Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Steinspring, 8.11. Februar 1859

Steinspring 8.2.59.

Mir ist ganz wunderbar zu Muthe, mein lieber Erni, daß ich seit Freitag Morgen gar nicht mehr geplaudert habe mit Dir; ich kann mich noch gar nicht an die spärliche Correspondenz gewöhnen und warte von Tag zu Tag auf einen zweiten Brief, der mir gute Nachrichten von meinem Schatz bringen soll, mir sagen soll, daß er sich geduldig in die Trennung findet, nach einer glücklichen Reise, das Herz erfreut an allen herrlichen Kunstgenüßen, die Florenz la bella ihm bietet. Äußerlich bin ich schon viel ruhiger geworden, aber innerlich glüht die ewige Flamme der Liebe in hellen Funken auf, die zwar nie verlöschen soll, aber gleichmäßig und vor Auflodern bewahrt werden muß: denn „furchtbar wird die Himmelskraft, wenn sie der Feßel sich entrafft.“ Wilde Träume regen auch Mutter auf; wirkst Du auch nicht immer in ihnen mit, so werde ich durch sie zu allerlei Befürchtungen und quälender Angst um mein Liebstes, Bestes auf Erden geführt, allein ich verbanne auch wieder solche häßlichen Gedanken; meine tiefe Religion, ohne die ich jetzt am allerwenigsten fertig werden könnte, sagt mir immer, Dein Ernst steht in Gottes Hand, die ihn treulich beschützen und ihn Dir wieder heimbringen wird. Mit diesem Troste schlafe ich ein, mit ihm wache ich auf und verdanke ihm meine Munterkeit und Frische den ganzen Tag über. O Erni, nur die sich so durch und durch kennen und wahr gegeneinander sind, wie wir, können heiß und innig lieben, werden stark und fest in dieser geistigen Gemeinschaft und trotzen der Welt und den Schwächen der Menschen. Ich habe jetzt großen Genuß durch das Lesen des „Vogels“, den ich schnell zu Ende lesen muß, weil Agnes ihn an einem bestimmten Tage abliefern muß. Ich bange mich jetzt schon vor dem Ende, obgleich ich erst mitten darin bin; ich habe Michelet sehr lieb gewonnen, er hat viel Ähnliches mit Deiner Natur. Nach dem Vogel lese ich noch die Aufsätze im Insekt, die ich liegen laßen mußte. Michelet hat einen reinen, frommen Natursinn, wie mein Erni, stellt wie Er die Thiere sehr hoch, den Vogel als den dem Menschen am nächsten stehenden, ja [der] in vieler Beziehung ihm vorzuziehen ist. Unabhängig, ungebunden an den Raum, durchsegelt er die Lüfte, dem || Lichte zu, das er noch mehr liebt, wie jedes andere lebende Wesen, weil sein zarter gebrechlicher Körper Nachts, nur ein Blatt als Dach, in beständiger Gefahr lebt, weßhalb die Vögel bei Sonnenuntergang wirr und unstet umherfliegen; die harmonische Ergänzung in der Natur führt er sehr hübsch aus in Beziehung auf die Vögel; man muß nicht in dem Buche die Naturgeschichte, d. h. die organische Zergliederung aller Vögel, erwarten; es ist weit idealer abgefaßt, das Familienleben der Vögel, ihre Abhängigkeit vom Klima, ihr großer Nutzen selbst da, wo die Menschen nur Mörder und Vernichter in ihnen sehen, ihre Liebe zu den Menschen und die persönliche Berechtigung, die auch der kleinste hat, schildert Michelet in den frappantesten und intereßantesten