Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Heringsdorf, 13. – 15. August 1858

Heringsdorf 13. 8. 58.

Mein Herzensschatzchen, ich kann die herrliche Zeit, wo ich allein mit Dir und der tiefblauen See und ihren weißen Köpfchen bin, nicht verstreichen laßen, ohne ein wenig zu plaudern. Die Ursache meines Hierseins ist freilich eine traurige. Mutter ist seit gestern Nachmittag erkältet und heute, gerade an ihrem Geburtstage so stark, daß sie sich zu Bett gelegt hat. Es ist 3 Uhr, Hermine und Helene Brauchitzsch haben sich an den Strand begeben, wo die Kinder auch sind; ich wäre gern mitgegangen, allein ich wollte bei Mutter bleiben und was für eine vortreffliche Entschuldigung habe ich mir ausgedacht. Je lauter die See braus’t, desto größer wird mein Verlangen mit ihren Wellen herumzuspielen, allein der häßliche feste Husten will sich immer noch nicht lösen, ich trinke seit gestern Selterwaßer mit Milch, so viel mir irgend möglich und hoffe ihn auf diese Weise zu vertreiben. Ich muß Dich leider aus dem Wahn reißen, wenn Du glaubst, mir die Erkältung abgenommen zu haben. Aber wie leid ist mir’s, daß Du Dich wirklich angesteckt habe [!]; Du, der Du so angestrengt arbeiten mußt, muß auch gesund sein; schicke mir nur Husten, Schnupfen und Halsschmerzen, ich mache es mit meinem zugleich ab. Tausend Dank, herziger Schatz für Deine lieben Zeilen, die eben in meine Hände gelangt sind. Ich glaubte, es sei eine Antwort || auf meinen Brief vom 11ten und nun ist mir’s recht, daß mir die Freude noch bevorsteht. Wie geht es nun Dir; mit den Abenden weiß ich gar nicht mehr was zu machen, dann ist meine sonst schon sehr knappe Ruh ganz hin, ich kann nicht arbeiten und nur denken, denken an meinen lieben Blondkopf, an deßen Herzen ich ausruhen, ich selige Stunden verleben durfte. Kaum habe ich das letzte Wort ausgeschrieben, so kommt der Prediger Richter auf mich zu und hat über eine Stunde bei mir geseßen; so gut wir uns auch unterhalten haben, mußte ich unaufhörlich an Dich denken und war durch meine Zerstreutheit so ungeschickt, daß ich ein Blumenglas umwarf und den ganzen Tisch unter Waßer setzte, meine Arbeit abwechselnd auf die Erde fallen ließ, so daß der gute Richter unaufhörlich in Thätigkeit blieb. Nun plaudere ich weiter mit Dir, also von den Abenden; gestern nach dem Abendbrod, nachdem wir den ganzen Nachmittag bei Tante Adelheid Kränze zum heutigen Feste gewunden hatten, bin ich bis 10½ Uhr in der Nähe des Hauses herumgewandert, ich konnte mich nicht satt sehen an dem herrlichen Sternenhimmel und glaubte immer wieder einen neuen Stern zu entdecken, dem ich noch keine Grüße für meinen Schatz aufgetragen hatte; die Milchstraße und Alles war so klar, daß ich wirklich glaube, er ist hier anders, als in Berlin. Eben fährt das vierte große Dampfschiff während meines Schreibens vorüber, ich kann es beneiden, auf den Wellen dahinzufliegen und || ich darf nicht hinein. Lieber Erny sage einmal, ist es nicht wirklich beßer, wenn ich bade, um den dummen Husten los zu werden? –

