Anna Sethe an Ernst Haeckel, Steinspring, 27. Februar – 4. März 1859

Steinspring, 27.2.59.

So hast Du Deine Aenni schon verwöhnt, Du lieber Schatz, daß ich heute (Sonntag), da gestern vor acht Tagen Dein letzter Brief in Friedeberg angekommen ist, den ich freilich erst Montag erhielt, schon sehr ungeduldig werde und sehnsüchtig morgen den Briefboten erwarte, hoffentlich nicht vergebens. Für solche schwachen Momente des unruhigen Herzens weiß ich kein beßeres Mittel, als mit Dir zu plaudern, was ich ohnehin so lange nicht mehr gethan habe. Mittwoch ist mein letzter Brief an Dich abgegangen und ich denke, jetzt regelmäßig so abzuschicken. Kommt dazu, daß ich von Mutter auch sehr lange keinen Brief gehabt habe und über Herminens weiteres Ergehen also auch im Unklaren bin. Ich habe viel in diesen Tagen gelesen; im Eschricht, der mir dummen Menschen so viel Intereßantes und Neues bringt, daß ich wirklich Zeit brauche, um den Stoff allen in mir zu verarbeiten; heute habe ich über die Drüsen, die Blutbereitung und das Ein- und Ausathmen gelesen, diesen unaufhörlichen Lebensprozeß, nach deßen Wie und Warum viele Menschen, wir Frauen uns erst Recht selten fragen. Daneben habe ich jetzt nach Beendigung der Odyssee die Homerischen Betrachtungen von Osterwald gelesen, in denen mir die Verwandtschaft der alten germanischen Mythen mit den griechischen sehr auf- und gefällt, obgleich [ich] die Belege hierfür, in Erklärung von griechischen Worten bestehend, natürlich nicht verstehe. Auch Bernhard las uns in den letzten Tagen [vor], sobald Licht angesteckt werden mußte, was ja glücklicher Weise erst um 6 Uhr geschehen braucht, eina schöner Fortschritt dem Sommer entgegen, dem neuen, frischen Leben in der Natur, nach dem ich große Sehnsucht habe, wird es auch todter wie sonst für mich sein. An Spazierengehen war in den letzten Tagen nicht viel zu denken, denn es stürmte und regnete unaufhörlich, wobei ich mir stets denken mußte: hoffentlich ist es in Rom desto schöneres, ruhigeres Wetter, das Dich alle Herrlichkeiten so vortheilhaft wie || möglich sehen läßt und Dir die manchmal niedergedrückten Lebensgeister erfrischt und erwärmt. Nach den Zeitungen ist wenigstens gutes Wetter in Rom, die freilich, namentlich die gutmüthige Tante Voß, nicht immer die Wahrheit sagen.

Montag Morgen. Guten Morgen, mein Liebchen; gestern Nachmittag, als ich die vorhergehenden Zeilen schrieb, wurde ich sehr bald in dieser meiner Sonntagsfreude gestört, durch den Besuch eines Gutsbesitzers Schmeißer aus der Umgegend, der bis 10 Uhr blieb. Ihm zu Ehren mußte ich sofort sauere Sahneplinsen backen, für mich etwas Neues, die mir aber sehr gut geschmeckt haben und einem Profeßor gewiß auch nicht wenig gefallen werden, eine neue Bereicherung zur späteren Wirtschaft. Der Herr Schmeißer sprach sehr viel, erzählte alle möglichen Geschichten, die mich theils sehr amüsirten, theils langweilten, so daß ich einen Blick in die neusten Zeitungen warf, die er mitgebracht hatte. In der Kammer sind in Folge der Reichenbachschen Petition um geheime Abstimmung bei den Wahlen b von den verschiedenen Parteien intereßante Erörterungen für und wider geschehen, namentlich auch von Vincke, der entschieden dafür ist; nichts destoweniger ist zur Tagesordnung übergegangen worden. Dies ist ebenfalls in der ersten Kammer in Betreff des verwiesenen Beckhaus geschehen. Donnerstag gegen Abend hat es sich etwas aufgeklärt, so daß Bertha und ich uns noch aufmachten und Bernhard in’s Revier entgegen gingen, von Boncoeur, dem großen schwarzen Hofhunde und Venz, einem Teckel begleitet; mir lag das schöne Gedicht aus dem Roßmäßler: Wir sind nun auf dem Weltenmeer etc. so im Sinn, daß ich es laut recitirte und woran ich dabei immerfort dachte, weißt Du am besten. Sonnabend Nachmittag konnten wir einen längeren Spaziergang machen in den hübschen Wald, worüber ich sehr froh war. ||

