Anna Sethe an Ernst Haeckel, Steinspring, 20. – 26. März 1859

Steinspring 20.3.59.

Du hast mir einen qualvollen Abend und Nacht bereitet, mein lieber, lieber Schatz – und doch nicht Du, sondern die Zeitung der Tante Voß. Ich hatte den ganzen Nachmittag bis 8 Uhr Abends Wäsche gelegt, die beim herrlichsten Sonnenschein getrocknet war, da nahm ich die neuste Zeitung zur Hand, nachdem ich lange, lange den herrlichen Vollmond angesehen hatte und lese in der Spalte Italien die Nachricht, daß zwei italienische Meilen von Rom vor der Porta Maggiore in der Campagna die Leiche eines jungen Mannes gefunden sei, der beraubt und dann ermordet worden sei, dem Anschein nach ein Engländer, doch sei das Gesicht von zwei Schüßen ganz unkenntlich geworden. Mein erster Gedanke warst Du und ich malte mir die ganze Furchtbarkeit desselben in den grellsten Farben aus. Ach eine liebende Seele ist nur zu geneigt im Verein mit einer lebhaften Phantasie schlimme, ängstliche Nachrichten auf den geliebten Gegenstand zu beziehen, mag Grund dazu vorhanden sein oder nicht. Ich glaubte mich entschieden im ersteren Fall zu befinden, Du hattest im letzten Brief geschrieben von Ausflügen in’s Gebirge, und hatte ich auch gehofft, Du würdest sie in Gesellschaft machen einmal des größeren Genußes, andrerseits eben der unsicheren Gegend wegen, so kenne ich Deine Paßion, Dein sicheres Gefühl, allein zu wandern nur zu gut, um den Gedanken, Dich könnte das entsetzliche Schicksal getroffen haben, ganz los zu werden. Um 8½ Uhr kam Bernhard von der Schnepfenjagd mit einem Forstkandidaten und deßen Freund, einem Lieutenant aus Friedeberg zurück; ich mußte mich zusammennehmen beim Abendbrod und war wirklich Deine starke Aenni; allein in meiner Brust kochte es und nachdem die Herrn fortgeritten waren, merkten mir Bernhard und Bertha meine Unruhe an und beruhigten mich auf die liebevollste Weise über meine grundlosen Befürchtungen. Beide, sehr müde, gingen bald schlafen, ich blieb noch bis 11 Uhr auf, konnte mich von Deinem Bildchen nicht trennen, das mich so freundlich, so lebensvoll und warm ansah, daß ich auf Momente die Angst los wurde; dann schaute ich wieder den herrlichen silbernen Mond an und ahnte wieder nichts gutes!; er sah so traurig, so melancholisch aus; meine thränenvollen Blicke mögen schuld an diesem Eindruck gewesen sein; ich ging zu Bett und war allein mit meiner entsetzlichen Angst, die mir den Kopf schwindeln machte; ach Erni, ich war so unglücklich, so tief betrübt, daß ich keines freundlichen Gedankens an Dich mehr fähig war; endlich fand ich Trost im Gebet; Gott deßen Schutz ich || Dich alle Abende empfohlen hatte, flehte ich von Neuem an, daß nicht Du es gewesen sein mögest und allmählich erwachte mein festes Vertrauen auf ihn, das in den letzten Stunden nur zu sehr geschwankt hatte. Ich habe ein paar Stunden geschlafen, kann aber immer noch nicht, trotz des herrlichsten Sonnenscheins den furchtbaren Gedanken los werden. O, wie sehne ich mich nach einem Brief, ach und möchte er vom 10 datirt sein, sonst werde ich immer nicht froh sein können, denn am 9 ist das Unglück paßirt. Schelt mich nicht, mein Herzensschatz wegen meiner Aengstlichkeit; in Kleinigkeiten bin ich es ja nicht, und unsere, meine Liebe, meine grenzenlose Liebe, zu Dir darf ich als Entschuldigung dieser, meiner Schwäche anführen. Vielleicht hätte ich Dir gar nichts davon schreiben sollen, um Dir nicht wehe zu thun, mir ist aber um so viel leichter um’s Herz, seit ich mit Dir darüber gesprochen habe, daß Du mir verzeihen mußt. Wie viel Energie, fester Willea und schnelles Handeln gehört zu einem festen Charakter, und wie gering, wie unbedeutend braucht nur eine Veranlaßung zu sein, um den Menschen in den entgegengesetzten Fehler, in Muthlosigkeit, Mangel an Vertrauen, Unentschloßenheit und Angst zu verfallenb. Mein Erni, ich laße die Hoffnung nicht sinken und warte in Geduld, was die nächsten Tage bringen werden, Gott gebe gute, sichere Nachrichten!

