Dorsch, Hannah

Hannah Dorsch an Ernst Haeckel, Lugano, 14. Februar 1906

(Schweiz) Lugano, d. 14./2. 1906.

Villa Monteverde.

Hochverehrter Herr Professor!

Gestatten Sie mir, dass ich Ihnen zuerst, wenn auch eine Ihnen ganz Unbekannte, meine aufrichtigen Wünsche zu Ihrem Geburtstage ausspreche! – Ich bin auch Eine von Denen, die treu zu Ihnen stehen, und die sich freuen des Fortgangs der Sache, deren sieghafter Vorkämpfer Sie seit Jahrzehnten sind. Ich bin Eine von Denen, die mit viel inneren Nötena und Kämpfen sich heraufgearbeitet haben aus dem Dunkel des Dogmenwesens zu der lichten Freiheit unserer Weltanschauung, und die nun Glücklich darin ist! Eine Hülfe im Kampf waren Sie mir; dafür danke ich Ihnen immer! und eine grosse Hülfe war mir auch vor Allem Herr Prof. Dodel, mein lieber, geistiger Vater und Freund. Es ist hauptsächlich um Seinetwillen, dass ich Ihnen heute schreibe. Gestatten Sie, dass ich Ihnen ein paar Worte darüber sageb, die ich Sie aber bitte, mit aller Discretion zu behandeln; denn Prof. Dodel weiss nicht, dass ich Ihnen darüber schreibe. – Ich kam im Herbst vorigen Jahres zu ihm in der Absicht, ihn für etwa 6-8 Tage zu besuchen, nachdem ich längere Zeit mit ihm schon correspondiert hatte, ohne ihn zu kennen. Ich kam zufällig gerade in eine Zeit hinein, in der er viel, viel Schweres zu erleben hatte, – so unendlich Schweres, dass ihn die [des] Kräfte Leibes und der Seele fast darüber verlassen wollen. Die Schwierigkeiten liegen in seinem Familienleben, d. h. es sind derartige Entfremdungen zwischen ihm und seiner Frau eingetreten, dass die letztere jetzt schon seit vielen Wochen auf eine Ehescheidung dringt und dieselbe von ihrem Manne erzwingen will. Frau und Kinder sind überhaupt seit 1½ Jahren von ihm fort; er leidet unglaublich darunter. Nach vielen gram- und schmerzvollen Wochen, – ich kann Ihnen die Details natürlich nicht mitteilen, es hat ja auch keine Bedeutung für Sie, – steht er momentan vor der Alternative, entweder in ein gemeinsames Scheidungsbegehren zu willigen, unter Bedingungen, die wohl geeignet sind, ihn zu entwürdigen, oder aber es auf einen schrecklichen Prozess ankommen zu lassen, der sich jedenfalls länger als ein Jahr hinziehen würde, und wodurch der alte Mann, der jetzt schon so Viel gelitten hat, ganz herunter kommen würde, leiblich und gemütlich. Ich möchte ihm so gern gut raten, – er sieht mich nämlich ganz als sein geistiges Kind an, und lässt sich wohl von mir raten, – aber ich bin selbst im Unsicheren, was jetzt das Beste für ihn ist. Das Schlimmste ist, dass er jetzt das Gefühl hat, er sei ein „ausrangierter“ Mann; Niemand brauche ihn mehr; er verzweifelt an sich selbst und an seiner Arbeitskraft; er will die Flinte ins Korn werfen, resignieren und sich unter das alte Eisen verkriechen. Und doch ist für ihn gerade Dies das Schlimmste. Wenn er seinen Glaubenc an sich selbst behält, und das Vertrauen, dass er noch Etwas leisten kann, – dass Andere noch Etwas von ihm erwarten, – ja, dass er geradezu die Pflicht hat, noch Etwas zu thun für unsere Sache, – dann würde er durch Alles Andere leichter hindurch kommen. Und da komme ich nun zu Ihnen, mein hochverehrter Herr Professor! Ich möchte Sie um Hilfe bitten für Ihren alten Kampfgenossen, der momentan der Verzweiflung nahe ist, und dem geholfen werden muss! So kann er nicht weiter leben, wie es die letzten Monate war. Das war schon mehr c Tod, als Leben! Und ich möchte Sie, verehrter Herr Professor, bitten: Schreiben Sie ihm mal ein gutes Wort, aber bald, ja am liebsten umgehend; es thut wahrlich Not und ist keine Zeit zu verlieren. Er hält so Viel von Ihnen, was Sie ihm schreiben, das wird Wert für ihn haben. Sagen Sie ihm, dass er daran denken muss, dass er noch Arbeit zu leisten hat auf der Welt, || dass er noch nicht überflüssig d ist und sich auch noch nicht dafür halten darf, denn dann ist man verloren! und er kann wirklich noch Vieles thun, er hat so Viel noche im Sinne liegen, das er herauslegen möchte, wenn er nur erst wieder Ruhe hat. Wenn er aber jetzt an sich selbst verzweifelt, dann ist es schlimm für ihn. Machen Sie ihm ein bischenf Mut, verehrter Herr Professor, Sie können das, und von Ihrer Seite wird es auch Etwas nützen. Am liebsten möchte ich, Sie könnten gleich jetzt mal zu ihm kommen, ihn besuchen, und ihn wieder Aufrichten. Aber das geht wohl nicht? Er würde sich schrecklich freuen; er sprach letzthin schon verschiedentlich davon, und wollte Sie so gern einladen. Wenn Sie können, dann kommen Sie doch bald mal, lieber Herr Professor! Aber wenigstens schreibeng Sie ihm, bitte, gleich, und helfen Sie ihm. Sagen Sie ihm auch vor allen Dingen, dass wenn Einem im Leben auch Vieles verloren geht, ja, selbst wenn man das verliert, was man für das Beste und Sicherste gehalten hat, dass man doch darum nicht verzagen darf, und nicht die Freude am Leben von sich werfen, sondern dass man dann eben versuche, aus dem, was bleibt, sich doch, allem Schicksal gerade zum Trotz, noch etwas Schönes und Freudvolles aufbaue! Das allein ist doch Lebenskunst; solange man im „Glück“ ist, solange hat man ja keine besondere Lebenskunst nötig, aber wenn Einem das Leben hart kommt, dann muss man klug sein und zu leben verstehen. Die Kunst ist ja nicht, uns das Leben zu gestalten, wie wir wollen, denn das steht oft gar nicht in unserer Macht. Aber uns mit dem Leben, so wie es sich für uns gestaltet, abfinden, und das Schönstmögliche für uns daraus zu machen, das ist die rechte Lebenskunst. Sagen Sie ihm doch davon Etwas, und richten Sie ihn auf, und machen Sie ihm Mut, und sagen Sie ihm auch, dass er noch viele Freunde hat, die ihn schätzen und die ihn lieb haben, und dass er das nicht gering anschlagen soll. Kurz, helfen Sie Ihm ein bissel, lieber Herr Professor, bitte! es thut wirklich hoch Not!