Eben beim Umschlagen der Seite entdecke ich zufällig, daß ich gestern Dich um ein Prädikat betrogen habe, und Dich dadurch gänzlich im Unklaren gelaßen über das, was Bernhard von 6–11 Uhr uns vorgelesen hat. Solche Vergeßlichkeiten mögen wohl oft vorkommen, da ich das Geschriebene nie nachlese. Er las aus dem Gentz vor, der uns Alle sehr intereßirt. Preußens Schwäche nach Innen und Außen zu Anfang dieses Jahrhunderts erinnert mich an ähnliche Zeiten der Neuzeit, die hoffentlich mit dem neuen Aufschwung überwunden sind. Doch ichc komme auf ein für die Correspondenz verpöntes Feld. Gestern Morgen habe ich mich wieder sehr an einem Schleiermacherschen Monologen über Weltansicht erbaut; derselbe, den wir in Heringsdorf in der Sollitüde lasen. – tempi passati – Da kommt der Briefbote! Ob er wohl einen lieben, lieben Brief für mich hat! Mit diesem Gedanken springe ich ihm entgegen, komme aber mit einem langen Gesicht zurück, einen Brief hat er wohl für Bertha von ihrer Schwägerin Klara aus Frankfurt. So muß ich von Neuem hoffen und dankbar sein für die Freude, die mir in den nächsten Tagen werden wird. Ich denke ihn über Berlin zu erhalten, weil Du bis jetzt immer abwechselnd an die Eltern und mich adreßirt hast. Heute ist vollständiges Aprilwetter; bald stürmt es von Regen und Schnee begleitet, bald bricht die Sonne aus den Wolken hervor, einen kurzen Triumph über das Unwetter feiernd, dem sie aber nur allzubald wieder weichen muß. Solch Aprilwetter ist auch in meinem Herzen; bald stürmt es, bald scheint die Sonne, die hoffentlich ihre Herrschaft dort behauptet, was würde sonst ihr Apollo dazu sagen? In Italien scheint die Sonne jetzt anhaltender und hat nach den Zeitungen die Flora der Campagna wach gerufen, in der ich Dich im Geist herumstöbern sehe. Geh nur nicht in Parthien, die allein leicht Gefahren nach || sich ziehen können, ohne Begleitung oder Führer, Du risquirst zu viel dabei und setzt Deine Aenni in nicht grundlose Angst.

Dienstag Morgen. Einen recht freundlichen guten Morgen, rufe ich Dir von meinem Fenster heute zu, in das die vollen Strahlen der Sonne eindringen, die lange nicht so anhaltend und erwärmend geschienen hat. Die häßlichen Tage scheinen vorüber zu sein, leichte Zirrywolken überziehen den klaren blauen Himmel, Deine treuen Augen, die ich so lange nicht sehen soll. Es ist doch die Liebe ein eigen, unverständliches Ding, für den wenigstens, der sie nie recht an sich selbst erfahren hat. Erfüllt sie den Menschen mit der größten Wonne und läßt ihn in der Fülle des Glücks in Gegenwart des heiß geliebten Wesens für Augenblicke das Erdenleben mit seinen Unvollkommenheiten und trüben Stunden, die Keinem ausbleiben, vergeßen, wie erwacht aber erst das ganze umfangreiche Glück, das man in seinem Hingeben an ein zweites theures Wesen gefunden hat, und wie wird man sich mehr und mehr desselben bewußt, sei es in dem bangen Sehnen nach dem beßeren Ich, sei es in der inneren Befriedigung und Ruhe über das Mitfühlen und die Harmonie einer schönen Seele, ist man getrennt von diesem lieben Schatz und wartet vergebens auf ihn. Dir ist es ja selbst so gegangen, wie Du mir schreibst und ich erfahre es täglich mehr und mehr an mir. Nicht aber, daß die Trennung mich bitter machte, ich klagen und weinen könnte über das Schicksal, das mich so lange von Dir fern hält, nein, ich bin so ganz Dein, bin Dir geistig stets so nahe, daß ich auch geistig mit Dir und dem Inhalt Deiner Briefe fortlebe, die eine so schöne Brücke zwischen getrennten Menschen ist, und immer die Hoffnung auf die reiche Zukunft, gibt Gott uns ein frohes Wiedersehen, festhalte. ||