Beispielen. Ich staune, wie viel der Mensch vom Vogel lernen kann; wie viel Geduld, Mutterliebe und sorgsame Pflege beweis’t nicht die kleine Schwalbe, die in ihrem dem Wind und Wetter ausgesetzten Neste ihr nacktes hülfloses Junge auf’s Sorgfältigste heranzieht, bis es fliegen kann, dem Vaterhause enteilt und sich munter in der Luft umhertummelt! Glückseliger Vogel, steckte ich in Deiner Haut, ich könnte ja zu meinem Erni fliegen, ihn grüßen und küßen und glücklich sein! Doch ich will nicht undankbar, nicht unwahr sein, glücklich bin ich ja, wenn ich meinen Ernst gesund und frisch weiß. Heute vor acht Tagen hatte ich Deinen ersten Brief, ach brächte mir der Postbote nur heute auch einen; er kommt immer gegen Mittag, bis dahin hoffe ich. Heute wirst Du auch meinen zweiten Brief bekommen haben, da kann ich mich doch über Deine Freude mitfreuen. Ich verspreche Dir auch nochmals, wenn ich länger auf einen Brief warten muß, mich nicht zu ängstigen. Mir geht es ganz gut, Ich stehe um 6 Uhr auf und gehe gegen 11 Uhr zu Bett; Bernhard will eigentlich um 10 Uhr haben, allein ich laße gewöhnlich 11 Uhr herankommen, denn vor 12 Uhr schlafe ich doch nicht ein und zwei Stunden wach im Bett zu liegen, kommt mir wie Zeitverschwendung vor. Zuerst lese ich etwas, da vor 7, 7½ Uhr nicht gefrühstückt wird, wobei Klärchen sehr niedlich im Zimmer umher puselt. Das kleine Ding, Schneppe, wie Bernhard sie nennt, hat Bertha’s Heiterkeit und leichten || Sinn von der Natur mitbekommen; den ganzen Tag ist sie vergnügt; beschäftigt sich sehr nett und freut sich über die geringste Kleinigkeit; dabei plappert sie Alles nach und kann Einen mit ihren großen blauen Augen so verständig ansehen, als verstünde sie Alles. Respekt scheint sie vor [ihrer] Tante nicht zu haben, denn sie nennt [mich] mit eiserner Konsequenz Anna. Bertha und Bernhard haben eine rührende Freude über das Kind; Bertha ist wohl, aber sehr schwerfällig, weßhalb sie sehr froh über meine Hülfe ist. Morgens besorge ich mit ihr die Wirtschaft und sitze um 10½ oder 11 Uhr an meinem Fensterchen, oder wie jetzt am Tische, um meinen einseitigen Gedanken einen Ausdruck zu geben und sie dem Liebsten zukommen zu laßen. Bernhard ist meist den ganzen Morgen im Revier; um 12 Uhr wird Mittag gegeßen nachher spazieren gegangen; wenn das Wetter gar zu rauh und windig ist, wie gestern schläft Bertha, ich lese. Um 4, 4½ Uhr wird Kaffee getrunken; in der Schummerstunde beschäftige ich mich ausschließlich mit Klärchen, und nachher bei der Lampe sitzen wir Alle beisammen, wenn Bernhard nicht noch draußen beschäftigt ist. Um 7 Uhr wird Abendbrod gegeßen und nachher lies’t Bernhard uns vor; ein paar Abende aus dem Michelet, jetzt eine Novelle über die Wiedertäufer, die sehr auf Graulen hinausläuft, bei mir aber in diesem Punkte abprallt. So vergeht ein Tag nach dem anderen, und wir leben harmlos und gemüthlich zusammen. Sonntag kam Abwechselung hinein, auf die ich aber ganz gern verzichtet hätte. Mittags wurde viel Deiner gedacht, denn es gab dein Leibeßen, Schweinerippe; um 2½ Uhr fuhren wir