Anna Sethe an Ernst Haeckel, Steinspring, 17. März 1859

Steinspring d. 17.3.59.

Guten Morgen, herzlieber Schatz, es ist 6 Uhr, da bin ich mit Dir zugleich aufgestanden, wie mir Dein lieber, lieber Brief von gestern sagt, der mir ungemeine Freude gemacht hat; erstens hast Du nun die verloren geglaubten Briefe erhalten und dann hast Du mir so ausführlich die Eintheilung Deiner Tage in Rom geschrieben, daß ich für die Zeit, die Du noch dort bist, Dich überall begleiten kann und meine Gedanken einen gewißen Halt haben. Auch das macht mich glücklich, daß Du Dich über meine Briefe freust. Ich habe manchmal im Stillen gefürchtet, Deine Seele, die jetzt von so ganz anderen, feßelnden Dingen eingenommen ist, auf die Folter gespannt zu haben, weil meine Briefe Dich so zu sagen zwingen, Dich in einen Gedanken hineinzudenken, wie ihn mir der Augenblick, die Laune und überhaupt meine Beschäftigung eingibt, die so wesentlich von denen verschieden ist. Gegen die herrlichen Palläste und schönen Statuen, in denen Du Dich bewegst, werden meine aufeinander gethürmten Gedanken bald zerfallen; ich weiß aber, Du willst mich haben, wie ich bin, drum bringe ich immer wieder und wieder meine Vorstellungen und Begriffe zu Papier; Dein kluger, lieber Kopf wird sie zu ordnen verstehen und das Beste heraussuchen. Glaube aber darum nicht, daß ich ähnliche Briefe von Dir erwarte; wie bereichere ich nicht meine Anschauung durch Alles, was Du siehst und erlebst in dem fremden Lande, und unnatürlich würde ich es finden, ein specielles Eingehen in mein Geschreibsel zu verlangen. Ich bin so ruhig, lieber Erni, seit ich Dich so prächtig aufgehoben weiß in Rom in Deiner kleinen deutschen Gesellschaft; grüße sie Alle von mir und dank ihnen in meinem Namen, daß sie Dich so gern haben und Dir die Heimath ersetzen. Ohne sie würdest Du bestimmt nicht zu diesem Vollgenuß in Rom gekommen sein; und wie glücklich, daß Du in der liebenswürdigen Frau Blöst eine ähnliche Aussicht für Neapel gefunden hast, dem Du nun nicht mehr fern bist. Es wird mir ordentlich schwer, Dich Ostern nicht in Rom feiern zu wißen; die musikalischen Genüße sollen sehr groß zu dieser Zeit dort sein und überhaupt erscheint mir ein Monat sehr kurz für eine Stadt wie Rom, in der Du die verschiedensten Weltalter wieder durchleben wirst. Ich würde auf der ganzen Reise den Gedanken festhalten: „wer weiß ob ich jemals wieder herkomme!“ Freilich wirst Du am besten beurtheilen können, wie viel Zeit Du brauchst, nur Dir nicht große Genüße entgehen laßen, um ein paar Tage einzusparen, so denke ich auf Reisen, so geizig ich auch im gewöhnlichen Leben mit meiner Zeit bin. Ein Tag vergeht mir wie im Umsehen, selbst hier in dem stillen, einförmigen Leben, gegen das Berlin (der Häuserwald) und die vielen Menschen einen rechten Contrast bilden werden. Wenn dieser Brief in Deinen Händen ist, habe ich das kleine Forsthäuschen wahrscheinlich schon im Rücken, was mir jetzt um so schwerer wird, je lieblicher und freundlicher der Frühling einzieht. Ein Strom neuen Lebens durchdringt meine Adern, wenn die Sonne so warm scheint, dicke Knospen an Bäumen und Sträuchern hervorruft, die Veilchen aus ihrem Versteck herauslockt und den munteren Vögeln neue Lieder in’s Herz gibt, mit denen sie das Menschenohr erfreuen. Wie reizend ist der Krocus, den Du mir geschickt hast, Deine erste Frühlingsblume, die ich mit heißen Küßen bedeckt habe. Noch ehe ich den Brief schließe, will ich noch einmal Berthas Veilchen durchsuchen, ob unter den vielen Knospen nicht endlich auch eine Blüthe zu finden ist. Wüßten sie nur, daß sie nach Rom sollen; gewiß beeilten sie sich, die kleinen duftigen Blättchen zu entfalten; Du machst es ja nicht wie die kleine Bäuerin in dem reizenden Goetheschen Gedicht und zertrittst das arme Veilchen. Deine Schil-||derung des Carneval hat mich sehr enttäuscht; meine Idee davon nach dem bisher darüber Gelesenen war eine ganz andere, und ich muß sagen, ich war sehr begierig, Deine Ansicht darüber zu hören. Über den Grund hiervon darf ich nicht klagen, im Gegentheil ich bin stolz auf