Das Ideale, was der Brautstand hat, soll sich in der Ehe verkörpern und im harmonischen Zusammenleben zweier Menschen, gerade eines männlichen und weiblichen, seinen Ausdruck finden, die mit ihren verschiedenen Begriffen, Anschauungen und Ideen vom Leben sich gegenseitig aushelfen und durchdringen können. Ich finde es sehr natürlich, daß der Mann sich den Umgang mit einem weiblichen Wesen, das einigermaßen seiner geistigen Macht und Anlagen gewachsen ist, verschafft, doch wie selten bleibt solch Verhältniß rein geistig, drum soll ein Mann in diesem geistigen Bedürfniß sich nach einer Gefährtin für’s Leben umsehen und zwar einer solchen, die nicht ganz unter ihm steht, die ihn versteht und eingeht auf das, was des Mannes Seele bewegt. Ich habe dies jetzt recht an dem geistreichen, äußerst bedeutenden Gentz gesehen, den wir gestern Abend ausgelesen haben. Dies leichte Aufflammen bald für diese, bald für jene geistige Schönheit, die, nachdem er ihr das Beste, das reine Herz genommen hat, begleitet den geistreichen Publicisten bis an sein Ende hoch in die sechziger Jahre hinein, nachdem er sich von seiner Frau und Kindern losgesagt hat; augenscheinlich, weil sie ihm nicht mehr genügt hat und in Folge deßen seinen lebhaften, ausgebreiteten Verkehr mit anderen Frauen nicht ertragen konnte. Wo unrichtig, ohne Hinzuziehung des Verstandes, der geistigen Potenz im Menschen, gewählt und geschloßen wird, da entspringt das größte Mißverhältnis aus der Ehe, wie es täglich vorkommt. Dank, unendlichen Dank, lieber Erni, daß wir Beide das nicht zu fürchten haben, Deine Aenni nimmt lebhaften Antheil an Deinen Intereßen, die der Beruf und das Schöne in Kunst und Wißenschaft außer Deinem Beruf, für Dich hat und wird noch immer mehr lernen sich da hineinzuleben und trotzdem die Sorge für’s Haus, die in meine Hände gegeben ist, nicht zu vernachläßigen. Wieder komme ich in Zeiten hinein, die für uns Beide noch nicht da sind, und gebraucht der Mensch so gern dies Hülfsmittel, um die Gegenwart rascher und ungetrübter hinwegzuzaubern. Ich habe aber || diesmal eine Entschuldigung. Gentz’s Leben nach Innen und Außen, das ich keineswegs billigen kann, hat mich auf dies für Dich jetzt vielleicht langweilige Kapitel gebracht, einmal weil es als im Bereich der Unmöglichkeit liegend, an Dir vorüber geht und dann ist Dein Geist jetzt zu sehr mit den Werken der Vergangenheit beschäftigt, um ihm Flügel zu leihen für die fernen Zeiten. Du verzeihst aber Deiner Aenni, wenn sie ihren natürlichen Gefühlen folgt, selbst wenn es nicht die richtigen sind.

