Anna Sethe an Ernst Haeckel, Steinspring, 8. – 11. März 1859

Steinspring, 8.3.59.

„Frühling ist kommen, Frühling ist da“, so jubele ich gestern und heute den ganzen Tag, mein lieber Schatz. Die Sonne scheint so warm vom klaren, blauen, nur hier und da von leichten Zirrywolken durchzogenen Himmel herab, daß ich den kleinen lustigen Gefährten, den Vögeln a jubeln helfen muß, am Ende Dir auch, der Du ja viel intensiver vom Wiederaufleben der Natur durchdrungen bist in der weiten Campagna, wo üppige Blüthen in reicher Mannigfaltigkeit dem vor Kurzen noch starren Boden entsprießen; während ich gestern nach langem Suchen in Bertha’s Gärtchen die erste Veilchenknospe entdeckt habe und an dem Knospen der Bäume, hauptsächlich an der warmen milden Luft den Übergang zum Frühling spüre. Gestern habe ich mich durch einen Spaziergang in Bernhard’s hübschem Revier ordentlich erquickt und heute werde ich wohl auch der lockenden Sonne nicht widerstehen können. Selbst Sonntag bin ich mit Bernhard trotz des furchtbarsten Sturms 2½ Stunden in dem Wald, bergauf, bergab umher gelaufen und kam erst um 6½ Uhr zu Haus an. Im Wald wurde man vom Winde nicht gefaßt und hörte nur das dumpfe, geheimnißvolle Rauschen in den Wipfeln der Bäume, ähnlich dem Brausen des Meeres, sehr geeignet, die Gedanken umherirren zu laßen, bald hier, bald dorthin, was, glaube ich, ein Mädchen an und für sich schon gern thut, und wie viel lieber, hat sie solchen lieben Herzensschatz, den sie so weit, weit weiß; bis auf eine einzige lichte Stelle, einem kleinen Berg, von deßen Spitze ich einen hübschen Blick auf das reiche Netzbruch hatte, waren wir immer unter Bäumen, theils jungen verwelkten Eichen und alten schönen Buchen, deren entblätterte graziöse Zweige vom Winde hin und hergepeitscht wurden, meist aber unter den grünen Kiefern, von denen der Sturm in der Nacht mehrere Stämme niedergeworfen hatte, und die so mitunter die malerischsten Gruppen bildeten. Zu Hause mußte ich mit Bernhard zum Sonntagvergnügen eine Partie 66 || spielen, was ich seit langer Zeit nicht mehr gethan hatte; nach Tisch las uns Bernhard einen Aufsatz aus dem Roßmäßler über das Leuchten der Thiere vor, worüber ich auch Einiges in der kleinen Harttungschen, mit einem Vorwort von Schleiden versehenen Schriftchen gefunden habe. Vormittag hatte ich einen Brief an Anna Triest nach Meran geschrieben, die auch in Frühlingswonne in ihrem reizenden Thale der Etsch schwelgen wird, in dem schon den ganzen Januar über die Veilchen geblüht haben. Es freut mich sehr für sie Beide, daß sieb in einigen Hausbewohnern angenehmen Verkehr gefunden haben, mit denen zusammen sie jetzt auch italienische Stunden bei einem Pater (Profeßor) Johannes nehmen. Daß Du der Sprache so mächtig bist, freut mich sehr, denn dadurch wirst [Du] manchen Unannehmlichkeiten und Prellereien entgehen, denen ohnehin ein Fremder in Italien genug ausgesetzt ist. Sonnabend war ich das häßlichen Wetters wegen und da Bernhard in der Stadt auf dem Forstgerichtstag war, gar nicht ausgekommen; am Morgen hatte ich das letzte Stück Deines Briefes und ein paar Zeilen an den lieben Alten geschrieben, welcher Brief noch denselben Tag abging, aber ohne den am 16 geschriebenen Bogen mit der Ansicht des schiefen Thurmes, von dem ich mich noch nicht trennen konnte und zum Abschreiben war es nicht geeignet. Mein Herzens-Erni tritt darin wieder in seiner reichen Lieben zu mir, seiner edlen und das Gute wollenden Seele und seinem tiefen, richtigen Naturgefühl so lebhaft hervor, daß ich immer und immer wieder die Worte durchlesen muß, die Dir an Deinem Geburtstag aus der Feder gefloßen sind. Giebt es wohl einen begeisterten Natuforscher, wie Du bist, der inmitten der herrlichsten Kunstwerke der klaßischen Vorzeit ausruft: „noch nie habe ich, wie jetzt das Glück empfunden, Naturforscher zu sein!“ ein Beweis, daß Du den richtigen Beruf erwählt c und damit den Grund zu innerer Befriedigung gelegt hast, die sich von dem Gedanken nicht trennen läßt, der Welt etwas Nützliches leisten zu können und sich nicht überflüßig zu fühlen. ||