Donnerstag Morgen Vier Tage sind seit diesen letzten Zeilen zergangen, und ich bin viel ruhiger geworden, mein Erni. Wäsche legen und Plätten ließen mich in den vorigen Tagen nicht zum Schreiben kommen, was sehr gut ist, sonst hätte ich Dir nur dummes, ängstliches Zeug geschrieben, wogegen ich jetzt in Ruhe mit Dir plaudern kann. Wärst Du wirklich der betreffende Unglückliche gewesen, müßte doch schon lange Nachricht davon hier sein und allmählich habe ich es mir als ein gutes Omen eingeredet, daß noch kein Brief von Dir einpaßirtc ist, den ich heute bestimmt erwarte. Ach Erni, Du glaubst nicht, wie ich an Dir hänge, was ich durch Dich verlieren würde; kraftlos und matt würde ich den Schwächen meines Geschlechts unterliegen, und wenn durch festes Gottvertrauen auch der Verzweiflung fern, so würde ich abschließen mit dem Leben und mich ganz in meine unnütze, kalte, einsame Persönlichkeit zurückziehen. O bitte, bitte, lieber Erni, geh nicht allein auf unsicheren Wegen; Du hast ja || das Volk der Italiener genügsam kennen gelernt, um zu wißen, wie wenig sicher und behaglich man bei ihnen aufgehoben ist. Nimm Dir immer einen Führer mit und mache wo möglich Deine Wanderungen in Gesellschaft. Wenn Du diese Zeilen erhältst, bist Du vermutlich schon in Neapel und Deiner deutschen Gesellschaft entrückt, in deren Kreise Du Dich in Rom so wohl gefühlt hast. Kommt Frau Blöst bald wieder nach Haus, so hast Du ja bald wieder einen Anhalt in Neapel. Ich verspreche Dir, ich will mich nicht wieder so ängstigen und doch wünschte ich, Du wärst wieder vom Vesuv herunter. Heute vor acht Tagen habe ich den letzten Brief an Dich selbst auf dem Bahnhof in Driesen in den Kasten gesteckt. Ich fuhr mit Bernhard mehrerer Besorgungen wegen nach der Stadt und blieb dann beim Oberförster Langefeld in Vordamm, wo von den untereinander bekannten Familien ein Picknick arrangirt war, was eigentlich schon Fastnacht hatte stattfinden sollen; da wurden aber Mehrere krank und wir Drei feierten allein zu Haus Fastnacht mit Punsch und sehr schönem Schmalzgebackenes [!] das ich selber bereitet hatte. Auf dem Wege von Driesen nach Vordamm paßirten wir einen langen Damm, der zur Netze führt: Von hier genoßen wir den herrlichsten Sonnenuntergang, deßen rothe, lila und goldene Farben mich nur zu lebhaft nach Italien versetzten; die Hügelkette hinter der Netze wuchs zu riesigen Bergen und die Häuser hin und wieder sahen mir wie Palläste und Ruinen aus, in dem roth-lila Licht sehr schön gegen die grünen Felder und Wiesen abstechend. Bernhard mußte recht langsam fahren laßen, um mich nicht in meinen Träumereien zu stören, in denen ich mich jetzt gar zu gern verliere. Nach dieser poetischen Beschäftigung folgte eine sehr prosaische; beim Oberförster angekommen, mußte ich Butter, Brod und Schlackwurst auspacken und ordnen, womit Familie Petersen ihr Kontingent zu diesem Feste stellte, das mit einer Quadrille à la cour, getanzt von 8 jungen Driesener Mädchen begann; ich war froh Zuschauerin zu sein, obgleich ich mich sehr bald an dem vielen Kaipen satt gesehen hatte; später wurde allgemein getanzt, welchem Schicksal ich denn auch nicht entging; meistens unterhielt ich mich oder suchte mir meine geeigneten Leute aus, mit denen ich