Was sagst Du dazu, mein lieber Schatz, daß ich eben am 1 März 7 Uhr Abends von einer reizenden Landpartie zurückkehre. Gleich nach Tisch um 1 Uhr setzten wir Drei uns auf, um nach Dolgen, einem Gute des Herrn v. Brandt, Eures liebenswürdigen Mitbewohners, zu fahrend, d. h. in einen Gasthof zum Freischützen, an einem herrlichen rings bewachsenen großen See gelegen, fuhren [!]. Die Fahrt war schon sehr hübsch, immer durch grünen Kieferwald, wo an einzelnen offeneren Stellen prächtige alte Häupter sich schüttelten, die mich an die schönen Exemplare auf der Pfaueninsel erinnerten. Die Sonne hatte sich leider wieder verkrochen, allein in Dolgen, als wir nach einem guten Gasthofskaffee am See umhergingen, trat sie wieder aus den Wolken hervor und warf ihre leuchtenden Strahlen gerade auf den klaren, schön geformten See, ringsherum mit tiefen Einbuchtungen eingeschnitten, in welche die frischen Kiefern lange Schatten hinabwarfen und herrlich abstachen gegen das allmählich vorblickende Tiefblau des Himmels. Ich war wieder einmal ganz entzückt über die liebe Natur, die ich lange nicht so schön gesehen hatte. Nach dem Gasthof zurückgekehrt, schloß Bertha noch einen Hühnerkauf ab, wobei ich ihr in der Wahl der Hühner, mit denen sie ihre Hofbewohner vermehren will, behülflich sein mußte. Heute gehen die vier neuen Hühner, getrennt von den andern, ganz allein ihren Weg. Ob sie wohl Heimweh nach den anderen Gefährten haben und sich vielleicht nicht mit den fremden Thieren verständlich machen können? Der Gedanke einer Sprache der Thiere drängt sich mir || hierbei wieder unwillkührlich auf. So verfolge auch ich jetzt still meine Bahn, ohne mich viel um andere Menschen zu kümmern. Das Thier kennt also eben so gut wie ich das Heimathsgefühl und sieht sich ungern von den Wesen getrennt, mit denen es lange Zeit zusammengewohnt, ihren Brosamen getheilt, kurz auf’s Innigste verkehrt hat. Instinkt kann man diese lebhaften Gefühle doch wohl nicht mehr nennen; die Grenze ist schwer zu ziehen und ob wir sie übersteigen können oder dürfen, ist Alles Räthsel, das wahrscheinlich nie gelös’t werden wird. Auf dem Hofe, dem Tummelplatz des kleinen Hühnerstaates, der aus 70 Individuen bestand, sollte ich kurz vor der Abfahrt noch einen neuen Reiz fürs Auge haben. Die untergehende Sonne beleuchtete mit ihrem rothen geheimnißvollen Licht gerade eine kleine Anhöhe, von hochstämmigen Kiefern bewachsen, zu deren Füßen eine Schafherde weidete. Das war ein Bildchen wie zum Aquarell geschaffen, wärst Du nur dort gewesen! Doch sind die Versuchungen hiezu in Rom und Umgegend jetzt lockender; hast Du schon einmal gemalt, oder ist es noch zu kalt. In dieser Woche wirst Du schwerlich aus den Mauern herauskommen, denn der Karneval muß nach meiner Berechnung schon seinen Anfang genommen haben.

Mittwoch 2.3. Mit dem guten Morgen werde ich es heute wohl bewenden müßen, denn aus dem Schreiben wird nicht viel werden; meine Pläne, diesen Brief heute, wie den letzten am Mittwoch abzuschicken, werde ich aufgeben und warten, ob nicht heute endlich ein Brief eintrifft.

