Hannah Dorsch an Ernst Haeckel, Lugano, 9. Januar 1907

Lugano, d. 9. Jan. 1907

Villa Monteverde

Mein hochverehrter Herr Professor!

Ich möchte den 11. Januar nicht vorübergehen lassen, ohne Ihnen einen herzlichen und verehrungsvollen Gruß zu senden. Ist es doch übermorgen ein Jahr her, seit der Monistenbund gegründet worden ist. Ich glaube, Sie werden mit Freude auf diesen Tag zurücksehen, und Viele mit Ihnen. Und mir ist es ein Bedürfnis, diesen Anlaß zu benutzen, um Ihnen meine Dankbarkeit auszusprechen für all das, was Sie für uns, für Ihre Mit- und Nachwelt gearbeitet u. geschafft, erkämpft u. errungen haben. Ich weiß, was es heißt, frei zu werden vom Druck überkommener Dogmenknechtschaft, und Bande zerreißen können, die „Geist“ & „Gemüt“ festhalten. Ich habe es in meinem eigenen Leben empfunden, zuerst unter bittern || Schmerzen und dann in jubelndem, beglücktem Siege. Ich bin glücklich auf dem Boden monistischer Weltanschauung, und mein Leben ist mir wie eine jauchzende Harmonie. Durch eigene, innere, ganz lückenlose Entwicklung bin ich auf den Standpunkt gekommen, auf dem ich jetzt stehe, bin aus dem glaubenden Christenkinde des orthodox frommen Hauses zum überzeugten Monisten geworden. Ihnen danke ich Manches auf diesem Wege; vor allem ist es Ihre wundervolle Kühnheit und Furchtlosigkeit, die mich stärkte, jedem Compromißwesen den Abschied zu geben u. eine klare, glatte Rechnung zu machen. Und seitdem ich ohne Furcht u. Scheu Halbheit und Phrasenwesen fahren ließ und mich rückhaltlos als der bekannte, der ich innerlich schon lange war, seitdem ist es wie ein Alp von meiner Seele gefallen. Wenn ich mich auch mit meiner ganzen frommen Verwandtschaft & Freundschaft überworfen habe, – ich weiß doch, daß ich ehrlich bin! || Und nie soll man mich wieder auf dem Compromiß-Standpunkt finden!

Was ich thun kann an meinem Teil, um unsern Ideen zur Verbreitung und zum Siege zu verhelfen, das will ich thun; ich hoffe auch noch für die Monistenblätter manchen kleinen Beitrag liefern zu können. Je mehr ich mich mit all diesen Fragen beschäftige, desto heller u. leuchtender steht vor mir die Weltanschauung, die sich auf den Lehren der Descendenz aufbaut. Es liegt in ihr eine Harmonie u. eine beglückende Siegeszuversicht, wie sie das Christentum ja nicht entfernt bieten kann. Es ist da für uns ja noch Vieles zu thun, um auf allen Gebieten das Weltbild nach unseren Ideen auszubauen u. zu praktischen Lebenswerten zu machen, auch für die Masse, auch für die Laien. Aber es ist eine Freude, an solcher Arbeit mitzuthun, wenn auch nur zu einem ganz kleinen Teile.

Wann werden Sie uns denn mal besuchen, lieber, || verehrter Herr Professor? Es war so Schade, daß Sie im Herbst nicht kommen konnten. Im April siedeln wir wieder nach Zürich über, in das schöne Heim am Zürichberg, das Sie ja auch kennen. Vielleicht besuchen Sie uns dann dort einmal. Wir würden uns schrecklich freuen; wir sprachen so manches Mal davon. Kommen Sie doch mal in den Ferien! Sie sollen sehen, wie schön ich Sie pflegen u. gut versorgen werden [!], u. Ihnen alle Wünsche an den Augen absehen. Das sollte mir eine rechte Freude sein!

Prof. Dodel ist momentan nicht da, sonst würde er Grüße senden; er ist mit seinen beiden lieben blonden Töchterlein, welche auf ein paar Wochen hier zum Besuch sind, auf einem Ausflug. Es geht ihm gut, u. ist auch Ruhe u. Arbeitsfreudigkeit jetzt wieder hier eingekehrt.

Nehmen Sie nochmals herzliche Glückwünsche zum 11. Januar, samt freundlichen Grüßen

von Ihrer Ihnen dankbar ergebenen

Hannah Dorsch

Brief Metadaten

ID
3422
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Schweiz
Entstehungsland zeitgenössisch
Schweiz
Datierung
09.01.1907
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,5 x 18,1 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 3422
Zitiervorlage
Dorsch, Hannah an Haeckel, Ernst; Lugano; 09.01.1907; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_3422