mich nach Herzenslust moquiren konnte, wozu reichlicher || Stoff vorhanden war. Es dauerte sehr lang, so daß wir erst um 3½ Uhr abfuhren und ich um 5 Uhr sehr überlegte, ob ich mich schlafen legen sollte oder gleich aufbleiben. Wegen großer Müdigkeit beschloß ich Ersteres und wachte erst um 8 Uhr auf. Die Fahrt war herrlich gewesen beim klarsten Mondschein. Wie viel Grüße habe ich da unserem lieben Freunde aufgetragen, dafür brachte er mir aber auch tausend von Dir. Wenn ich Dir sage, daß Freitag Wäschtag war, so weißt Du was dies schreckliche Wort für ein weibliches Wesen Alles in sich faßt und da der Tag vergeht in unangenehmen Beschäftigungen. Es war herrliches Wetter, das uns denn auch noch gegen Abend herauslockte. Bertha und ich gingen mit Klärchen spazieren, die draußen in Gottes freier Natur zum ersten Mal lief mit dem seligst strahlenden Gesichte von der Welt. Die Vögel sangen so munter ehe sie mit der Sonne zu Bett gingen, daß ich auch singe mußte: „muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus etc.“ Im Zimmer sah ich von meinem Fensterchen aus den Mond als große goldgelbe Scheibe über den Bergen aufsteigen und summte dabei das kleine Liedchen vor mich hin, das Du mir mitschicktest von Scheffel. Ich konnte es sehr bald auswendig und ist nun wie Du mein Eigenthum geworden. Der Mond wurde immer schöner, je höher er stieg und selbst das kleine Klärchen auf meinem Schoß zeigte immer wieder nach dem großen Kuckelicht hin, das ich ihr in meinem Entzücken gezeigt hatte. Es kostete einen Entschluß mich zur Lampe zu setzen und die Arbeit in die Hand zu nehmen. Den bösen Sonnabend kennst Du; ebenso den schlimmen Anfang vom Sonntag; Bernhard fuhr um 10 Uhr fort und kam erst den Abend wieder, da Klärchen nicht wohl war und das Mädchen den ganzen Tag fort, bei ihren Eltern zu Haus, gab es viel zu meiner Zerstreuung im Hause zu schaffen; sobald ich ruhig saß, quälten mich meine Gedanken entsetzlich und haben erst nach und nach ihre ängstliche, besorgte Farbe verloren. Lesen konnte ich dabei auch nicht, weil ich nicht meine Gedanken an einen bestimmten Gegenstand zu feßeln vermochte; so nahm ich denn zur Arbeit meine Zuflucht und Abends las ich nur mit Bertha eine Novelle von Töpfer vor. Montag legte ich den ganzen Tag Wäsche und hatte wieder vergebens || auf einen Brief gehofft. Dienstag und gestern habe ich im Eschricht den intereßanten Paßus über das Auge und deßen Optik gelesen, wovon mir leider Einiges unverständlich geblieben ist; ob ich wirklich untüchtig dazu bin, es zu faßen oder noch nicht ganz Herr über meinen Geist war, will ich unentschieden laßen. Jedenfalls werde ich ihn in Berlin in Ruhe noch einmal vornehmen; gelernt habe ich dennoch dabei und meinen Ideenkreis erweitert; ich werde bald mit dem schönen Werke zu Ende sein, dem ich viel Wißen danke und demzufolge ich vielfach Beobachtungen der Thiere und Menschen anstelle. Dienstag las ich wieder früh im Eschricht, dann plättete ich den ganzen Tag bis gegen 6 Uhr. Dann fuhr ich mit Bernhard auf den Schnepfenstrich; als wir eben abfahren wollten, fuhr der Oberförster mit seinen beiden Forstkandidaten: Reinhard und v. Borne vor, die sich in gleicher Absicht auf den Weg gemacht hatten. Wir fuhren nun zusammen ab und