Ich bleibe bei ihm, wenn es eine Scheidung giebt; ich verlasse meinen „Vati“, so nenne ich ihn, – nicht mehr. Ich will ihm helfen, ihm sein Leben noch schön zu gestalten, soviel ich kann, – trotz Allem!

Bitte, bitte, schreiben Sie ihm schnell, und helfen Sie Ihm, oder noch besser: kommen Sie selbst! Sie können meinen Brief an Sie, ihm gegenüber, ruhig erwähnen, wenn Sie wollen!

Und dann noch viel, viel herzliche Grüsse ihnen, und vielen Dank für Alles, was Sie gethan, und davon ja auch ich zehre! Ich bin auch im Monistenbund, und ich will in kurzem meinen Austritth aus der Landeskirche auch offiziell erklären. Ich stamme zwar aus einer streng orthodox evangelischen Familie, und ich habe mich schon mit einer Anzahl von Freunden überworfen, nur weil ich mit dem Ketzer Dodel verkehre. Das macht aber Nichts; ich will mich ganz frei machen und nicht auf halbem Wege stehen bleiben!

In aufrichtiger Verehrung

Ihre ergebenste:

Hannah Dorsch.

a korr. aus: nöten; b korr. aus: sgge; c gestr.: Le; d gestr.: darf; e korr. aus: hoch; f korr. aus: beschen; g korr. aus: schreoiben; h korr. aus: Austrutt

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
14.02.1906
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 3416
ID
3416