Drei ab und waren um 4 Uhr in Driesen; die Luft war sehr schön, nur sehr windig. Wir wollten eigentlich den Oberförster besuchen, einfache ganz nette Leute; da sie nicht zu Haus waren, fuhren wir zum Rentmeister von Rabiel und blieben dort bis 11½ Uhr. Außer Oberförsters, war noch ein anderer Oberförster Schumann mit seiner Frau, sehr angenehme Leute, mit denen Petersens viel verkehren und einigen andern Familien dort. Ich war auf Frl. Langefeld, die Tochter vom Oberförster, drei Frl. Krugmann (sehr kleinstädtischer Typus), deren Bruder und zwei Forstkandidaten, mit denen wenigstens ein vernünftiges Wort zu sprechen war, angewiesen. Meine größte Freude war der schöne Gesang von Frau v. Rabiel. || Sie sang das Ständchen von Schubert, Goldschmieds Töchterlein und mehrere andere kleinere Sachen, die natürlich alle von Liebe handelten, ganz allerliebst. Die Rückfahrt war sehr hübsch; der Wind hatte sich gelegt, die Luft sehr milde; ich war glücklich, wieder in der freien Natur zu sein und ungestört meine Gedanken nach Italien spazieren laßen zu können. Freitag Nachmittag erhielt ich einen Brief von Mutter; zu meiner großen Freude geht es ihr viel beßer, so daß sie Sonnabend und gestern große Soireen gehabt hat, denen ich glücklicher Weise aus dem Wege gegangen bin. Leider meldet der Brief wieder von einem wiederholten Zufall, den Onkel Bleeck gehabt hat und ebenso, daß Mariechen wieder sehr kränkelt. Die zu dem Brief gehörige Liste mit vergeßenen Sachen und sehr willkommenem Rollkuchen bekam ich erst Sonnabend Abend; zu meiner Freude entwickelte sich aus derselben auch ein Brief von Deiner guten Mutter, wonach es den beiden Alten sehr gut geht und sie fast täglich schwimmen. Ottilie Lampert scheint noch nicht bei ihnen zu sein. Gewiß hat sie ihr Versprechen, nicht zu schreiben, auch Dir nicht gehalten und dem auch von Berlin aus nach Florenz abgeschickten Brief einen Gruß beigefügt. Sonnabend kurz nach Tisch machten wir einen sehr hübschen Spaziergang in den Wald, wo die Vögel in den grünen Kiefern so lustig sangen, das Wetter so milde, daß ich mich unwillkürlich nach Heringsdorf hinversetzte und in Gedanken manchen Spaziergang und längeren Aufenthalt im Walde mit Dir machte. Hierbei wurde ich durch das Mittagbrod unterbrochen und eben komme ich aus dem Haßelgrund zurück, einer sehr hübschen kleinen Schlucht dicht mit Laubholz bewachsen, jetzt natürlich dürr bis auf ein paar hohe Kiefern, die stolz ihre grüne Krone emporhalten, gleichsam als wollten sie sagen, im Sommer magst Du uns nicht und gehst an uns vorüber und jetzt mußt Du Dich doch über uns freuen, wo Deine lieben Laubhölzer grau und ohne Schmuck dastehen. Ich habe ihnen auch abgebeten und mir einen kleinen Kieferzweig mitgebracht und unter Dein Bildchen gesteckt, ihm also das beste Plätzchen angewiesen, das ich auf der weiten Welt habe. Wenn ich oft nach Deiner Schulter hinblicke, wo a mein Kopf so oft geruht hat, schleicht sich eine Thräne in’s Auge, aber Deine Änni schluckt sie herunter und denkt frischen, frohen Muthes der Zukunft entgegen. ||

