Anna Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 17. – 19. April 1859

Sonntag 17.4.59.

In sonntaglicher Frühe, mein lieber, lieber Erni, liegt eine Ruhe, ein Frieden, eine gemüthliche Stille, wie geschaffen, um den fernen Schatz zu grüßen, um ihm zu sagen, wie glücklich seine Aenni daheim ist, wenn sie sich so ganz ungestört mit ihrem Liebsten beschäftigen, ihren Gedanken eine südliche Richtung geben kann, aus der sie gar nicht wieder heraus wollen. Warum sollten sie auch, finden sie dort doch Wiederklang, werden sie dort doch verstanden, so nüchtern sie auch oft sind. Gestern Abend wäre ich gar gern ein ½ Stündchen zu Dir geflogen; das muß eine herrliche Nacht am Golf von Neapel gewesen sein; der klare Vollmond, von phantastischen Wolken umgeben, schien in mein klein Zimmerchen so lockend und doch so schwermüthig hinein, daß meiner Phantasie ein weites Feld geöffnet wurde. Ich sah den rauchenden Vulkan, die prächtigen Inseln, das tiefblaue Meer, Alles in die schönen sanften, blau-lila Tinten getaucht, wie ich sie nur von Bildern kenne; inmitten dieser Herrlichkeiten, Angesichts alter marmornera Palläste, auf denen der Mond wunderbare Figuren malte, fand ich mich an Deinem Arm, in Deiner seligen Nähe, und wie ich Dir eben meine unaussprechliche Wonne zuflüstern wollte, kommt Helene hinein, um mit mir, Mutter, die Nachmittags angekommen war, und Heinrich 1 Stündchen zu Tante Bertha zu gehen – mein Luftschloß fiel in Trümmer; ich war wieder im kalten Norden, der heute Abend wieder ganz winterliches Aussehen hatte. Ich brenne nach einem Brief von Dir, um zu hören wie Du Dich bei der Arbeit behagst, ob Du reichlich Material erhältst und Interessantes in dem Leben des Meeres findest; heute, wie Sonntags überhaupt vermuthe ich Dich auf einem schönen Ausflug in die herrlichen Umgebungen Neapels, von denen Du schon im letzten Brief die lockendste Schilderung machtest; ich denke in der Woche wird auch mal ein recht schöner Tag ausfallen, wo Dein Auge sich von dem beständigen Mikroskopiren erholt und sich an der Natur erfreut. Mir sind die acht Tage in langweiliger Beschäftigung so hingegangen; zum Lesen bin ich leider noch gar nicht gekommen, doch habe ich am Freitag einen großen Genuß gehabt. Schon seit längerer Zeit spielt hier am || Friedrich Wilhelmstädtischen Theater eine englische Truppe, die in den Zeitungen sehr gerühmt wurde. Ich hatte an dem genannten Tage Gelegenheit, dies Urtheil bestätigen zu können, denn ihr Chef: Mr. Phelps gab den King Lear so vortrefflich, wie ich es nicht für möglich gehalten hatte. Er führte den durch die Undankbarkeit, unnatürliche Rohheit und Gefühllosigkeit seiner beiden Töchter bis zum Wahnsinn gebrachten alten Mann meisterhaft durch und outrirte, noch carrikirte er die Rolle, was gewiß sehr leicht statt finden kann. Auch die übrigen Rollen, wie das grausige Stück es verlangt, waren sehr gut besetzt; namentlich freute ich mich über die langsame, deutliche Aussprache