Donnerstag d. 10. Vorgestern unterbrach michd Bernhard beim Weiterschreiben durch die Aufforderung zum Spazierengehen, der gefolgt zu sein, ich durchaus nicht bereut habe. Die Luft war herrlich, so daß ich den Mantel halb abstreifen mußte, dazu der Wald so still und friedlich, daß ich mich scheute laut aufzutreten und in gewiße Gedanken vertieft ein paar Mal auf dem trügerischen Moosteppich über einen Baumstumpf stolperte. Wie gerne hätte ich Dich ein Stündchen an meine Seite gezaubert, um Dir alle die seligen Gefühle auszusprechen, die meine Seele durchbebten. Wir paßirten wieder einen hübschen See, auf dem wir, von den vollen Strahlen der Sonne getroffen, von einer steilen, kahlen Anhöhe herab und rechts und links aufragende Waldpartien sahen. Ich träumte mich ein paar Jahre weiter und fand mich an Deiner Seite in den Alpen wieder bei Deinem Lieblingsplan, der nun auch mich lebhaft beschäftigte. Zu Haus angekommen, fand ich einen Brief (leider nicht von Dir) von Mutter nach langer Zeit vor, wonach es ihr sowohl wie Hermine und dem kleinen Jungen sehr gut geht; so gut, daß sie schon am 20 zu taufen denken, wozu Deine Alten gewiß herüberreisen, wenn Tante Lotte ihren Hexenschuß wieder los ist. Nach dieser Nachricht bin ich dann auch die längste Zeit hier gewesen, denn wenn Mutter nach Berlin zurückkommt, denke ich auch wieder dort zu sein, und gern möchte ich auf der Rückreise noch ein paar Tage bei Agnes Stubenrauch zubringen; wahrscheinlich, wenn meine Mutter mit einverstanden ist, bin ich Ende dieses oder Anfang nächsten Monats wieder in Berlin, meiner heimathlosen Heimath. Mutter hat, wie mire auch der Tod von Onkel Bleek, die traurigen Erlebniße vor zwei Jahren wieder lebhaft vor die Seele geführt, ich kann Bleeks nur aufrichtig bedauern, für die der Schlag in gewißer Beziehung noch härter ist, mehr entbehren können sie den Vater schwerlich, als ich; lieber Schatz hätte ich Dich nicht, würde ich mir recht einsam und verlaßen in dieser Welt vorkommen. Da bringt der Postbote einen Brief, einen Brief und Du machst mich selig. ||