Freitag 4.3. Aus dem heute e Mittwoch ist zwar Donnerstag geworden, doch ich bin überglücklich über die neuen, guten so hoffnungsreichen Nachrichten von meinem lieben, lieben Schatz, daß ich statt Deiner das liebe Bild umarmt und geherzt und geküßt habe. Wie betrübt es mich aber, lieber Erni, daß Du so lange die Wonne eines Briefes hast entbehren müßen, woran ich theilweis schuld bin und mich sehr anklage, nicht zeitiger die Briefe abgeschickt zu haben. Sechs Briefe habe ich im Ganzen || abgeschickt und nach Deinem gestrigen Briefe hast Du erst zwei bekommen; das ist gar zu bitter, ich wäre kreuzunglücklich in Deinem Falle; doch hoffe ich jetzt bestimmt, selbst wenn die Briefe bis Rom volle acht Tage gehen, wie Dein letzter mit dem Postzeichen Rom d. 23 Februar am 2 März in Berlin und am 3 bei mir angekommen ist, daß beide nach Rom am 19 und 23 abgeschickten Briefe in Deinen Händen sindf und in Folge deßen die beiden Florentiner Dich recht bald erfreuen, das ist mein einziger Trost. Dein Brief namentlich der mit der Ansicht vom schiefen Thurm ist so herzig und lieb, daß es mir schwerg werden wird, ihn wieder fortzuschicken. Noch heute will ich mich an’s Abschreiben begeben und die Bitte Deiner Eltern um recht baldige Rücksendung erfüllen; um so mehr, da derselbe eine wesentliche Aufheiterung für die Mutter sein wird, die in Folge eines Hexenschußes, wie Dein Alter mir gestern schreibt, in sehr unangenehmer, verzweifelter Stimmung ist; ängstige Dich aber deswegen nicht, denn Quincke hält dies Unwohlsein weder [für] bedenklich, noch langwierig, wie Du Dir als Doktor das selbst sagen wirst. Ich freue mich nur, daß Ottilie Lampert dort ist, damit die Häuslichkeit, der gute Alte nicht unter dem Kranksein zu leiden haben und Tante Lotte selbst eine gute Pflege hat. Außerdem enthält der Brief vom Alten eine Trauernachricht, die mir sehr nahe geht, der Tod von Onkel Bleek, der nach meinen Vermuthungen am 27 oder 28 am Schlagfluß gestorben ist; welch ein harter Schlag es für eine Familie ist, wenn ihr das Haupt entrißen wird, habe ich ja selbst auf’s Schmerzlichste vor nicht zu langer Zeit erfahren. Der Tod schlägt gewaltige Lücken und kommt immer zu früh, selbst wenn seine Vorboten schon widerholt sich gezeigt haben, wie es beim Onkel ja der Fall gewesen ist. Noch vor drei Wochen schrieb mir Mutter von einem neuen ängstlichen Anfall, den Onkel Bleek gehabt habe, im darauf folgenden Briefe aber wieder gute Nachrichten. Ob der Tod plötzlich oder schmerzhaft eingetreten ist, davon weiß ich Alles nichts; Theodor und || Marie sind Montag nach Bonn abgereis’t, um dem Begräbniß des Vaters am 2 beizuwohnen. In dem Gedanken hieran klingen die trüben, ernsten Seiten meiner Lebenserfahrungen alle an und nur Du allein mein lieber Schatz kannst Harmonie in die verworrenen Mißtöne bringen und machst mich in Deinem Besitz so glücklich, daß aller Kummer weicht und himmlische Ruhe in’s Herz schleicht. Ich habe nie daran gezweifelt, daß Du große Vortheile für Dein ganzes Leben, inneres und äußeres aush der Italienischen Reise ziehen würdest und in dieser Beziehung wie überhaupt mit Rücksicht auf alle Natur- und Kunstgenüße, die Dir auf derselben werden, mich in Deinem Sinne sehr über das Unternehmen gefreut habe. Daß Du aber schon so bald zu dieser kernigen, richtigen Überzeugung gekommen bist, mein guter Erni hat mich sehr überrascht. Das Leben wird einen neuen Reiz für Dich bekommen, indem Du Dein Ich der Gesamtheit der Menschen unterordnest, Dich als Glied der großen Kette fühlst, die vom Himmel ausgeht und im Himmel endet, kurz wenn Du Dich in das reale, concrete Leben mit anderen Menschen findest, und Dich nicht gänzlich in ein abstraktes Gefühlsleben verlierst, wozu Du freilich große Anlage hattest; Deine Aenni behält darum immer ihren sicheren, festen Platz in Deinem Herzen, so wie überhaupt die Lieben, die Dir am nächsten stehen. Und in diesem weltbürgerlichen Gefühle wirst Du recht eigentlich zum Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen gelangen, deßen Mangel Dich immer so schwankend, so unrichtig bescheiden und theilweis untüchtig zur Arbeit machte; die Berechtigung jedes einzelnen Individuums, die durch’s Christenthum erst in’s Leben gerufen worden ist, fühle ich immer klarer und klarer durch, denn durch sie wird der Mensch eigentlich erst zum Menschen, der freien, unbeschränkten Entäußerung seiner Gedanken und Begriffe fähig. Ich kannte Dich gar zu gut, mein lieber Schatz, um nicht zu wißen, wie ich Dir es ja auch wiederholt ausgesprochen habe, daß Harmonie in Deine verworrenen Anschauungen kommen würde, daß Du neben Deiner || mit vollem Recht heiß geliebten Wißenschaft noch eine tiefe