der Herren sowohl als Damen, eine Eigenschaft, die man den Engländern außer der Bühne nicht nachsagen kann, und mich so glücklich machte, Wort für Wort zu verstehen und dem Gang des Stücks ungehindert folgen konnte. Das Spiel der Engländer ist darin wesentlich von dem der unserigen verschieden, daß sie mit wenigen Ausnahmen fast nie zum Publikum, sondern immer unter sich spielen, wodurch das Ganze etwas Ungezwungeneres und Natürlicheres erhält, aber in Fällen dem Zuschauer in bedeutenden Scenen das Mienenspiel entgeht, weil der Schauspieler ihm den Rücken zuwendet. Sehr befriedigt kehrte ich heim, mit dem Vorsatz, in Zukunft wieder mehr Englisch zu treiben, was ich im letzten Jahre gar nicht gethan habe; so viel Zeit wird sich schon erübrigen lassen. Erinnerst Du Dich des Tages heute vor einem Jahre, des Sonnabends, an dem wir Beide mit Tante Gertrud und dem Holländer das Zeughaus besahen, des reizenden Diners nachher, wo es uns herrlich in Euerem Esszimmer mundete und wir entschieden schon große Freude und Wohlgefallen aneinander hatten. Mit diesem Tage beginnt in der Erinnerung eine Kette von reichen, lieben Bildern, an denen ich jetzt in der Trennung von Dir zehre. Du gingst dann bald nach Freienwalde, der Tod Deines verehrten Johannes Müller rief Dich wieder her, Du hattest einen Freund, einen Heroen der Wissenschaft verloren; ich sah Dich an jenem Sonnabend dem 1 Mai im tiefsten Schmerz und fühlte mit Dir, nicht ahnend, daß sobald am 3 Mai ich Dir Ersatz, Trost, wenigstens einigermaßen für Deinen Verlust || werden sollte. Am Sonntage darauf aßen wir bei Euch, und Nachmittag suchten wir Veilchen im Reimerschen Garten (Du fandest nur für mich, Marie Bleek wurde übersehen); das weißt Du aber nicht, daß ich zu Haus den lieben kleinen herzigen Dingern aus Deiner Hand einen Kuß aufgedrückt und sie auf meinem Tisch mir unaufhörlich Dein liebes Gesicht, Deine gute Seele in’s Gedächtniß haben rufen lassen; den Gedanken, Dich jemals ganz besitzen zu sollen, wagte ich kaum zu denken, so herrlich erschien er mir, so unwürdig, so wenig ich Dir gewachsen. Es sollte anders kommen. Am nächsten Tage flossen die mächtigen Gefühle über; der Vulkan erhielt einen Riß (durch die schwungvoll, schönen, schnellen, die leichten und lichten Wellen) herausströmte die Gluth zweier warmen Seelen, und hat seitdem einen guten, üppigen Boden bereitet, auf dem Blumen und Früchte zu seiner Zeit gewiß nicht ausbleiben werden. Mein herziger Schatz, wie liebe ich Dich und wie schätze ich Dich! Ich bin die Glücklichste auf Erden, glücklicher, als ich mir je geträumt hätte, gewisser einer seligen Zukunft, als es der Mensch sein sollte. So spreche ich nach einem Jahre in Deinem Besitze, so werde ich am Ende meiner Tage sprechen; mag Gott mir schicken, was es sei! Jetzt gehe ich zur Kirche, um nach langer Zeit eine Predigt von Sydow zu hören, die mir immer viel Stoff zur inneren (Gemüths) Entwickelung giebt. Einen Kuß noch und ein andermal mehr.