Gestern hatte Bernhard Jagd von Morgens 8 Uhr bis Abends 6 Uhr und brachte einen Hasen mit heim, ein Geschenk vom Oberförster Langefeld; ich hatte viel mit Bertha im Haus umhergewirtschaftet und etwas in meinem lieben Vogel gelesen, den ich ja morgen abschicken muß und noch 200 Seiten zu lesen habe. Ich werde also wohl aufhören müßen zu plaudern, so ungern ich es auch thue. Am liebsten läse ich Dir das Buch vor, es würde Dir gefallen. Die Zeitung bringt täglich der Postbote mit, in der ich Sonntag las, daß der Cottbuser Hartmann, Schwiegersohn von Tante Sack an Onkel Julius’ Stelle Oberstaatsanwalt in Berlin geworden ist; da wird Onkel Julius wohl auch seinen Abschied bekommen haben.

Ehe ich den heutigen Tag beschließe, denn gleich soll Abendbrod gegeßen werden und dann lies’t uns Bernhard vor, muß ich Dir noch eine gute Nacht wünschen und Dir ein bischen vom Vogel erzählen, der nach dem Schluß hin immer feßelnder wird, so daß es mir recht fehlen wird. Wie viel ich dabei an Dich denke, wirst Du Dir selbst sagen können. Der specielle Aufsatz über den Nesterbau der Vögel und die Erziehung der Jungen ist so herzig und mit solchem Intereße an den Thieren geschrieben, daß mir immer zu Muthe war, als verkehrte ich mit lieben, mir ganz nahe stehenden Menschen; Dir die einzelnen Details alle zu sagen, würde mein Brief viel zu dick werden. Gute Nacht denn süßer Schatz, wüßte ich nur, wo Du sie zubringst.

Mittwoch d. 9. Mein erster Gedanke heute beim Erwachen war wie immer an Dich, mein herzlieber Schatz, doch heute acht Tage vorgreifend mit ganzer Seele bei Dir. Es wird mir sehr schwer werden, an Deinem Geburtstage nicht bei Dir sein zu können, und Du wirst die Deinen in der Fremde noch mehr vermißen. Ich will Gott bitten, Dir ein recht glückliches, erfolgreiches Jahr zu schenken, Dich väterlich zu beschützen, mich Dir gesund zu erhalten, so daß wir über’s Jahr ein frohes Wiedersehen feiern können, vor allem laße er die Sonne recht hell und freundlich leuchten, wie sie jetzt mir auf’s Papier fällt, daß sie mit ihren Strahlen Dein Herz erwärme und den Süden mit allen seinen Reizen und Genüßen Dir nicht entgehen laße in der Sehnsucht nach dem Norden. Der Geburtstag ist doch ein gar mächtiger Tag; man wird älter und älter, hat wieder ein ganzes Jahr hinter sich liegen; wohl dem, der zufrieden auf das vergangene zurückblicken kann! Du kannst es ja, mein lieber Erni; hast Du vielleicht auch nicht soviel geleistet und scheinbar nur Arbeitskraft verloren im vergangenen Jahr, darfst Du doch wohl nicht den Grund hiervon ganz verdammen; das letzte Jahr ist wohl das wichtigste für uns Beide gewesen, weil wir darin den Grund für unsere ganze Zukunft gelegt haben, Gott gebe für eine glückliche, ach Ernst, ich bin so ganz Dein, und fühle deine Seele so innig mit mir verschmolzen, daß ich unmöglich an einen Vorwurf von Deiner Seite über den gethanen Schritt denken kann; verdiene ich Dich vielleicht jetzt noch nicht, so will ich danach ringen, immer uneigennütziger, ruhiger und milder zu werden, und Deiner schönen, reinen Liebe würdig zu werden und Du Dich nicht in Deiner Aenni geirrt hast. Ich gebe Dir in Gedanken einen recht innigen Geburtstagskuß, der sammt den Augen viel beredter sprechen kann, als die dumme Feder, die immer nicht will, wie ich will. Ich wollte eigentlich heute schon den Brief abschicken, damit Du ihn sicher am nächsten Mittwoch hast, allein ich werde nicht mehr fertig werden, da ich mich mit dem kleinen Kranz etwas aufgehalten habe. Dir gar keine Freude machen zu sollen, wäre mir unmöglich gewesen; schicken sollte und konnte ich keine Arbeit, die Du nunb bei der Rückkehr empfängst, da war guter Rath theuer; Blumen gibt es hier gar nicht, namentlich in dieser Jahreszeit; da hat die liebe Natur Rath geschafft; was der kalte Norden im Februar bietet, habe ich Dir unter den Bäumen aufgerafft, Dir einen kleinen Kranz davon gewunden, der merkwürdiger Weise zwei bekränzt, ein kräftiges entwickeltes Moosstämmchen und ein schwaches, zartes an seiner Seite, das aber eng zu ihm zu gehören scheint, denn die Wurzeln sind ineinander verschlungen. Dem kleinen Wesen ist ja der 16 Februar auch der schönste Tag, drum will es mit bekränzt sein. Wo ich die Blumen suchte, auf einer kleinen Anhöhe, unweit des Hauses, hatte ich einen schönen Blick in das Netzbruch; je weiter sich die fruchtbare, weite Ebene ausdehnte, desto weiter und weiter gingen meine Gedanken darüber fort und das schöne Gedicht Goethes mit seiner tiefen Wehmuth kam mir in den Sinn, das ich in der Person natürlich für mich anpaßte:

Da droben auf jenem Berge

Da steh ich tausendmal,

An meinem Stabe gebogen,

Und schaue hinab in das Thal.

