Sethe, Anna

Anna Sethe an Ernst Haeckel, Berlin, 26. Mai 1858

Berlin d. 26.5.58.

Erst heute komme ich dazu, mein lieber, lieber Ernst Deinen Brief zu beantworten, und Dir eine Freude durch den meinigen zu bereiten, wonach ich mich schon so lange sehne. Den ersten und zweiten Feiertag hatte ich vergeblich auf einen Brief gewartet, desto größer war meine Wonne, als er gestern kam und mit welchem Inhalt! Du stehst ganz vor mir oder sitzt vielmehr neben mir auf meinem kleinen Sopha, Herzensschatz, und öffnest mir das große Buch Deiner Seele, in dem ich immer mehr schöne und tiefe Seiten herausfinde; ach Erny, ich bin Deiner wirklich nicht werth, mache nicht zu hohe Ansprüche auf mich, verkenne nicht meine vielen Fehler, die Dir gegenüber zu wahren Riesen anwachsen; aber lieb habe ich Dich und will mich beßern, streben wie Du immer mehr nach dem Edeln, Wahren und Guten und neben dem Realen auch dem Idealen fort und fort sein Recht laßen; warum nicht etwas Fata Morgana mit der Welt treiben; das ist aber auch nicht nöthig, denn sie ist so schön durch Dich, daß ich nichts anderes haben mag. Wir werden auch glücklich werden, lieber Schatz, das sagt mein Ahnungsgefühl. ||