Nachmittag. Ich bin nicht getäuscht worden in meinen Erwartungen; ich habe eine vortreffliche Predigt gehört, von der ich Dir doch nichts erzählen darf. Aber was ist das sonst für ein Palmsonntag! Schnee, Regen und Hagel eiferten bei unserem Hinausgehen aus der Kirche um die Wette, vom Winde gepeitscht, so daß Ottilie und ich kaum den Schirm regieren konnten; der Alte lief schimpfend vor uns her. Ich wartete bei Euch das Unwetter ab, ging dann noch zu Schellers herein, die neben dem Prinz Friedrich wohnen und bekam auf dem Rückweg ein ähnliches Unwetter. Mittag aßen Jacobis bei uns und jetzt schläft Mutter und Helene, während ich bei Dir in meinem Zimmerchen bin, das Dich herzlich grüßen läßt und Dich gar zu gern wiedersehen möchte. Nun muß ich bis heute vor acht Tagen zurückgehen und Dir von meinem Leben erzählen. Nach Beendigung Deines Briefes ging ich || zu Jacobis, nachdem ich vergebens auf dem Bahnhof gewesen war, den Brief an Dich zu expediren, dann ging ich zu Deinen Eltern, wo ich mit Heinrich und Martens zusammen aß. Ich traf mit Letzterem an der Klingel zusammen, hätte ihn aber kaum wiedererkannt, so stattlich sah er in seinem großen Barte aus. Wie viel da von Dir geplaudert worden ist, kannst Du Dir denken; sehr freue ich mich, Dir mittheilen zu können, daß ich vor ein paar Tagen Martens Anstellung zum II Lector an der Universität hier in der Zeitung gelesen habe, woran Du gewiß großen Antheil nimmst. Noch am Sonntag Abend, wo er und Heinrich zum Thee wiedererschienen, sagte er, daß er nur wenige seiner Sachen hier habe und sich die übrigen erst kommen lassen werde, wenn sein Aufenthalt hier zu einem bleibenden würde, was jetzt wohl außer allem Zweifel ist. Er brachte Abends eine große Photographie mit vom Forum in Rom, ganz dieselbe Ansicht, wie ich sie unter den kleinen von Dir bekommen habe; ich mußte ihm auf der Karte Deine intentionirte Reiseroute in’s Gebirge zeigen, die Du leider nicht hast ausführen können, was mir wieder doppelt leid that, da Martens mir die großen Reize der einzelnen Orte, namentlich des Nemisees schilderte, die nun böhmische Dörfer für Dich geblieben sind. Er erzählte mir auch von Brauns, die jetzt Alle gesund sind und vor 14 Tagen den kleinen Sprößling getauft haben. Zwischen dem Kaffee und Thee spielten Ottilie und ich etwas Klavier und brachten dann den Brief an Dich auf den Bahnhof, der nun hoffentlich längst in Deinen Händen ist. Ich fand Deine Mutter noch angegriffen aussehend, doch ihre Stimmung gut, die anfangs sehr gedrückt gewesen sein soll. Der gute Alte ist unverändert jugendlich frisch und plaudert gern mit mir über Dich und Dein Leben. Gegen 11 kehrten wir wieder nach Haus. Montag Nachmittag war ich ein paar Stunden bei Tante Bertha, die sehr herzlich zu mir war und sich von mir die beiden letzten Briefe aus Rom vorlesen ließ, die sie wie Alle, die sie hören, sehr interessirten. Doch kann ich nicht läugnen, daß immer Etwas zwischen uns Beiden || steht, was mir den Verkehr hemmt; ich suche es zeitweise zu vergessen, allein ich fühle zu sehr durch, sie hat kein recht warmes Gefühl für mich, und da sie in meinen Augen viel Vertrauen eingebüßt hat, wozu ich, wie du weißt, alle Ursache habe, ist die frühere Innigkeit unseres Verhältnisses dahin, was mir sehr leid ist, denn ich habe sie wirklich sehr lieb, dank ihr viel und schätze sie in vieler Beziehung sehr hoch, wenn auch nicht in allen Dingen, wie die Meisten es thun. Es ist entschieden eine traurige Erfahrung, die ich gemacht habe, und die nicht unmerklich an mir vorübergegangen ist; ich glaubte fest und sicher auf sie bauen zu können und habe mich sehr in ihr geirrt; Erni, vielleicht bist Du, liebe Seele daran schuld; ich bin verwöhnt durch Deine reine, edle, wahre, offene echt menschliche Seele und lege nach ihr vielleicht meinen Maßstab bei allen anderen Menschen an; das hat auch sein Gutes, denn hierin liegt der Grund, daß ich Dich so unbegrenzt, so ausschließlich liebe, was so neu und so schön für mich ist; mir ist immer, als datirt meine Entwickelung erst seit meiner Verlobung mit Dir und doch hätte sie dem Alter nach früher fallen müssen, hüte mir Deine Blume (wenn ich eine bin) und pflege sie, so wird sie nie welken! – und Dir Freude machen (?). Gute Nacht, mein lieber Schatz, leider, leider, denn es ist erst 9½ Uhr; der grausame Quincke hat mir aber heute die Penitenz auferlegt, so früh zu Bett zu gehen (die härteste Strafe für mich) um mit Hülfe von Selterwasser und Milch einen Husten fortzuschaffen, den ich mir aus Steinspring mitgebracht habe. Ängstige Dich aber nicht, ich bin frisch und guter Dinge und huste so lächerlich wenig, daß Jedermann mich auslacht wegen meines Krankseins, von dem ich am allerwenigsten etwas wissen will. Quincke hat sich nun einmal in den Kopf gesetzt, ich wäre so mager und blaß geworden, daß er mich gar nicht mehr sehen könnte; ich bin aber ganz, wie Du mich kennst, und könnte nicht behaupten, daß ich jemals stärker gewesen wäre.