Deinen Charakter, den ein solches gehaltloses Poßenreißen der Italiener mit ihrem weiten Herzen nicht anspricht. Adolph Stahr’s begeisterte Schilderung dieses Volksfestes kann ich mir nun wohl erklären, der auch ein sehr weites Herz besitzt, in dem gewiß noch 10 andere Menschen den ersten Platz einnehmen, der eigentlich seiner Frau und Kindern zukommt, die er seit einigen Jahren ganz verlaßen und nun mit der Fanny Lewald verheirathet ist, die er in Rom kennen gelernt hat und neben anderen Schönen gewiß den besonderen Reiz zum Carneval verliehen haben. Also in Tivoli bist Du auch gewesen. Ich entsinne mich noch genau der beiden Bilder ausa der Ausstellung, die mir eine Anschauung von den berühmten Waßerfällen gaben. Der jähe, plötzliche Temperaturwechsel in Rom ist mir auch etwas ganz neues. Unbegreiflich, daß man Kranke gerade hierhin schickt. Das Schicksal des jungen Hirzel jammert mich ordentlich und seine Mutter noch viel mehr, die ein Kind nach dem anderen als Opfer dieser entsetzlichen Krankheit hinschwinden sehen muß. Wenn der liebe Gott mich nur vor solchem Leiden bewahrt, so will ich gern viel Krankheit ertragen. Aber diese Art Leiden, dem keine Grenze zu stecken ist von Menschenhand ist für denjenigen, den es trifft, ein gar zu langsamer und doch gewißer Tod, und für die Anderen, die mit diesem Menschen leben, ein Jammer und Kummer ohne Ende. Gott behüte uns Beide vor solcher Krankheit! Du deutscher Maienjüngling, Nibelunge, wie man Dich dort nennt, darfst wohl solchen Gedanken nie aufkommen laßen; mißbrauche nur Deine körperliche Kraft und Stärke nicht, so hast Du noch ein langes Leben vor Dir. Wohin ist da mit einem Mal Deine muthige, lebensfrische Aenni gekommen, so daß Du sie kaum wiedererkennen wirst? Wahrlich keine Frühlingsgedanken; allein in der Natur wechseln ja auch noch die stürmischen, regnerischen Tage mit den sonnigen, und so habe ich eine vortreffliche Entschuldigung. Nun muß ich Dir von meinem Treiben in den letzten Tagen berichten. Der letzte Brief war recht flüchtig, weil Bernhard fertig stand, um ihn mitzunehmen und ich fürchte, dieser wird noch flüchtiger, weil ich nur noch ½ Stunde Zeit habe, bis zur Stadt gefahren wird, wo ein kleines Picknick arrangirt wird, an dem Petersens sich auch betheiligt haben; den ganzen Morgen bin ich nicht mehr zum Schreiben gekommen, weil große Wäsche ist und ich die Hausarbeit besorgt habe. Dabei denke ich viel an spätere Zeiten; an eine kleine Profeßorwirthschaft, dann geht Alles noch einmal so schnell und so leicht. Also Sonnabend 11 nach Beendigung des letzten Briefes, frühstückte ich mit nicht geringem Appetit; Dir scheint das Frühstück auch sehr in Rom zu munden, worüber ich mich sehr freue; könnte ich Dir nur auch erst selbst den Kaffee bereiten, Du solltest ganz guten Mocca bekommen, der Dir mit Deiner Aenni vielleicht auch gut zusammen schmeckt; dann habe ich den ganzen Morgen Gardinen geplättet und in Folge deßen ein kleines Nachmittagschläfchen gehalten, wobei es so leer an meiner rechten Seite war, daß ich mich lange nicht zum Einschlafen entschließen konnte. Bernhard kam sehr ermüdet aus der Stadt zurück, so daß er nicht vorlas; daher las ich im Eschricht über das Nervenleben des Gehirns; Du kannst denken, wie sehr mich diese Lectüre feßelt, die mir so viel Neues bietet, und das, was ich wußte, mir noch klarer und anschaulicher macht. Der ganze Mechanismus des Körpers wird mir klar, der Wille muß seinen Sitz im Gehirn haben; die Bewegung || geht aber vom Rückenmark aus; der Verfaßer beweist dies an einzelnen Beispielen sehr hübsch, die immer sehr gut zum Verständniß sind. Dann arbeitete ich noch etwas und überdachte das Gelesene und meinen Erni noch lange, lange im Bett. Ich möchte wissen, wie Deine Arbeit aufgenommen wird, oder ob sie noch nicht in Druck erschienen ist? Ich begreife immer mehr, wie intereßant diese Abhandlung, aber auch wie ungemein schwer sie gewesen sein muß, denn so leicht wagt sich nichtb Jemand auf dies schlüpfrige, unsichere Terrain. Ist denn Herr Pertz in Rom? Sonst zweifele ich, ob er überhaupt