Dann folg ich der weidenden Heerde,

Mein Hündchen bewahret mir sie;

Ich bin herunter gekommen

Und weiß doch selber nicht wie.

Da stehet von schönen Blumen

Die ganze Wiese so voll,

Ich breche sie, ohne zu wißen

Wem ich sie geben soll. (?) ||

Und Regen, Sturm und Gewitter

Verpaß ich unter dem Baum.

Die Thüre dort bleibet verschloßen;

Denn alles ist leider ein Traum.

Es stehet ein Regenbogen

Wohl über jenem Haus!

Sie (Er)c aber ist weggezogen,

Und weit in das Land hinaus.

Hinaus in das Land und weiter

Vielleicht gar über die See

Vorüber, ihr Schafe, vorüber!

Dem Schäfer (Der Schäferin) ist gar so weh.

Heute Mittag habe ich meinen Vogel beendet und sehr befriedigt, Agnes das Buch zurückgeschickt. Auch Michelet erkennt in den Thieren, hier also in den Vögeln eine Seele, sonst wäre ihr Leben nicht zu verstehen und sehr schön fügt er hinzu: Ist Gott nicht viel großartiger sich zu denken als Schöpfer von Wesen mit Seele und Willen, als von Maschinen? Nach ihm stehen die Vögel dem Menschen am nächsten, ja haben diesem drei bedeutende Vortheile voraus: die Flügel – den Flug und dadurch bedingt die vollkommene Athmung und Luftbildung und das weit schärfere Gesichtsorgan. Ich werde jetzt die Physiologie von Eschricht lesen, worauf ich mich sehr freue und gewiß Vieles daraus lernen werde. Und wem verdanke ich alle diese Genüße, die mir in der Einsamkeit geblieben sind? Meinem lieben, herzigen Schatz, dem ich nochmals sehr dafür danke. Schon wieder ist ein Tag hin und ich habe vergeblich auf einen Brief gehofft; wüßte ich Dich nur erst sicher in Florenz! So will ich denn auf morgen hoffen und Dir für heute gute Nacht sagen.