Montag Morgen. Schönen guten Morgen, mein Lieb, siehst Du, ich bin belohnt worden für mein frühes Zubettgehen; natürlich schlief ich erst nach 12 Uhr ein; der Mond, der voll und klar in’s Fenster schien, machte den Vermittler zwischen Dir und mir, eine prächtige Gedankenbrücke und hat mich nachher im Schlaf so süß, süß träumen lassen, nur von Dir, und immer wieder von Dir, daß ich böse war, als ich 5½ Uhr aufwachte, der Faden gerissen war; nun setze ich mich gleich wieder mit Dir plaudern. Also weiter im Lebenslauf. Montag Mittag aßen Heinrich und ich bei Jacobis sehr spät, denn er und August waren in der Kammer gewesen, um einer etwas hitzigen Berathung über das Ehegesetz beizuwohnen (für Damen leider un-||zugänglich) das nun von der II Kammer angenommen ist; was es für ein Schicksal in der I hat, ist mir unklar, ich fürchte, sie verwerfen es gänzlich, was beklagenswerth genug wäre. Jacobis gingen Abends in das Theater; ich zu Haus, um Deinen lieben, lieben Brief abzuschreiben, den ich gegen Mittag, im Begriff zu Jacobis zu gehen, von Deinen Eltern zugeschickt erhielt, ich war sehr froh, Dich in einer Wohnung an der Santa Lucia zu wissen und sehe seitdem oft bei Dir durch die offene Thür in die herrliche Natur hinaus. Dann spielte ich noch etwas Klavier, die schöne Sonate pathétique und ging schlafen. Dienstag Morgen wollte ich eigentlich Besorgungen machen, allein, es regnete zu stark, so daß ich um 3 Uhr zu Schellers zu Mittag ging, vorher Deinen Alten guten Tag sagte. Onkel Scheller kam wieder sehr spät aus der Kammer, wo es wieder heiß hergegangen war. Nach dem Essen mußte ich auf dringendes Bitten aus Deinen Briefen, namentlich aus Rom vorlesen, was ich bei den gespannten Zuhörern sehr gern that; gegen Abend hörte auch noch eine Freundinn [!] von Emilie, Bertha von Berneck mit zu, mit der wir in früheren Jahren in Frankfurt auch sehr viel verkehrt haben. Bei völliger Dunkelheit hatte ich sie erst nach Neapel versetzt; ich brach auf, um den Abend bei Jacobis zuzubringen, wo wir uns nach dem Thee mit Dominospiel amüsirten. Helene grüßt Dich herzlich, ebenso Schellers, Mutter, Heinrich usf. Mittwoch schrieb ich erst früh Deinen Brief fertig ab, (der vorletzte Brief war auch noch nicht abgeschrieben) dann lief ich von 10–2 Uhr in der Stadt umher, aß dann bei Deinen Eltern zu Mittag, die sehr munter waren, zu Deiner Mutter großen Freude erholte ich mich durch ein kleines Schläfchen nach Tisch, wobei ich süße Erinnerungen, trübe für die Gegenwart, feierte. Zum Kaffee erschien die Schwester der Frau Giesel, um mit Ottilie zusammen in der Garnisonkirche den Samson zu hören; ich schrieb nach ihrem Fortgang noch einen Brief an Mutter, brachte für Deine Mutter Geld