Herzensneigung zu einem einzelnen Menschen haben könntest, was Du vor Jahren für unmöglich hieltest, daß Du ferner bei Deinem anfänglichen Verlieren in das Liebesleben mit Deiner Aenni und dem abstrakten Gedanken, ihr die Wißenschaft opfern zu müßen, es jetzt für möglich hältst, Beides zu vereinen und miti neuem frischen Eifer an Deine Lieblingsstudien gehst und daß Du endlich nun auch in der Fremde lernst, Intereße für andere Menschen zu haben und sie zu Gunsten Deiner Aenni nicht ganz zu vernachläßigen. Herzlieber Schatz laß Dich umarmen und Dir einen innigen Kuß von Deiner Aenni geben, die Dich nun noch einmal so lieb hat, wenn das überhaupt noch möglich wäre, seit sie weiß, daß Ruhe und Frieden in Dein Herz einkehren, um sich nie wieder dort vertreiben zu laßen. Ich konnte drum nie Deine bangen Zweifel theilen, die hin und wieder aufstiegen und unser reines Glück trüben wollten, ich wußte, daß sie eines Tages in Nichts zusammensinken würden und wünschte Dir diesen Zeitpunkt immer so schnell wie möglich herbei. Deine Reise nach Rom muß sehr schön gewesen sein, namentlich die Naturbilder, die sich da vor Dir aufgerollt haben; daß Du wenigstens Blumen an Deinem Geburtstag gesehen hast, unter denen das herzige Veilchen (Reimerscher Garten am 2 Mai!) nicht fehlen durfte, freut mich sehr, die haben Dich gewiß von Deiner Aenni gegrüßt, die Dir an dem Tage einen kleinen Waldgruß zugedacht hat und mit ihren Gedanken nicht von Dir ließ. Daß Du obenein noch hast Hunger leiden müßen, hat gewiß nicht wenig zur ungemüthlichen Stimmung beigetragen; hätten Dich doch die Kartoffelkuchen mit Fett erreichen können, in denen wir auf Dein Wohl geschwelgt haben. Warte nur, in der Zukunft sollst Du immer durch Ribbespeer und Chokoladensuppe für Deinen 26sten traurigen Geburtstag entschädigt werden. Ob wir das in Würzburg verzehren werden, frage ich oft und viel, wenn ich mit Zukunftsträumen bei der Arbeit beschäftigt || bin. Ich bin sehr begierig auf Deine weiteren Reisepläne, namentlich da der Alte Dir vorschlagen will, April und Mai nach Sicilien zu gehen, die Sommermonate nach Neapel und dann wieder nach Sicilien. Ob dies zweckmäßig ist, wirst Du dort am besten erfahren; nur bitte ich Dich in Rom nicht zu kurz zu verweilen, wer weiß wann Du es wieder siehst. Mittwoch wollten wir eigentlich nach der Stadt d. i. Driesen fahren, um sehr viele nöthige Besorgungen zu machen; häßliches Wetter und Schwerfälligkeit von Bertha verhinderten uns daran und statt deßen fuhr Nachmittag der Oberförster Langefeldt mit zwei Töchtern, dem Mann der einen und zwei Forstkandidaten vor, die bis10 ½ Uhr bei uns blieben. Die Herren spielten Whist eine Zeit lang, während welcher Zeit ich den Damen auf vieles Quälen Deine Gotthardpaßage vorlesen mußte, die sie sehr intereßirte. Gestern fuhren wir bei herrlichem Frühlingswetter schon um 1½ Uhr nach Driesen, trieben uns bis 7 Uhr in den engen, grauenhaft gepflasterten Straßen des freundlichen Städtchens umher und fuhren dann zu einer Familie Mentheim (er besitzt eine große Porzellan- und Steingutfabrik) in Vordamm, wo wir einen sehr netten Abend verlebten. Er ist ein gescheiter, scharfer Verstandesmensch, seine Frau sehr lebhaft und unterhaltend und die beiden Töchter, von denen die eine, 18 Jahr alt schon Mutter und Wittwe ist, habe ich auch sehr gern. Ich kannte sie schon von Berlin her, wo sie früher in Pension waren und habe sie vor zwei Jahren, als ich hier in Steinspring war, öfter gesehen. Um 1 Uhr von dort zurückgekehrt fand ich den heiß ersehnten Brief vor, der mich noch eine Stunde auf und noch lange im Bett wach hielt. Hab Dank, Du lieber Schatz, daß Du so fleißig schreibst; daran habe ich es freilich auch nicht fehlen laßen, aber Du hast keine Freude, sondern nur Entbehrungen davon gehabt. Ich will noch ein paar Zeilen nach Bonn an die betrübten Bleeks schreiben, für heute sage ich Dir Lebewohl und schreibe Dir bald wieder. Laß Dir es ferner gut gehen und behalte mich so lieb, wie Dich von Herzen lieb hat

Deine treue Aenni.

a korr. aus: eine; b gestr.: verschied; c eingef.: ich; d irrtüml.: fuhren; e gestr.: ist; f eingef.: sind; g korr. aus: schwerden; h korr. aus: von; i eingef.: mit

Brief Metadaten

ID
34439
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Polen
Entstehungsland zeitgenössisch
Königreich Preußen (Provinz Brandenburg)
Zielort
Zielland
Italien
Datierung
04.03.1859
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
11
Umfang Blätter
6
Format
14,2 x 22,0 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34439
Zitiervorlage
Sethe, Anna an Haeckel, Ernst; Steinspring (Smolarz); 04.03.1859; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_34439