Jena 6. Januar 1917.
Mein lieber alter Freund!
Deinen freundlichen Neujahrs-Glückwunsch erwidere ich von Herzen! Auch für mich ist, ebenso wie für Dich, nachdem wir die bedenkliche Schwelle der 80 Jahre Lebenskampf überschritten haben, die Versenkung in die Vergangenheit der beste Trost in den heillosen Wirren der Gegenwart. Wir beide können zufrieden sein, daß wir in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine der fruchtbarsten Entwicklungs-Perioden der Kultur selbst erlebt und unseren Teil daran mitgearbeitet haben. Das fühle ich um so mehr, je trostloser jetzt im Weltkriege die Zerstörung der mühsam errungenen Kultur-Schätze fortschreitet. ||
Obgleich meine Ortsbewegung seit 6 Jahren durch den fatalen Sturz und die Fraktur des Collum femoris sehr beschränkt ist und ich zu meinem Leidwesen auf die Lust des Reisens verzichten muß, habe ich doch im verflossenen Winter die hiesige schöne Natur sehr genossen und viel aquarelliert. Unsere reiche Flora des Muschelkalks macht mir jedes Jahr neue Freude und erinnert mich immer wieder an die botanischen Genüsse, die wir in Würzburg und Wien (vor 50 Jahren!), zusammen mit Freund Krabbe, gehabt haben.
Ich benutze jetzt, da ich nicht mehr wandern kann, viel die elektrische Bahn. ||
Die letzten 14 Tage war ich bei meinen Kindern in Leipzig; meine Tochter Lisbeth (Frau von Hans Meyer, jetzt Prof. der Kolonial-Geographie und -Politik) feierte am 21.12. ihre Silberne Hochzeit; – und 10 Tage später deren älteste Tochter, Else (22. Jahr) ihre Grüne Hochzeit mit einem Ingenieur und Flieger-Leutnant von 26 Jahren, Rudolf Hautzsch (Sohn des Chemikers in Leipzig). –
Übrigens lebe ich sonst ganz still in meiner friedlichen Villa Medusa. Meinen Kindern in München geht es gut. Das active Arbeiten habe ich aufgegeben; die Kräfte nehmen beständig ab.
– Mit besten Grüßen treulichst
Dein alter Ernst Haeckel.