auf den Bahnhof und verlebte den Abend in meinem lieben Zimmerchen bei eifriger Arbeit, die noch zur Wäsche am Donnerstag und Freitag fertig werden sollte. Donnerstag Morgen hing ich meine Aquarelle über dem Schreibtischchen auf; das prächtige Salzburg dicht darüber, in einiger Entfernung Dein erstes Sepiaaquarell, (das hohe Format) das ich sehr gern mag, an beiden Seiten von den Rankengewächsen beschattet. Sonst ist mein Zimmer ganz, wie Du es kennst, grün und lieb, zu Deinem Empfange bereit. Der Sommer wird recht unruhig werden; bald || nach Ostern geht Mutter zu Bertha nach Steinspring, nachher muß sie in ein Bad, wahrscheinlich Wiesbaden und zu den Verwandten nach Westphalen. Da sie mich nicht mitnimmt, werde ich mich wohl abwechselnd hier und in Freienwalde aufhalten. Donnerstag Nachmittag besuchte mich Helene auf ein paar Stunden, sonst war ich den ganzen Tag allein mit meinen südlichen Gedanken. Freitag hattest Du leider recht schlechtes Wetter zum Trocknen bestellt, so daß ich von den Waschfrauen Vorwürfe über meinen ungetreuen, veränderlichen Bräutigam zu hören bekam (ein alter Aberglaube unter dieser Klasse Menschen; ihr zartes Sprichwort heißt: „je blauer der Himmel, je treuer der Lümmel“). Nachmittag besuchte mich Dein Alter, erzählte mir von der Taufe bei Quinckes die er am Abend vorher mitgemacht hatte. Der Junge ist Wolfgang getauft worden; ich bin neugierig, ob sie einen Goethe oder Mozart daran erziehen wollen; und brachte mir die Nachricht, daß Tante Lotte denselben Abend wieder Blutegel im Rücken setzen sollte. Er und Ottilie gingen Abends in den Freischütz, ich mit Helene nach dem Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater, wo ich eine ausgezeichnete Aufführung des King Lear sah. Dabei fällt mir ein, bist Du in Rom nicht einmal im Theater gewesen? Du schreibst gar nichts davon. Es soll, glaube ich, nicht sehr gut sein, ich dächte einen Eindruck hättest Du aber auch davon mitnehmen müssen. Ich bin sehr begierig zu hören, welche Thierchen Du jetzt hauptsächlich vornimmst und werde mit großem Interesse Deinen Arbeiten und Forschungen folgen mit den freilich schwachen Hilfsmitteln, die Du mir dazu an die Hand gegeben hast. Ein paar Seiten im Roßmäßler habe ich seit meiner Rückkehr gelesen, das ist außer der Zeitung Alles; sobald sich Zeit findet, will ich ihn con amore durchlesen und dann an das von mir zurückgesetzte Mittelalter gehen. Es ist 9 Uhr vorüber; da habe ich heute vergebens auf einen Brief gehofft; acht Tage sind seit dem letzten verfloßen, länger mußt Du mich nicht warten lassen, lieber Schatz. Sonnabend habe ich [in] meinen lieben Herbarien geschwelgt, Alles, was sich losgelös’t hatte angeklebt, die römischen Blumen