Vorgestern Abend haben wir angefangen Arndt zu lesen; Hermine wurde sehr bald müde und Alles ging zu Bett, zu meiner Freude, denn nun konnte ich ungestört in Deiner Reise lesen, die mich ungemein feßelt, ja stundenweis in die Alpenwelt und seine Reize hineinzaubert. Denke Dir, wie merkwürdig. Mittwoch nach dem Eßen nahm ich im Walde die Reise zur Hand und bin ganz frappirt, da Du sie auch am 11 August angetreten hast. Heute habe ich Dich bis Salzburg begleitet, zu deßen Detailschilderung ich morgen übergehen werde. Wie reizend muß der Traunstein sein, wie großartig die beiden Gosauseen und wie wunderschön die Aussicht von der Zwieslalp. Mit Intereße habe ich verfolgt, wie Du die ersten Alpenpflänzchen gefunden hast und bedauere täglich, meine lieben Pflänzchen nicht mitgenommen zu haben, da ich mich auf einzelne wohl noch recht gut besinnen kann, andere weiß ich nicht unterzubringen oder ich habe sie vielleicht nicht in meinem prächtigen Herbarium. In solchen Stunden bin ich ganz und gar bei Dir. Vormittags, nachdem ich mich angezogen habea, während ich Dich in der Universität weiß, sitze ich mit meiner Arbeit (bin ich allein, mit meiner Reise) auf den Stufen der Kirche, die frischen grünen Buchen vor mir, rechts in der Ferne die See und habe nur Einen Gedanken. – || Wie oft ich See und Wald vom September vorplaudere, kannst Du Dir denken; ich sehe jetzt wirklich nur halb. Ich bin sehr begierig auf – worauf ich gestern Abend begierig war, bei welchen Worten ich abbrechen mußte, weiß ich heute den 14. Abends 10½ Uhr nicht; ein halbes Stündchen darf ich noch bei Dir sein, dann schlägt die verhängnißvolle Stunde, die uns so oft trennte. Es war ein sehr heißer Tag, und doch fühlt man hier in der klaren kühlenden Seeluft nicht so die Hitze, wie sie Dich gewiß gequält. Dazu kommen hier noch die quälenden Mücken, die mich ganz und gar zerstochen haben und jetzt spät Abends mir nicht einmal eine ruhige Stunde mit meinem Liebchen gönnen. Vormittag, Mittag und Abend, wo hier Briefe ankommen, habe ich sehnsüchtig, aber vergeblich Deinen Brief erwartet, so hoffe ich auf morgen, und dann sollst Du gewiß nicht so lange warten. Könntest Du auch kränker geworden sein? Lieber Erny, mir wird ganz angst in diesem Gedanken. Schone und pflege Dich recht, daß Du recht frisch bei der Arbeit bist und später desto herrlicher von ihr im lieben Heringsdorf ausruhen kannst. Es ist merkwürdig; ich habe gar keine Lust spazieren zu gehen, sondern schiebe Alles für den September auf. Heute Nachmittag gingen wir mit Sethens zusammen zum Förster, tranken unter schönen frischgrünen Buchen Kaffee und wanderten nach 6 Uhr nach der Wolfsschlucht, worunter Du Dir nur ja keine Schlucht vorstellen mußt, sondern einen kleinen Sand-||hügel mitten im Kiefernwalde, der aber eine herrliche Aussicht auf die See und die Swinemünder Moolen mit dem Leuchtthurm, Ahlbeck im Vordergrunde bietet; das Bild hat für mich immer etwas Italienisches. Ein Stückchen tiefer in den Wald hinein sahen wir die Sonne blutroth zwischen den Bäumen untergehen; ihr Scheidegruß hat immer etwas Melancholisches, welches Gefühl sich bei mir steigerte, als wir uns nach der andern Seite umwandten und ein neues lachendes Bild sich vor unseren Augen aufrollte. Ich sah im Geiste Dich mit dem Zeichenbrette dort sitzen und Deine Änny neben Dir, die sich heute vergeblich nach dem lieben Menschen umsah. Im Vordergrund einzelne schöne malerische Kiefern, dann die prächtige saftige b Ahlbecker Wiese, ringsherum vom Wald besäumt, rechts nur sehr dünn, so daß er den Zothener See hell und deutlich durchblicken läßt, dahinter sogar das Achterwasser. Über dem ganzen breitete sich ein klarer, hellblauer Himmel aus, während unserer Anwesenheit mit den malerischsten, von der untergehenden Sonne golden beränderten Wolken bedeckt, die Dir schon zu schaffen machen würden. Doch es ist schon 11 Uhr durch, mein lieber Schatz, gute Nacht, morgen mehr von Deiner lieben, lieben Anna.

Nach 5 Stunden hast Du mich wieder, Herzensschatz, die Nacht war durchaus nicht erfrischend, desto mehr dieser herrliche Morgen; es ist 5 Uhr; ich sitze mit Dir ganz allein im sonnenhellen Walde, ach Erny, wie herrlich wird das || sein, bist Du wirklich bei mir. Die See ist heute ganz ruhig; in mir auch, fühle ich mich geistig Dir so nahe, und dies thue ich besonders in der herrlichen Natur, da flüstert mir jedes Blättchen Deinen Namen zu, da finde ich in der Bläue des Himmels Deine lieben treuen Augen wieder und ich bin selig in solchen Momenten. Trotzdem muß ich mich jetzt von ihnen losreißen, um endlich an Triests nach Kreuth zu schreiben, was ich schon seit 3 Wochen vorhabe; Du siehst, ich will die Woche gut anfangen.