Freitag 11 Dein lieber Brief hat eine kurze Pause beim Schreiben verursacht; eben habe ich ihn an Deine Eltern, nachdem ich ihn abgeschrieben und ein paar Zeilen von mir beigegeben habe, befördert. Endlich hast Du doch Nachricht von mir aus einem Briefe, den ich nicht am 17, sondern am 19 abgeschickt habe, Du also in 7 Tagen bekommen hast, der Deinige ist 8 Tage vom 2–10 gegangen. Wie kann ich mich in Deine Seele hineindenken, lieber Schatz, die so viel Schönes, Neues und Herrliches auf einmal in sich aufnehmen soll. Gewiß ist die Maße und der edle Stoff überwältigend und gehört einige Zeit dazu, um ihn gehörig in sich zu verarbeiten, und so zu ordnen, daß man Anderen ordentlich Rechenschaft darüber geben kann. Fast fürchtete ich schon, Dein Intereße an der Kunst sei überhaupt ganz der großen Vorliebe zur Natur gewichen, doch habe ich mich zu meiner Freude getäuscht; die Kunstschätze in Florenz (hauptsächlich aus Heiligenbildern bestehend) waren noch nicht rein und edel genug, um Dein reines, wahres Herz zu begeistern. O wie gern wandelte ich mit Dir unter den herrlichen Werken hellenischer und römischer Kunst umher; hat doch schon mir lange trotz der mangelhaften Auswahl eine schöne Statue einen bleibenderen Eindruck zurück gelaßen, als ein vollendetes Bild, das die Schönheit, die reinen und edlen Formen doch nie so körperlich und wahr wiedergeben kann, als die plastische Kunst. Ich sehe Deine beiden Alten im Geiste etwas den Kopf schütteln über Deine gänzliche Verachtung des christlichen Mittelalters, in Folge deren sie gewiß wieder Zweifel in Deiner Religion überhaupt sehen. Ich kann nur sagen, ich stimme ganz mit Dir überein, ja ich bin stolz auf Dich als wahrenf Christen, d. h. als einen Menschen, der die göttliche Natur in sich trägt, das heißt ein reines, edler Gefühle fähiges Herz; der kraft dieser das Gute vom Bösen zu unterscheiden weiß und ersteres, wie alles Schöne und Wahre in der Menschheit immer mehr zu fördern bestrebt ist und bei dieser großen, schönen Weltaufgabe recht eigentlich || zum Gefühl und Bewußtsein der persönlichen, individuellen Berechtigung kommt, die wir erst dem Christenthum zu verdanken haben. Ob Du nur äußerlich Dich an die herkömmlichen Formen der protestantischen Religion bindest, bestimmte Sätze glaubst oder nicht, ist mir gleich; das hohe sittliche Gefühl in Dir ist mir Bürge für Deine Religion, die auch bar der umfaßendsten Freiheit des Menschen bestehen kann. Ja mich hat die Religion frei gemacht, d. h. der feste Glaube hat mich von allen Zweifeln befreit, die wohl jedem ganz jungen Gemüthe nicht ausbleiben, hat mir unbeugsames Gottvertrauen geschenkt, kraft deßen ich weder Furcht noch Gefahr im engeren Sinne kenne, und ich kann auch sagen, sie hat mir in dieser meiner freien Auffaßung viele Vorurtheile genommen, denen so viele Menschen trotz tiefer Religiösität unterthan sind. O und diese Deine edle Seele willst Du nicht nur auf Dich und Deine Handlungen im Dienste der hohen Wißenschaft wirken laßen, sondern willst sie auch mit einer zweiten, einer weiblichen Seele theilen und auf diese Weise neben dem Verstand, auch das Gefühl immer mehr ausbilden. Erni mir ist, als gewänne ich Dich jeden Tag lieber und doch weiß ich kaum, wie das möglich ist, da mein Herz eigentlich nur einen Gedanken kennt und sich unaufhörlich mit Dir beschäftigt; ich bin mir wohl bewußt, Dich vom ersten Augenblicke unseres reichen Verhältnißes klar durchschaut zu haben und mich nicht im Geringsten in Dir zu g irren, das beweis’t mir jeder Brief, der Deine Seele immer klarer schildert und mich immer inniger an Dich kettet. Du echt deutsches Gemüth, deßen Du Dich wahrlich nicht zu schämen hast, mußtest ein weibliches Wesen finden, die [!] Dich verstand, sonst hättest Du freilich aus Deiner Natur heraustreten müßen, wozu Dir Deine Aenni gewiß keine Veranlaßung geben wird. Ich freue mich, daß Du wie immer, auch in Rom Glückpilz gewesen bist, einmal eine so gesunde, hübsche Wohnung gefunden zu haben und dann Deine Tage dort in einem kleinen deutschen Kreise zu verleben, die in vieler Beziehung Deine Intereßen theilen und Dich an die Heimath erinnern; wie nett, daß ich ziemlich ein Bild von der Gegend und Straße habe, in der Du wohnst; die Ansicht von Rom bei Enslin steht mir noch klar vor Augen. Ich komme immer wieder und wieder auf Deinen