alle zusammen auf einem Bogen arrangirt; eine prächtige Beschäftigung und reiches Feld für die Erinnerung. Ich glaube Deine Reise ist eine gute Uebung für mein schwaches Gedächntiß; ich habe Alles aus Deinen Briefen behalten, was Deine Alten schon vielfach vergessen hatten und darum || komischer Weise mir Vorenthaltung von Briefen vorhielten, woran ich ganz unschuldig bin. Ich hatte einen Zeugen in Martens, der die Briefe gelesen hat und sich einzelner Daten und Facta erinnerte. Die Ansichten und Blumen haben dem Alten auch sehr gefallen. Ich erhielt Sonnabend Morgen einen Brief von Mutter, wonach sie am Nachmittag wieder hier eintreffen wollte. Ich konnte also meinen Plan, nach dem Essen von Euch aus mit Deinen Briefen zur Weiß zu gehen und ihr daraus vorzulesen nicht ausführen, was ich gern gethan hätte, und hoffentlich bald ausführe. Dann war ich noch ein Stündchen bei Tante Bertha, wo ich durch allerlei Besprechen, namentlich der Bleekschen Verhältnisse, nicht zum Vorlesen Deines Tagebuchs kam, was wir verabredet hatten. Es war greuliches Aprillwetter; ich wartete eine sonnige, heitere Laune des Himmels ab und brachte diese mit zu Deinen Alten; ich fand Deine Mutter entschieden besser nach den Blutegeln, nach deren Wirksamkeit ihr Gesicht aussah. Beim Essen wurde bei Schinkenflick und Schnepfen, die Adolph Schubert geschickt hatte, lebhaft Deiner gedacht. Ich trank noch mit Kaffee, machte eine Besorgung in der Stadt und eilte dann zu Haus, wo ich Helene mit den Kindern schon vorfand, um Mutter zu empfangen. Sie ließ noch ein Weilchen auf sich warten, dann erschien sie. Sie brachte leidlich gute Nachrichten mit aus Freienwalde, so daß sie Hermine hat verlassen können; sie kann nicht genug von dem jüngsten Sprößling, dem Prachtkinde „Heinrich“ erzählen. Mutter selbst sieht sehr angegriffen aus, hustet viel und fühlt bei jedem Anstoß wieder den heftigen Schmerz und Druck in der Stirn, was mich ein wenig ängstigt und helfen kann man ihr gar nicht. Sie medicinirt jetzt; ich hoffe Wiesbaden wäscht Alles ab, worin Du mir freilich nicht beistimmen wirst. Wir tranken früh Thee und gingen dann noch Alle auf eine Stunde zu Tante Bertha herüber, wo Familien-Wohl und Wehe durchgesprochen wurde. Zu Haus packte ich noch Mutters Sachen aus und ging dann zur Ruhe, nachdem ich noch an meinem Fenster den Mond, der wunderbar klar schien, die innigsten Grüße nach Neapel aufgetragen und lange träumerisch in die glühenden Feuer geblickt hatte. Tempo passato! Ich bin recht dankbar, daß wir vor der langen Trennung noch so lange und viel zusammen gewesen sind; wir haben manche köstliche Stunde verlebt, an die ich mich jetzt anklammere und immer neue Hoffnung und Muth schöpfe. ||