bekamen noch nicht weit von Haus fort ein tüchtiges Hagelwetter, das bei der Weiterfahrt durch den hübschen Wald immer stärker wurde. Mich störte es nicht, ich sah in die grünen Kiefern hinein und entdeckte zwischen ihnen dicht am Wege mehrere Rehe, die bei ihrer sonstigen Schüchternheit wunderbarer Weise uns so treuherzig mit ihren schönen Augen ansahen, daß ich bedauerte ihnen nicht Schutz gegen das böse Wetter gewähren zu können. Als wir an dem bestimmten Punkte angelangt waren, wo die Schnepfe ziehen sollte, war es ganz klar geworden, die Sonne ging prächtig unter und als allmählich die Sterne am Himmel heraufzogen, ging Jeder auf seinen Posten und tiefes Schweigen wurde beobachtet, was mir am schwersten wurde; über ½ Stunde warteten wir, aber keine Schnepfe kam; wahrscheinlich war es ihr zu kalt; Jeder bestieg wieder seinen Wagen und nach ¾ Stunden langten wir nach einer herrlichen Waldfahrt wieder zu Haus an. Ich hatte am Nachmittage einen Brief von Mutter erhalten, wonach die Taufe statt am 20 März erst am 3 April sein soll, weil Deine Mutter dann wieder reisen darf; Mutter bleibt natürlich noch so lange in Freienwalde und schreibt mir, daß ich am 9 oder 10 April in Berlin sein solle; danach wird mein Aufenthalt hier verlängert; ich glaubte nach dem früheren Plane noch in dieser Woche abreisen zu müßen. Den Freienwaldern geht es sämmtlich gut, ich bin neugierig, wie der kleine Strick, der wie Mutter schreibt, große dunkelblaue Augen (Deutscher) hat, genannt werden wird. Sie schreibt mir auch über Bleeks, die in ihrem Hause wohnen bleiben und Pensionäre zu sich nehmen werden. Johannes kommt aus Heidelberg zurück, Theodor geht vorläufig wieder nach Berlin. Heinrich, Jacobis, Schellers, die Potsdamer werden außer Deinen Eltern noch zur Taufe erwartet.

Freitag 25 Wieder ist gestern kein Brief von Dir einpaßirt, mein herzlieber Schatz, und so kann ich auch diesen noch nicht an Dich abgehen laßen, weil ich nicht weiß wohin, poste restante soll ich nicht schicken. Einer kalten Nacht (noch heute Morgen um 7 Uhr waren es zwei Grad Kälte) ist ein herrlicher Morgen gefolgt; bleibst Du Deinem früheren Plan getreu, so weiß ich Dich heute auf der Reise von Civita vecchia nach Neapel. Ist auch in Italien heute der Himmel so rein und klar und strahlt die Sonne so warm und glänzend, wird Dir der Abschied von der Weltstadt recht schwer werden; andrerseits wäre dies Wetter zur Dampfschifffahrt vortrefflich, ich denke mir diese Tour wundervoll und möchte mit Dir vom Meer aus den ersten Anblick der Inseln Ischia, Procida, Capri und der phantastischen Stadt Neapel theilen; die Enslenschen Panoramen kommen mir hierbei wieder zu Hülfe und noch hat mir die Erinnerung ein deutliches Bild der genannten Orte vom Vesuv aus gesehen bewahrt. Wie müßen alle die neuen Eindrücke auf Dich einstürmen! wie viele erhält man nicht täglich im ruhigen, häuslichen Leben und nun in dieser Wunderwelt der schöpferischen Natur, der Du nun bald mit voller, neuer Lust Dich hingeben kannst. Ich freue mich für Dich mit auf die Arbeit, weil ich aus eigener Erfahrung das unbehagliche, unglückliche Gefühl kenne, wenn man nicht fortwährend handeln und schaffen kann; Halm hat den Begriff des Glückes sehr richtig definirt in dem Gedichte: „Das Glück“ übertitelt, das ich Dir auch einmal auf einem Spaziergange im Thiergarten recitirt habe, das mit den Worten schließt: „Es leben nur, die schaffen.“