Wie herrliche Genüße hast Du in der schönen Natur gefunden; ich habe sie nach Deinem lieben, ausführlichen Brief, der meine Erwartungen weit übertroffen hat, schon ganz mit durchlebt, doch wie schön wird das erst sein, kannst Du mir mündlich davon erzählen. Über jeden Sonnenstrahl habe ich mich in den Tagen gefreut, der leider, leider lange nicht oft genug kam. Du wirst aber durch den häufigen Regen, der ja auch sein Gutes und Wohlthuendes für die Natur hat, nicht die Lust und Freudigkeit am Wandern verloren haben und Frühlingsduft und Frühlingsluft in vollen Zügen eingesogen haben, und daß dabei Dein wißenschaftlicher und lieber Mensch zur vollen Klarheit und Geltung gekommen sind, macht mich unbeschreiblich glücklich. Ich dachte wohl, wie bald Deine vielen Zweifel schwinden würden; hat sich Deine prächtige Natur wieder herausgerappelt, und kommen sie auch noch vor, so wollen wir sie wirklich nach Deinem schönen Gleichniß wie kleine Gasblasen betrachten, die allmählich sich absondern werden, je inniger unsere Vereinigung wird und je tiefer Du || die Geheimniße der Natur erforschst und derselben näher und näher trittst, und ich dann mit Dir, denn meine Liebe zur Natur, denke ich, wird durch Dich immer mehr wachsen. Was ich in den letzten Tagen von ihr zu sehen bekommen habe, sind die grünen Bäume auf dem Hafenplatz und Umgegend und der Kreuzberg, bei dem so süße Erinnerungen in mir wach werden. Diese Deine Blumen liebe ich so sehr, beim Betrachten derselben bin ich bald mit Dir auf den schönen Bergen und Thälern, wo Du sie mühsam gesucht hast, bald in Deinem Zimmer, wo Du sie sauber und zierlich für mich zurecht gemacht hast; kurz ich verfolge ihren ganzen Lauf, bis sie in meine Hände gelangten und die sie nicht los laßen werden. Ich bin eine komische Natur, denn ich lege ungemeinen Werth auf die kleinsten Liebesbeweise, geschehen sie auf die rechte Weise. Das hübsche Immergrün, das Dich in seiner ganzen Lust und Übermuth gesehen hat, habe ich vielmal geküßt und es dann in mein Tagebuch am 25 gelegt, der durch Deinen Brief ein schöner Tag für mich war; sonst könnte ich das nicht von ihm behaupten, denn den ganzen Vormittag bin ich mit Marie || Bleek in der Stadt umhergelaufen, Besorgungen machen, Nachmittag mußte ich Tante Adelheid allerlei Eingekauftes auf den Bahnhof tragen; aber dann saß ich, während Mutter und Bertha Verwandtenbesuche machten, mit Deinem Briefe auf dem Balkon und freute mich noch einmal über jede einzelne Zeile Deines mit Liebe erfüllten Briefes. Bertha kam später zu Haus als sie wollte, und so wusch ich um 7 Uhr das kleine herzige Klärchen, das Dir gewiß auch gefallen wird. Sie ließ sich’s prächtig gefallen, ich machte es aber auch so gut wie möglich und plauderte ihm alles Mögliche vor, so daß die kleine stets vergnügte Seele ordentlich aufjauchzte. Kindesaugen haben einen eigenthümlichen Zauber. Heute Morgen war ich bei Tante Bertha, die mir aus den Rückertschen Frühlingsliedern mehrere sehr schöne vorlas; von denen eines mir ganz besonders zu paßen schien, weshalb ich Dir es nachher schreiben werde. Ich traf Quincke, den ich lange nicht gesehen hatte, dort, der mich wie immer sehr neckte. Er behauptete, meine Kügelchen im Gehirn wären in viel zu starker Schwingung begriffen, was ich abändern müßte; Tante Bertha war außer sich || darüber, daß die Stimmungen der Seele auch körperlichen Verhältnißen unterworfen sein könnten, die sie in diesem Falle als starke Entschuldigungen für leidenschaftliche Ausbrüche jeder Art ansehen können; ich glaube sie kann sich zu keiner Spur Materialismus entschließen, was Quincke sehr tadelte; und ich muß gestehen, kann darin nicht übereinstimmen, sondern kann mir nur Seele und Körper untereinander bedingt vorstellen. Habe ich Dir Unsinn geschrieben, bitte belehre mich mündlich. Nach Mittag las ich im Schleiden über Fremdenpolizei in der Natur, die mich sehr intereßirte. Auch in der Natur gibt es keine unbedingte Freiheit, ein Thierchen stellt dem andern nach und eine Pflanze wird von tausend und abertausend Thierchen tyrannisirt; Schleiden glaubt übrigens nicht an eine Unsterblichkeit der Pflanzen und Thiere, sondern nur der Menschen, und hierin erhebt er Letzteren zur Majestät über die übrigen Körper; ich habe viel aus diesem Abschnitt gelernt, wie alle Fortpflanzung von Osten nach Westen sowohl der Pflanzen, Thiere, sogar Gesteine und Menschen vor sich gegangen ist, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang; es herrscht eine innige Harmonie || in der Natur. Du glaubst nicht, wie ich mich freue, wenn ich sie ein klein Bischen beßer verstehen habe lernen; sie steht mir nach Dir am nächsten, und hat Freud’ und Leid immer mit mir theilen müßen. Denke ich nur an den lieben Mond, meinen Freund von Kindheit auf, der, während ich schreibe, voll und klar in’s Fenster schaut und der meinen Gruß bringt. Ich habe Dich heute in Kloster Banz oder auf irgend einer andern schönen Tour von Weimar aus vermuthet. Morgen begleite ich Dich in’s Mainthal; dann weiß ich nicht weiter; Sonnabend Abend, Sonntag Abend, wer weiß wie viele noch, werde ich vergeblich auf einen gewissen Pfiff horchen, aber einen Brief bekomme ich noch von Dir, mein Schatzchen nicht wahr? Willst Du noch einen haben, kannst Du auch noch einen bekommen, dann reis’t es sich noch etwas beßer. Sonnabend Nachmittag, nachdem ich diesen Brief an Dich auf den Bahnhof getragen hatte, fuhr ich nach dem Frankfurter Bahnhof und holte mir Bertha und ihr kleines Wurm, die beide gesund und munter sind. Noch auf dem Bahnhof mußte ich ihr meina Geheimniß ausplaudern; sie schien || wie alle meine Geschwister nicht überrascht zu sein und freut sich sehr Dich, der Du schon früher Deine Rechte als Schwager hättest geltend machen wollen, als wirklichen begreifen zu können. Von Helene hatte ich auch einen sehr lieben Brief, die darauf brennt uns glückliches Paar zusammen zu sehen und Bertha darum beneidet. Von Ihnen beiden sowie Heinrich die herzlichsten Grüße und Glückwünsche; letzterer ist auch sehr erfreut über unsere Verlobung, die er sicher vorausgesehen hätte. Ist das nicht schändlich? Sein Pferd hat anfangs Fieber gehabt, doch muß es jetzt tüchtig mit seinem Reiter zusammen exerciren. Ich bin begierig, wann Deine Eltern und Hermine kommen werden; ich denke fast, Du wirst Deinen Vater in Eisenach treffen, da Onkel Julius nicht hingeht. Sonntag Morgen hörte ich von Sydow eine sehr schöne Predigt des Inhalts, daß das Pfingstgefühl, das Bewußtwerden des Geistes Gottes im Menschen und in der Natur, einen starken Hauch des Sommers in sich trage, der mit Blüthen und frischem Grün wieder auf der Erde einzieht. Wie viel ich da an Dich gedacht habe! Ich war nur betrübt über das schlechte Wetter, || das jedoch gegen Abend herrlich wurde, den wir bei Tante Bertha zubrachten. Mittag traf mich das größte Unglück, das mich treffen konnte, – bei Tante Gertrud eßen. Montag Morgen kam ich mit Mutter und Bertha unter den Linden vorbei, die wirklich prächtig nach dem Regen waren. Ich sah nach dem bekannten Eckfenster der Universität herauf und schickte meine Grüße zu Deinem dortigen Empfang hinein. Mittags aßen Untzers, Eduard Petersen, Marie Bleek hier, deren Geburtstag Nachmittag bei Tante Bertha gefeiert wurde. Ich war viel abwesend mit meinen Gedanken, noch mehr heute Nachmittag auf einen schrecklichen Kaffee bei Brunnemanns, wo ich ein Glas Maitrank heimlich auf Dein Wohl ausgeleert habe. Ich kann wieder nicht aufhören zu plaudern, obgleich es 12½ Uhr ist. Die Grüße von Mutter und Tante Bertha muß ich doch noch bestellen. Denke Dir, zu meinem großen Schrecken, gehen Sacks morgen auf 6 Wochen nach Freienwalde; Mutter meint zwar, das könnte uns nicht stören, namentlich, wenn sie mit zu Hermine ginge; darüber müßen wir mündlich sprechen. Leb wohl, Du lieber Schatz, bleib’ gesund und frisch Deiner

lieben Anna.

Mir ist als hätte ich tausenderlei vergeßen, doch weiß ich es nicht. Doch ja das Gedicht von Rückert!

ZUM TEXT: a eingef.: mein

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
26.05.1858
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
A 34413
ID
34413