Ohne zu wollen muß ich Triest’s Brief wieder liegen laßen und Deinen vollenden, da Mutter ihn der Aufträge an Heinrich wegen heute noch abgeschickt wünscht. Weißt Du böser Mensch, daß Du mich ordentlich aengstigst durch Dein Schweigen. Das von Dir abgeschickte Zettelchen vom 12 haben wir richtig am 13 erhalten; dennoch muß mein Brief vom 11 doch spätestens den 13 angekommen sein, und doch habe ich noch keine Antwort. Ängstigen will ich mich aber nicht, wenn ich mir auch allerlei Gedanken über Deine Erkältung mache. Ich hoffe Deine gute Natur schüttelt sie bald ab. Schicke Du nur Deine Briefe direkt an mich; ich wollte es Eurer Mädchen willen nicht thun. Wünschst Du es aber, so schreibe mir darüber. Ich muß etwas eilen, lieber Schatz, ich muß mich noch anziehen, um um 12 Uhr Richter in meiner netten kleinen Kirche predigen || zu hören, worauf ich recht begierig bin; ich habe ihn noch nie auf der Kanzel gesehen. Er erzählte mir neulich, er beschäftige sich jetzt sehr viel mit Naturwißenschaften, er hat auch den Kosmos mit hier, aber noch nicht ausgepackt, weil er hier nicht denken wollte; stelle Dir vor, was aus mir werden sollte, wollte ich nicht an Dich denken, das ist ja meine Hauptbeschäftigung hier; recht anfangen zu leben, werde ich erst, bist Du bei mir; sonst fühlte ich mich so frei und mittheilend; jetzt weiß ich oft gar nicht, was soll ich mit der Helene Brauchitzsch reden, so gern ich sie auch mag; von meinem liebsten Thema darf ich ja nicht mit ihr sprechen. Sie hat ein tiefes Gemüth und durchaus keine Vorurtheile, wie man sie in ihrem Stande so häufig findet. Sehr viel Schweres lastet auf ihr zu Haus, sie hat ganz kleine Geschwister und entbehrt die Mutter ungemein; mit ihrem Vater hat sie ein ähnliches Verhältniß wie ich zur Mutter; da können wir uns gegenseitig das Herz ausschütten und das thut gar wohl. Ach Erny, ich begreife nicht, wie ich bisher habe leben können ohne einen solchen Seelenverkehr zu haben, wie wir ihn jetzt führen; Mutter versteht mich nicht, und ich kann ihr auch nicht näher treten, so gern ich es oft möchte. Mein Herz, mein Alles, habe mich immer so lieb wie jetzt, so machst Du mich unermeßlich glücklich. Du hast ein treues Herz in mir gefunden, das Dich versteht und immer mehr verstehen wird. Schreibe bald Deiner

Änni. ||

Fast hättest Du keinen Brief nach dem lieben Jena bekommen, das ich 1000 mal zu grüßen bitte, da dieser Brief mit einem an Deine Mutter nach Berlin schon im Briefkasten war; als ich Deinen lieben, lieben lang ersehnten Brief, nach dem ich mich schon so sehr gebangt hatte, heute Mittag bekam. Nun habe ich ihn mir wieder vom Briefboten zurückgebettelt und ich hoffe, er soll direkt Dir noch meinen Gruß nach Jena bringen; ich wollte ich könnte Dir ein weißes Schaumköpfchen mitschicken von der lieben See, die wieder anfängt sehr wild zu werden. Denke Dir trotz Deiner Erlaubniß erlaubt mir Mutter nicht zu baden, bis ich den Husten los bin, so werde ich wohl bis zum 7 warten können, wo ich Dich bestimmt erwarte. Es freut mich, daß Du nach Jena gegangen bist und nun Gewißheit über Deine Reise erhältst. Mir wäre es viel lieber, Du reis’test im Herbst, statt im Januar; desto eher sehen wir uns wieder.c

Daß Max Schultze auch eine Cousine zur Frau hat, hat mich sehr frappirt; herziger Schatz mir wurde bei Deiner Beschreibung dieser kleinen Familie ganz selig zu Muthe. Schreibe mir ein paar Zeilen aus Jena, ich höre sonst so lange nichts von meinem lieben, lieben Schatz. Prächtiges Wetter hast Du Dir mit nach Jena genommen, laß Dir’s dort nicht nehmen und genieße recht die Dir dort zugezählten Tage. Einen innigen Gruß und Kuß von

Deiner glücklichen Änni.

a korr. aus: haben; b gestr.: Alh; c kopfüber stehende Adresse: „An Ernst“

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
15.08.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34416
ID
34416