noch hinkommt, oder erst mit seiner Frau zusammen hin geht. Sonntag Morgen steckte ich erst Gardinen auf, las dann einen Monolog von Schleiermacher. Nachmittag als wir eben spazieren gehen wollten, kam ein entsetzlicher Platzregen vom Himmel, so daß wir uns wieder ausziehen mußten und ich noch ein viel größeres Vergnügen zum Ersatz hatte, indem ich alle Briefe von Dir und im Tagebuch las. Abends mußte ich wieder mit Bernhard 66 spielen und nach Tisch las er uns einen sehr intereßanten Gerichtsfall vor. Montag Morgen mußte ich Zucker schlagen und reiben und dergleichen Geschäfte mehr besorgen, wobei meine Gedanken nie bei der Sache weilen, sondern immer nach Italien spazieren. Nachmittag erhielt ich drei Briefe; einen vom lieben Alten, worin er mir schreibt, daß Tante Lotte, die recht krank gewesen ist, wieder auf der Beßerung sei, und ferner, daß er Dir im nächsten Brief einen Text über Dein falsches Christenthum halten [wird]c. Gut, daß ich Dich schon darauf vorbereitet hatte in meinem letzten Briefe; ich [hatte]d mir schon lebhaft ausgemalt, wie ihn Deine Äußerungen entsetzen würden; [und nun ist]e die Bombe geplatzt und Du hast Deine Predigt erhalten; vielleicht war meine ange[ ] aber nicht so furchtbar, wie die Deines lieben Alten, der mich vielleicht auch für einen Heiden hält, wogegen ich mich aber sehr verwahren würde. Die lieben Eltern scheinen sich zu freuen, mich bald wiederzusehen, und ich muß sagen, [ich] nicht weniger; liebe Menschen, mit denen man sich nahe steht, vermißt man nur gar zu leicht. Wenn Du in Neapel einziehst, bin ich wahrscheinlich in Berlin, wo ich am 30 einzutreffen gedenke, wenn Mutter nicht noch anders über mich bestimmt. Dein Vater wird wohl allein nach Freienwalde zur Taufe reisen und Ottilie Deiner Mutter Gesellschaft leisten. Der zweite Brief war von Helene nebst einem Paquetchen; eine Kleinigkeit für Bernhard zum Geburtstag enthaltend und der dritte von Tante Bertha, die sehr gebeugt über Onkel Bleeks Tod schreibt. Um 5 Uhr ging ich noch in den Wald, wo die Luft so herrlich frisch, die Vögel so munter waren, daß ich erst gegen 7 Uhr wieder zu Haus kam. Ich hatte Preißelbeerkraut, die ersten frischen Triebe, gesucht zu einem Kranz um den Geburtstagskuchen und einem kleinen Kränzchen für Klärchen, wobei ein Reh vor mir hersprang und ein schüchterner Hase schleunigst über den Weg fort flog. Ich war so recht selig im Walde, und nicht so einsam wie in der Stube. Dienstag wurde Bernhard gleich auf dem Frühstückstisch aufgebaut; es kamen viele Briefe von seinen Verwandten an; Nachmittag gegen 4 Uhr kamen seine Bekannten aus Driesen und aus der Umgegend, die bis um 11 Uhr hier blieben. Meine größte Freude und Erholung war, nach dem Kaffee mit Julie Langefeld, Tochter des Oberförsters und drei Forstkandidaten in den Wald zu gehen, den wir erst bei einbrechender Dunkelheit wieder verließen. Gestern Morgen gab es noch viel fortzuräumen, dafür zu Mittag Deinen lieben, lieben Brief, der heute noch nach Berlin abgeht. Die Feder brennt mir in den Händen; also die höchste Zeit zu schließen; nächstens bekommst Du einen ausführlicheren Brief; ich will nur, daß dieser Dich noch in Rom treffen soll. Glück auf zur Weiterreise, es begleitet Dich Deine

treue Aenni.

Der Brief ist also am 16 hier angekommen und hat 3½f Sgr. Porto gekostet.g

a korr. aus: auf; b korr. aus: Nie; c Siegelausriss, Text sinngemäß ergänzt; d Siegelausriss, Text sinngemäß ergänzt; e Siegelausriss, Text sinngemäß ergänzt ; f korr. aus: 3 4/5; g Text weiter auf S. 4, linke Seite der Adresse: Der Brief …. Porto gekostet.

Brief Metadaten

ID
34442
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Polen
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen (Provinz Brandenburg)
Zielort
Zielland
Italien
Datierung
17.03.1859
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
3
Umfang Blätter
2
Format
22,0 x 28,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34442
Zitiervorlage
Sethe, Anna an Haeckel, Ernst; Steinspring (Smolarz); 17.03.1859; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_34442