Brief zurück. Wie freundlich bist Du zum zweiten Mal von der Familie Chan aufgenommen worden, dann sehe ich Dich in der lebhaften Handelsstadt bei den Schiffen und Matrosen, die namentlich für einen Binnenländer ganz besondern und neuen Reiz haben… Ich weiß wie ich in Stettin, wo wir das bunte Leben der Nationen aus allen Gegenden dicht vor unseren Fenstern hatten, oft stundenlang an denselben gestanden habe, undh dem geschäftigen Treiben zugesehen. Bald mußte ich wißen, was ausgeladen wurde, bald dem munteren kräftigen Gesang der rauhen Männer dabei zuhören, dann sah ich in der Ferne ein neues großes Schiff herankommen, deßen Land und Ausgangspunkt es sogleich nach den Flaggen zu bestimmen galt. Dies Alles hat mich ungemein intereßirt und dann Nachmittags, wenn ich mit Vater spazieren ging, war gewöhnlich der erste Gang an den Schiffen vorüber, wobei ich in einzelnen Zügen ein Bild von Charakter und Eigenthümlichkeit jeder Nation erhielt, deren Schiffe in Stettin vertreten waren. Die Natur und Pisa, wo Du gewiß den Frühling gewahr wurdest, muß reizend sein. Ach der Frühling durchdringt mich mehr, als je; er sagt mir, wie er nach dem kalten Winter folgt, so es nach der bitteren Trennung auch ein frohes Wiedersehen geben wird. Der ewige Wechsel in Natur und im Menschen hört nicht auf. Wie sehe ich dies jetzt auch in der ganzen Organisation des Menschen aus dem Eschricht, wo der Stoffwechsel nicht aufhört und das Auf und Ab im ganzen Körper unendlich im Blutumlauf und in der Vertheilung der Nerven hat mich ungemein gefeßelt. Das Buch ist so klar und verständlich geschrieben, indeß an sich ich mich wundere, wie einfach || die ganze innere Organisation bis in die geheimnißvollsten Tiefen ist, so complicirt und wunderbar kaum faßlich sie dem Laien auf den ersten Blick erscheint. Mir wird Vieles, Vieles klar, worüber ich früher schon oft nachgedacht habe, ohne Antwort auf meine Fragen zu erhalten. Ich sehe nicht ein, warum diese Sachen, die dem Menschen doch so nahe liegen, nicht von Frauen gelesen, getrieben werden sollen. Bernhard wundert sich oft, wozu ich mich mit solchem Zeug beschäftige? Ich kann nur antworten, weil es mich ungemein intereßirt und ich sehr froh bin, durch Dich der Erkenntniß näher gebracht zu sein. Abends hat Bernhard uns jetzt eine sehr hübsche Lebensbeschreibung, die kürzlich erschienen ist, von Helene, Herzogin von Orleans vorgelesen, die im vergangenen Jahre in England gestorben ist. Sie ist die zarteste weibliche Seele gewesen, die sich denken läßt und hat trotzdem bis zu ihrem Tode in allen traurigen Erfahrungen und schweren Zeiten, die sie in Paris erlebt hat, einen wahrhaft männlichen Heroismus und eine Charakterfestigkeit gezeigt, die sie als Königin wohl sehr geadelt haben würden; wer weiß ob ihr Sohn der Graf v. Paris, der so wie sein Bruder: der Herzog v. Chartres höchst liebenswürdige, sehr gebildete junge Leute sein sollen, nicht noch einmal den französischen Thron besteigen wird; wenigstens glaube ich, daß Napoleon III am längsten geherrscht hat, und ob seine Linie dann noch Anklang bei den Franzosen hat, ist wohl sehr zweifelhaft. Doch wohin gerathe ich wieder! Namentlich gilt es jetzt zum Schluß zu eilen, denn Bernhard will morgen ganz früh zur Stadt fahren und diesen Brief expediren, und es ist schon 12 Uhr geworden. Wie herrlich muß Deine nächtliche Fahrt auf dem Waßer gewesen sein; dies wäre so gerade nach meinem Geschmacke gewesen; auf brausender See, dazu hellen Mondschein und den kräftigen Männergesang von Euch Dreien, die in deutschen Volksliedern schwelgten, es muß herrlich gewesen sein.

Doch Ade, ade, leb wohl süßer Schatz und schreibe bald wieder Deiner treuen Aenni.

a irrtüml. Dopplung: helfen; b eingef.: sie; c gestr.: hast; d irrtüml.: mit; e korr. aus: mich; f eingef.: wahren; g gestr.: getäuscht zu haben; h eingef.: und

Brief Metadaten

ID
34440
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Polen
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen (Provinz Brandenburg
Zielort
Zielland
Italien
Datierung
11.03.1859
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Format
14,2 x 22,0 cm; 22,0 x 28,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34440
Zitiervorlage
Sethe, Anna an Haeckel, Ernst; Steinspring (Smolarz); 11.03.1859; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_34440