Mittwoch Morgen schrieb ich zunächst einen Brief an Karl, der seit meinem Hiersein noch nichts von mir gehört hat; durch Mutter weiß ich, daß es ihm gut geht. Dann plättete ich die letzte Wäsche und stärkte mich Nachmittag durch ein kleines Schläfchen; dann habe ich gelernt Butter kneten und formen, die zum Kaffee prächtig schmeckte; den übrigen Theil des Tages wurde gearbeitet und Abends las ich Bertha eine Novelle von Töpfer vor, die auf dem großen St. Bernhard spielte. Gestern haben wir eine angefangen, die die Wengern-Alp zum Schauplatz hat; da bewege ich mich also auch in schöner Gegend und werde oft an Deine Alpenreise erinnert. || Gestern Morgen vor Tisch habe ich an Dich geschrieben; Nachmittag im Eschricht gelesen und dann mit Bertha etwas spazieren gegangen, wobei uns der Schnee überraschte und zu Haus trieb; es scheint Alles in diesem Jahre sich zu verfrühen; selbst das Aprilwetter hat sich in seinem eigentlichen Monat geirrt. Der Postbote kam und statt in einen Brief von Dir mußte ich mich in die Voßische Zeitung vertiefen. Die Kammerverhandlungen intereßiren mich ungemein; es wird tüchtig aufgeräumt in allen Verhältnißen und Wahrheit und Ehrlichkeit scheinen wieder zur Geltung zu kommen; bei dieser Gelegenheit wird man aber erst recht klar über die entsetzliche Willkühr, Gesetzlosigkeit und selbstsüchtigen Absolutismus, womit die hochgestellten Beamten auf die niederen, überhaupt auf Privatpersonen gedrückt haben. Von der Heydt wird mitunter sehr scharf in der Kammer mitgenommen, so daß ich mich wundere, daß er sich noch halten kann; die Zeitung vom Dienstag enthielt eine treffliche Rede Bethmann-Hollwegs in der Sache der Realschüler, denen wieder zu ihren früheren Rechten verholfen werden soll. Echt fromm tritt der Kultusminister wieder aus dieser Rede hervor; das Volk wird sich also wohl fühlen unter seinem Regimente. Napoleon rüstet gewaltig; mich soll wundern, ob er wirklich noch auf Italien losgehen will; nach den letzten Zeitungen scheint die Sache auf friedlichem Wege beigelegt zu werden und Tante Voß fabelt von einem Kongreß der fünf Großmächte in Berlin oder London. Für heute muß ich abbrechen, um mich anzuziehen, die Mittagszeit rückt schon wieder heran. Diese Nacht habe ich nach langer Zeit viel von Dir, Du lieber, lieber Erni geträumt; wir tanzten sehr vergnügt zusammen, Gott weiß wie ich dazu komme. Um 5¾ Uhr war ich schon auf und vertiefte mich im Eschricht in den Abschnitt über das Sprachvermögen; er stellt für Thiere und Menschen eine Instinktsprache auf, der erst in späteren Jahren die Sprache aus Lauten, Worten und Sätzen folgt; das Kind folgt rein dieser Instinktsprache, was ich täglich an dem kleinen Klärchen erfahre; nach Eschricht verliert sie sich beim Mann ganz, bei der Frau bleibt sie theilweis zurück in einem feinen, richtigen Urtheil und gewißen Takt, sie versteht mehr den Blicken, den ganzen Gesichtsausdruck abzulauschen, wogegen der Mann ausschließlich durch Worte und Handlungen sich verständigt. Die Richtigkeit dieser Ansicht wage ich weder zu bestätigen noch zu verwerfen.