Donnerstag. Heute Morgen bin ich wieder nicht zum Schreiben gekommen und wie gut, sonst hätte der Postbote heute Mittag meinen Brief mitgenommen; statt deßen bringt er mir die bekannte Adreße Deiner Mutter, bei der ich laut aufjauchzte, denn ich weiß ja, was sie enthielt. Gott sei Dank, daß du glücklich die gefahrvolle Straße paßiert hast; gut daß ich die einzelnen damit verbundenen großen Schwierigkeiten nicht vorher wußte, sonst wäre ich noch besorgter um Dein Leben gewesen. Daß Du nach überstandener Gefahr eigentlich froh warst, sie gehabt zu haben, kann ich mir lebhaft denken, denn die mir ihr eng verbundenen Reize, die die Natur in ihrer Furchtbarkeit bietet, sind ja für Dich die größte Freude. Freilich scheint diese nach Deinem Brief sehr abgenommen zu haben, woran ich schuld bin. Ach gewiß wird Dir’s sehr schwer werden, Alles Schöne allein zu genießen und wo die Schönheit von düsteren, trüben Wolken verdunkelt wird, wäre ich vielleicht erst recht zur Stelle, um mit meinem frischen, glücklichen Sinn die düsteren Wolken auf Deiner Stirn zu verbannen. Es kann nun aber einmal nicht sein, lieber Schatz, drum wollen wir uns recht gut darin finden. Das Wörtchen „Muß“ ist ein prächtiges Mittel, d die Trennung zu ertragen, die für uns Beide gut ist und Deinem Fortbekommen so unbedingt wichtig ist. Glück hast Du bei allem Unglück wie immer gehabt, denn die Empfehlung Schenks an den Profeßor Greßbach und durch diesen an den Posthalter Jauch in Altdorf, ist Dir doch bei der schwierigen Paßage von großem Nutzen gewesen; schlimm ist doch für den Gedankengang die weite Entfernung, denn nach dem Wetter hier und in Frankfurt zu urtheilen, hätte ich keinen so starken Schneefall auf dem St. Gotthard vermuthet, der Dir Wagen und Pferd bald verschüttet hätte. Eigenthümlich muß der plötzliche Wechsel der Witterung beim Hinaustritt aus dem Hauensteintunnel gewesen sein, so zu sagen vom Frühjahr plötzlich in den Winter; uns wird hier gewiß noch ein Ähnliches bevorstehen, denn dies milde, sonnige Wetter, was wir schon seit Wochen hier haben, kann doch unmöglich Winter vorstellen, der vermuthlich noch recht spät eintreten wird und dann die jungen Knospen der Bäume erstarren machen, über die ich mich auf unseren Spaziergängen immer gefreut habe. Ich bin sehr begierig, wie Du es in Florenz findest; ich hoffe sehr, daß der Frühling mit aller Herrlichkeit und Frische dort schon eingekehrt ist und Dich in der Erinnerung des schönen Mais des vergangenen Jahres nicht trübe stimmt, sondern dankbar für das Glück, das Du mir gegeben und Dir gewählt hast. In Würzburg Deine alten Bekannten gesehen und gesprochen zu haben, ist Dir gewiß eine große Freude und von Nutzen gewesen. Wenn Deine Empfehlungen alle ein williges Ohr finden, muß Dir’s in dieser Beziehung gewiß gut gehen. Den Vierwaldstädtersee denke ich mir eben seiner Einbuchtungen wegen sehr schön, eben so den Lago maggiore, den Du ja auch wohl noch nicht kanntest. Gerade im Winterschmuck müßten die Alpen erst recht großartig sein und für Dich doppelt intereßant, einen Vergleich zur sommerlichen oder vielmehr herbstlichen Färbung, in der Du sie gesehen || hast. Ich freue mich ungemein, daß Du in Genua meinen Brief richtig erhalten hast, da darf ich hoffen, Dich in Florenz durch meinen Brief erfreut zu haben. Schreibe mir doch, ob die Adreße so richtig ist; ich werde auf diesen Brief noch via Marseille hinzusetzen, weil ich dies auf Deinem Brief gesehen habe; ist’s nicht recht, sagst Du mir’s wohl. Wohin ich den nächsten Brief zu adreßiren habe, weiß ich gar nicht, muß also erst Deine weiteren Pläne wißen; bleibe nur nicht zu kurz in Florenz, das so sehr viel Schönes bietet. Du mußt nur immer denken: „Wer weiß, ob ich jemals wieder hin komme“, und nachher thut Dir’s noch leid, Alles so im Fluge gesehen zu haben, ohne ein befriedigtes Bild heimzubringen worauf Deine Aenni sich schon spitzt. Ach Liebchen, wie ruhig, werde ich heute einschlafen nach dem langersehnten Briefe, den ich schon dreimal durchstudirt habe; zweimal für mich mit der Karte, und einmal habe ich ihn Bernhard und Bertha vorgelesen, die sehr froh sind, durch mein Hiersein von Deinem