Ernst Haeckel an Wilhelm Olbers Focke, Jena, 24. Mai 1871

Jena 24 Mai 71

Mein lieber Freund!

Es hat mich sehr gefreut, durch Deinen letzten Brief zu hören, daß es Dir und Deiner Familie gut geht. Zu dem dritten Töchterlein gratulire ich bestens. Daß Dir die ärztliche Praxis oft nicht behagt, kann ich bei meiner eigenen Abscheu gegen dieselbe Dir sehr gut nach empfinden. Es ist schade, daß Du nicht in eine mehr wissenschaftliche Laufbahn, die Dir gewiß viel mehr zugesagt haben würde, schon früher eingelenkt bist. Jetzt dürfte es dazu freilich zu spät sein. Ich wenigstens empfinde bereits sehr, wie die Anpassungsfähigkeit mit dem Alter abnimmt. Man wird mit jedem Jahre conservativer. ||

Dein übersandter Aufsatz „Ein rudimentärer Sinn beim Menschen“ erfolgt hierbei zurück. Er hat keine Gnade vor den Augen der Redactions-Commission unserer Jenaischen Zeitschrift gefunden, welcher ich ihn zur Aufnahme in letztere übergeben hatte. Gegenbaur, der Vorstand jener Commission, der sehr vorsichtig und kritisch ist, meint, die ganze Sache schiene noch zu unsicher und unreif; Du müsstest zahlreichere und genauere Experimente bei verschiedenen Personen ausführen, die beobachteten Neben umstände und Vorsichtsmaßregeln angeben, und namentlich genaue histologische Untersuchungen über die Nerven Endigungen der betreffenden Hautstelle, die Beschaffenheit der letzteren überhaupt anstellen. Die Experimente haben wir allerdings nur mit negativem Erfolge wiederholt. ||

Sehr bedenklich dürfte es jedenfalls sein, diesen Sinn ohne Weiteres als einen rudimentären anzusehen und mit dem „Fledermaussinn“ in Zusammenhang zu bringen. Da die Chiroptera doch wohl eine selbstständige Seitenlinie darstellen, wird sich auch jener Sinn in dieser Linie erst entwickelt haben.

Von mir kann ich Dir nicht viel Erfreuliches berichten. Meine Frau ist schon den ganzen Winter krank gewesen. Nach der Entbindung ist irgend eine Dislocation des Uterus nebst consecutiver chronischer Kystitis zurückgeblieben, die ihr sehr viel Schmerzen macht. Die Behandlung war bisher erfolglos.

Meine Frau ist in Folge dessen natürlich sehr verstimmt und muthlos, und das ganze häusliche Leben leidet darunter sehr. Das kleine Töchterchen, das bald ½ Jahr alt ist, war anfangs auch sehr elend, erholt sich aber. Dagegen ist mein Junge (jetzt 2 ½ Jahr alt) sehr kräftig und munter, und macht uns viel Freude. ||

Die beiden Monate März und April habe ich zu einer sehr interessanten Reise nach Dalmatien und Montenegro benutzt. Drei Wochen habe ich auf der Insel Lesina in einem Franciscaner-Kloster gewohnt und Spongien untersucht, um endlich meine Monographie über die Kalkschwämme abschließen zu können. Das Wetter war sehr schön (während wir hier jetzt noch November Wetter haben) und die Reise sehr lehrreich.

– Daß ich eine sehr verlockende Berufung nach Wien (unter wirklich glänzenden Bedingungen) nach langem Zögern ausgeschlagen habe, hast Du vielleicht gehört. Mein Gehalt hierselbst ist nun verdoppelt (bisher 600, jetzt 1200 rl). Ich habe mich in den 10 Jahren meines Hierseins so eingelebt, daß mir das Fortgehen sehr schwerfallen würde.

– Deine Ableitung unserer Flora von miocenen Polarpflanzen hat mich sehr interessirt. Vielen Dank für die Schrift, sowie auch für den etymiologischen Aufsatz. Deiner lieben Frau freundschaftliche Grüße

In alter Freundschaft

Dein

Haeckel

Brief Metadaten

ID
33333
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
24.05.1871
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
13,7 x 21,2 cm
Besitzende Institution
SUUB Bremen, Abt. Handschriften und Rara
Signatur
Aut. X, 56 (7)
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Focke, Wilhelm Olbers; Jena; 24.05.1871; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_33333