Sonnabend Morgen den 26.3.59 Du wirst mich herzlich auslachen, lieber, lieber Erni, wie wirklich meine Angst so grundlos gewesen ist; nimm darein aber nicht Dein Lob über meinen frischen, frischen Muth und gute Hoffnung zurück; ich werde mich gewiß nicht wieder durch die Tante Voß so in die Enge treiben laßen; versetzt’st Du Dich aber in meine Lage, darfst Du mich nicht allzusehr schelten. So glücklich, so selig hat gewiß noch kein Brief gemacht, wie der Deinige, den ich gestern Abend um 6½ Uhr erhielt. Mein lieber, herziger Schatz unversehrt, glücklich, froh und f heiter, wie ich ihn so gern weiß! Mir ist, als wärst Du mir zum zweiten Mal geschenkt und Dank gegen Gott erfüllt mein ganzes Herz. Gern hätte ich heute früh Bernhard diesen Brief mitgegeben, der um 5 Uhr nach der Stadt fuhr; allein da Deine Mutter ein Kistchen mitgeschickt hat, nach der erst ein Bote unterwegs ist, in welche sie Deine Adreße statt in den Brief gepackt hat; kann ich den Brief erst Nachmittag dem Postboten mitgeben, mein gewöhnliches Mittel der Briefexpedition hier; hierin liegt der Grund, warum ich die Briefe nie ganz frei machen konnte, was sich also als sehr unpraktisch erwiesen hat; ich werde also diesen Brief ganz unfrankirt schicken; vielleicht dann noch einen von hier, dann bin ich hier fort und wieder auf dem Wege nach Berlin, wo Mutter mich den 9 oder 10 April erwartet. Du hast Dich ebenso, wie ich über das Kranksein Deiner Mutter erschrocken, das mehr oder weniger wieder überwunden zu sein scheint; da Quincke ihr erlaubt hat, nach Freienwalde zur Taufe zu reisen, stehen wohl keine schlimmen Folgen des Unwohlseins bevor. Ich bin unendlich froh, daß Rom einen so gewaltigen, unauslöschlichen Eindruck auf Dich gemacht hat; wie mußt Du aber geschwelgt haben in großartigen Ruinen von Kirchen, Pallästen, Theatern etc. in den wundervollsten Erzeugnißen der praktischen Kunst, der körperlichsten und darum anschaulichsten wohl, die es gibt, in den schönen, antiken und modernen Schöpfungen der Malerei und endlich in der lieben Mutter Natur, Deiner Göttin, die mit Hülfe der milden, warmen Frühlingssonne sich in ihrem schönsten, mannigfaltigsten Farbenschmuck sich Dir presentirt hat. Es muß eine Wonne ohne Ende sein, solche vier Wochen wie die, in dem herrlichen Rom zuzubringen; ich kann Dir lebhaft nachfühlen, wie man || sich ganz verliert in dieser Welt des geistigen Genußes, wie die Seele vergebens danach strebt, Ordnung, Klarheit in die Maße des Stoffes zu bringen und diesen so zu bewältigen, daß man vollständig Rechenschaft ablegen kann von jedem einzelnen Eindruck, ohne wieder 1000 anderen Abbruch zu thun; die mündliche Erzählung vermag wohl beßer einigermaßen ein Bild von der Weltstadt zu geben; ganz klar wird es auch dann noch nicht werden; das ist eins von den Dingen, was man selbst gesehen, erlebt haben muß, um die ganze Größe, Schönheit und Herrlichkeit faßen zu können. Ich kann mir denken, wie veredelnd und bildend ein Aufenthalt in Italien sein muß auf eine jugendliche, strebsame und erregbare Natur. Wir haben ja in Deutschland Beispiele genug davon; Leßing, Goethe, Winckelmann etc. verdanken nicht wenig ihrer geistigen Größe dem fruchtbaren, klaßischen Italien. Unnatürlich wäre es also, sollte dieser mächtige Einfluß ungetheilt, unempfunden an Dir vorübergehen. Nein, schon vor Deiner Abreise war ich überzeugt von diesem Eindruck und Wirkung des südlichen Himmels auf Deinen Geist und Gemüth, und Deine Briefe bestärken mich hierin. Dein Gesichtskreis wird ungemein erweitert, Deine Menschenkenntniß nicht weniger, Dein Durst nach Wißenschaft einigermaßen gestillt werden, also Deine Kenntniße hierin sehr bereichert; nebenher wird der Anblick des wahrhaft Schönen Dir unauslöschlich das Ideal alles Guten, Edlen, Schönen im Leben, in das wir von Gott gestellt sind, einprägen, deßen Erreichung Deine