Ergehen ausführlich zu hören und Dir Beide alles Gute zum neuen Jahre wünschen. Vor lauter Aufregung und Unruhe nach Nachricht, wachte ich heute Morgen schon vor 4½ Uhr auf, und hatte in den 1½ Stunden reichlich Zeit mir häßliche Bilder von Gefahr und Unglück, die meinen Erni trafen, vor die Seele zu rufen, und doch wieder mit der stillen Hoffnung auf einen Brief den Tag zu beginnen, die so herrlich in Erfüllung gegangen ist. Hab’ Dank Du lieber Schatz, und melde immer nur Gutes von Dir; Gottes Schutz empfehle ich Dich Tag für Tag. Deine Mutter schreibt mir heute, daß bei Quinckes vorgestern der fünfte Junge einpaßirt ist. Ich hätte ihnen ein Mädchen gewünscht, von dem sie auch schon immer sprach; der kleine Fritz scheint wirklich in diesem Jahre den Ton anzugeben. Hat Dir der Mond vorgestern Abend nicht meinen Gruß bestellt; die Sichel stand so einzig schön am klaren Himmel, daß ich ihn immer wieder ansehen und grüßen mußte. Dabei fehlten mir meine Feuer sehr, denen wir so oft von meinem Zimmerchen aus zugesehen haben. Die wonnigen Stunden, die wir schon verlebt haben, kehren oft in mein Gedächtnis zurück und erfüllen mich mit Dankbarkeit, jetzt wo ich [sie] entbehren muß. Freitag Morgen 6 Uhr. Guten Morgen süßer Schatz; die Drei, Vater, M[utter] und Kind liegen noch in tiefer Ruh; da schleiche ich mich ganz früh zu meinem lieben E[rni,] um dem Papiere den letzten Gruß an ihn anzuvertrauen. Ich habe dies mal einen kleinen Übergriff durch einliegendes Blättchen an dem vorgeschriebenen Quantum gemacht; ich hoffe es läuft durch; das Papier ist immer zu Ende, ehe man sich’s versieht. Diese Nacht hast Du mich fortwährend im Traum beschäftigt; wir Beide wollten abreisen und konnten nicht fortkommen; dazu kam eine Freundin nach der anderen zu mir und freuten sich sehr über uns. Ich glaube es soll eine Mahnung an mich sein, dieselben über Dich nicht ganz zu vernachläßigen und meine Briefschulden abzutragen. Gestern habe ich gewiß recht confus geschrieben; ich mußte Klärchen dabei auf den Schooß nehmen, die sonst nicht ruhig sein wollte; Bernhard und Bertha waren ausgegangen; die Mädchen bei der Wäsche. Das kleine Pusel amüsirte sich mit meiner Tiktak und dem lieben kleinen Anhängsel daran, das sie sehr gern in den Mund steckt; sie muß seinen Platz schon kennen, denn an meinen Mund kommt das liebe Bildchen gar zu oft und sieht mich mit seinen freundlichen Augen so herzig an, daß ich mich gar nicht davon befreien kann. Ich freue mich schon darauf, nachher Deinen Brief abschreiben zu können, um immer von Neuem wieder die Gefahr durchzumachen, in der Du geschwebt hast und von Neuem mich freuen und danken zu können, daß Du ihr glücklich entronnen bist. Ich kann nicht läugnen, ich ängstige mich jetzt etwas vor dem Wege von Florenz nach Rom, den Du ja wohl zu Lande zurücklegen wolltest. Ich habe es sehr gern, wenn ich weiß, welche Richtung ich meinen Gedanken geben kann und weiß Dich viel lieber in der Stadt, als auf dem Wege dahin; das gilt aber auch nur für Italien, wo sie so unsicher sind; ich bin ja selbst zu gerne in der freien Natur, um Dich sonst dort nicht auch am liebsten zu wißen. Die meint es doch am allerbesten mit uns, drum haben wir sie Beide so lieb. Bertha wollte noch ein Plätzchen zu einem Gruß haben, da werde ich wohl schließen müßen und nochmals einen ganz besonderen Gruß zum 16. beifügene; erinnerst Du Dich noch des vergangenen Jahres, wo Du mir den tollen Brief von Hermine vorlas’st?

Deine liebe, treue Anna.

[Nachschrift von Bertha Emilie Maria Anna Sophie Sethe]

Wie Du denken kannst, läßt Anna nicht viel Platz, aber einen recht herzlichen Gruß und Glückwunsch will ich doch gern beifügen und Dir sagen, wie froh und dankbar ich bin, Anna hier zu haben. Wenn es ihr nur nicht gar zu einsam wird!!

Deine treue Cousine und Schwägerin Bertha

Von Bernhard besten Gruß und Glückwunsch. ||

a gestr.: ich so oft; b eingef.: nun; c eingef.: (Er); d gestr.: sich in; e korr aus.: beizufügen

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
11.02.1859
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Florenz
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34434
ID
34434