Dienstag, 19.4.59.

Schon wieder geht die Uhr auf 10 und wieder habe ich vergebens einen Brief erwartet; das ist grausam. Ich werde nun diesen abschicken, um Dich nicht in ähnliche Lage zu versetzen. Da Quincke mir neben allen Quälereien auch noch Hausarrest auferlegt hat, kann ich jetzt nicht Deine Eltern besuchen. Auch nach dem Museum habe ich schon lange große Sehnsucht, ein Vergnügen, das man sich jetzt noch eher, wie früher erlauben kann, weil kein Entrée mehr genommen wird, ein Fortschritt zur Bildung des Volkes, den wir der Frau von Adolph Stahr: Fanny Lewald zu danken haben. Gestern Morgen war Tante Emma Scheller ein paar Stunden hier und erzählte mir von einer schönen Bachschen Passion, die sie am Abend vorher gehört hatten. Nachmittag fuhr Mutter in die Stadt wegen einer Besorgung, dann zu Deinen Eltern, wo sie Abends blieb. Unterdeß spielte ich Klavier und las im Roßmäßler; gegen 6 Uhr besuchte mich der gute Alte, sprach viel von seinem Plan, im Sommer ein paar Wochen nach Hirschberg zu gehen, obgleich Quincke Deiner Mutter wohl Warmbrunn verordnen werde, wovon sie natürlich nichts wissen will. Als sie eben fort war, kam Ottilie Lampert, die mir recht gefällt. Sie ist einfaches, liebes Gemüth und warmes Herz für geistige Interessen. Ich behielt sie bei mir; mein Zimmerchen gefiel ihr sehr; sie mußte die römischen Blumen und die Farrenkräuter bewundern; die anderen Schätze kennt sie auch alle noch nicht; dann haben wir eifrig quatre-main gespielt, wobei sie mir aber ganz fremd an meiner Seite vorkam. Die Sachen klingen ganz anders, wie vor ein paar Monaten; worin mag das liegen? Aus Klavierstunden wird bei diesem unsteten Leben, das ich in nächster Zukunft führen werde, auch nichts werden; ich werde daher fleißig selbst üben und mich allein fortzuhelfen suchen. Dieb Sonne scheint nach langer Entbehrung wieder so warm in mein Zimmer, daß diec Versuchung groß ist, heraus zu eilen, wenn nur der Tyrann, der Quincke nicht wäred. Von Karl hatte ich gestern einen Brief, worin er sehr glücklich über seine Photographie schreibt, die er sich von hier mitgenommen hat auf der Rückreise nache Freienwalde. Anfang Mai muß er in Ruppin eine Landwehrübung mitmachen; kommtf es zum Kriege, was mir unausweichlich scheint, müssen beide Brüder mit; wenn nur die Reserve zurückbleiben könnte, mein lieber, lieber Erni! Das wäre eine noch schrecklichere Trennung und außerdem eine häßliche Störung in Deinen Studien, die freilich Keinem ausbleiben. Heute Morgen habe ich im Roßmäßler gelesen, den ich wirklich jetzt besser verstehe, als wie Du ihn mir vorlas’st; meine Gedanken waren damals nicht bei der Sache, sondern nur bei Dir. Ich muß leider abbrechen, weil Bertha Pine eben kommt, um ein paar Stunden hier zu bleiben. Außerdem geht Heinrich gleich fort, der mir den Brief besorgen will. Deine Eltern, Mutter, Heinrich grüßen herzlich. Einen innigen Gruß und Kuß von Deiner glücklichen Aenni.

[Adresse]

Al Signore Dottore Ernesto Haeckel

Prussiano

franco fin a Napoli.

Napoli (Italia).

S. Lucia 21 II piano in casa di Filippi.

via Marseille.

[Absender]

Absender: Anna Sethe – Berlin (Preussen).

Hafenplatz 4.

a korr. aus: marmorener; b Brief beschnitten, Wort sinngemäß ergänzt; c Brief beschnitten, Wort sinngemäß ergänzt; d Brief beschnitten, Wort sinngemäß ergänzt; e Brief beschnitten, Wort sinngemäß ergänzt; f Brief beschnitten, Wort sinngemäß ergänzt

Brief Metadaten

ID
34446
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen
Zielort
Zielland
Italien
Datierung
19.04.1859
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
9
Umfang Blätter
5
Format
14,1 x 22,2 cm; 22,0 x 28,0
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34446
Zitiervorlage
Sethe, Anna an Haeckel, Ernst; Berlin; 19.04.1859; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_34446