu geben. Wie Dir im Vollgefühl der Gaben und Kräfte, die Dir verliehen, unnd die jetzt in Dir zum Wirken entfalten sollen, auch das hohe und köstliche Gut zu Theil geworden, in inniger Liebe eins zu sein mit einer Seele, c die mit Dir lebt, unnd in Dir, unnd Du in ihr, so denke ich immer, beides muß Dich mächtig fördern, und beides muß sich ergänzen zu einem Ganzen im edelsten Sinne. – Und so möge Dir denn Gottes Segen mehr sein, Dir und Deiner Anna, auf daß Ihr immermehr auch in Ihm verbunden werdet, wie Ihr es auch schon seid, wenn es Dir auch jetzt noch nicht zum Bewußtsein geworden ist: Wo Leben ist, da ist Geist, wo Geist ist, ist Gott, wo Gott ist, ist die Liebe, in der auch ich bin und bleibe

Deine alte Bertha.

a gestr.: schmezlich; b gestr.: drauß; c gestr.: in dem Bew

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
07.05.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Neapel
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34449
ID
34449