Lebensaufgabe sein wird im Verein mit Deiner Anna, die Du hierin mächtig unterstützen und stärken mußt. Die Mondscheinpromenade muß reizend schön gewesen sein, so recht für mich geschaffen; zu Ruinen und großartigen schönen Bauten gehört Mondschein; sein Licht harmonirt am besten mit verfallenen Trümmern,und regt die Phantasie des Beschauers lebhafter an. Am 18 März habe ich auch viel an das vergangene Jahr zurückgedacht, wo wir Beide zum ersten Mal von meinem Zimmerchen aus in die Feuer der Cooksöfen blickten und Du sehr lieb und freundlich gegen mich warst. Daß Du Alles überstanden hattest, hatte mir Deine Mutter schon am Morgen in der Kirche gesagt; Nachmittag gegen 5 Uhr kamst Du mit Karl herunter zu Sethens, wo ich zu Mittag gegeßen hatte und packen half; ich ging mit Euch Beiden nach dem Hafenplatz (von Dir geführt, weißt Du noch wie Karl Dich wegen Deines schlechten Hutes neckte) zunächst zu Tante Bertha, die mir Dein niedliches Gedicht, das erste Morgengefühl nach dem glücklich überstandenen Staatsexamen vorlas, dann zu mir herüber; es war Besuch bei Mutter und wir Beide in meinem kleinen Heiligthum allein. Ich freue mich wieder sehr auf mein Zimmerchen, meine Aquarelle und Pflanzen, die Dich mir dort ersetzen müßen. Unbändige Sehnsucht habe ich auf unserem Flügel zu spielen und hoffe sehr, Mutter wird mich Unterricht nehmen laßen, wozu ich sehr große Lust habe. Den lieben Alten wird dann auch nicht mehr so einsam sein, wenn ich öfter zu ihnen gehen und von Dir plaudern kann. In dieser Nacht ist es hier wieder Winter geworden; dicker Schnee liegt auf den grünen Feldern und hat hoffentlich die zarten Knospen und Blättchen an Bäumen, Sträuchern und Blumen vor dem Erfrieren bewahrt. Dich weiß ich also jetzt im Gebirge umherwandernd und malend; Gott gebe, daß Du keiner Gefahr ausgesetzt bist und glücklich Neapel erreichst. Bleibt denn Deine deutsche Gesellschaft noch länger in Rom? Dann wird sie Dich auch dort vermißen. Von dem Doktor Binz schreibst Du gar nicht mehr; findest Du ihn schon in Neapel. Also Prinzeß Alexandreia hast Du durch Anemonen erfreut und gewiß auch dadurch, als sie erfuhr, Du seist auch aus Berlin, wo doch auch ihre Heimath ist; sie soll ja sehr heiter und aufgeräumt sein, doch wird sie hiervon wohl schon ein Theil eingebüßt haben, fortwährend in der Umgebung des Königs zu sein, deßen Zustand jammervoll ist. Nach den Zeitungen wirst Du ja in Neapel wieder die Freude haben, ihn zu sehen. Doch nun zum Schluß, sonst kommt der Brief nicht mehr fort. Ich bin oft beim heutigen Schreiben durch allerlei häusliche Arbeiten unterbrochen worden; habe auch Deinen Brief schon abgeschrieben und an Karl expedirt mitsammt einer Schnepfe, die Bernhard gestern Abend geschoßen hat; er kam wie ein Schneemann zu Hause. Endlich werde ich nun auch dazu kommen, Deines Vaters Schrift zu lesen, von der ich noch nichts kenne. Der gute Alte wird wohl ordentlich aufleben in der Wendung der Politik. Doch still davon, ich werde wieder ungehorsam. Bernhard und Bertha grüßen bestens; auch Mutter trägt mir in jedem Briefe herzliche Grüße auf; es ist nun einmal meine Leidenschaft, dieselben selbst Dir nie zu bestellen. Einen herzlichen Kuß mein lieber Schatz von Deiner frohen und glücklichen Aenni.

a korr. aus: Willen; b korr. aus.: gerathen; c eingef.: ein; d eingef.: definirt; e eingef.: zu; f gestr.: ich

Brief Metadaten

ID
34443
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Polen
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen (Provinz Brandenburg)
Zielort
Zielland
Italien
Datierung
26.03.1859
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Format
14,2 x 22,0 cm; 22,0 x 28,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34443
Zitiervorlage
Sethe, Anna an Haeckel, Ernst; Steinspring (Smolarz); 26.03.1859; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_34443