Ernst Haeckel an Richard Hertwig, Jena, 9. März 1874

Jena 9 März 74

Lieber Freund!

Durch Oscar wissen Sie bereits, daß ich durch eina Influenza-Recidiv verhindert worden bin, Ihren ausführlichen Brief früher zu beantworten. Derselbe wird Ihnen aber bereits auch mitgetheilt haben, daß ich mit dem wesentlichen Inhalt Ihres Briefes vollkommen einverstanden bin und gegen die neue Auffassung der Protisten- und Protozoen-Gruppen, die Sie in Ihrer Arbeit vertreten wollen, durchaus keine wesentlichen Bedenken habe. Gerade im letzten halben Jahre habe ich gelegentlich meiner Infusorien- und Gasträa-Arbeiten mich wieder vielfach mit meinem alten Lieblings-Thema beschäftigt und bin mehr und mehr zu || der Überzeugung gekommen, daß wir in diesem schwierigsten Wissens-Gebiete noch für lange Jahre uns mit lauter provisorischen Classifications-Versuchen werden begnügen müssen und über mehr oder minder annähernde Resultate nicht hinauskommen werden. Die verschiedenen Versuche, die ich selbst hier gemacht, zeigen mir am besten, wie hier je nach dem augenblicklichen Standpunkte des Systematikers und den Fortschritten der Kenntnisse die Auffassung hin und her schwankt. Augenblicklich scheint mir diejenige polyphyletische Auffassung die richtigste welche ich in der III. und IV. Auflage der Schöpfungsgeschichte auf p. 397 und 399 vertreten habe und welche ja || auch mit Ihrer Auffassung wesentlich zusammenstimmt. Die Unterscheidung der ganz neutralen Protisten und der wirklich thierischenb Protozoen (welche in wahrem genealogischem Zusammenhang mit den Wurzelformen des Thierreichs stehen) erscheint mir immer mehr berechtigt, und es wird eine Hauptaufgabe der künftigen Forschungen sein, die wahren Protozoen von den neutralen Protisten zu sondern. Von letzteren kann es sehr zahlreiche ganz unabhängige Stämme geben. Die polyphyletische Hypothese ist gerade hier gewiß am allermeisten berechtigt. Hingegen erscheint es mir bedenklich, daß Sie z. B. die Differenzirung von Muskelstreifen innerhalb des Protoplasma der Gregarinen, Ciliaten etc als Homologie deuten wollen. Auch solche Differenzirungen können polyphyletisch entstehen, also nur analog sein. || Gegenüber dem colossalen Unsinn und dem confusen Wirrwarr, den Greef, Dönitz etc, sowie viele mikrophile Engländer, unter den Protozoen neuerdings angerichtet haben, scheint mir übrigens jeder rationelle Classifications-Versuch gut und heilsam. Sie werden auch mit Ihrem Versuch sicher das Dunkel aufzuhellen beitragen. – Mündlich darüber Nähers! Ich freue mich außerordentlich auf Ihr Herkommen und unsere gemeinsame Arbeit. Hoffentlich kommen Sie noch vor Ende März. Am 1. April will ich auf 14 Tage verreisen, erst zu meiner Mutter, dann zu Gegenbaur. – Meine Familie war in den letzten Wochen sämmtlich krank. Besonders hatten wir um die kleine Emma, Oscar’s Pathchen, große Sorge. Jetzt geht es Allen wieder besser. Ich werde wohl noch 8 Tage in der Stube stecken müssen. An Oscar herzlichste Grüße. Auf frohes Wiedersehen! Ihr treu ergebener

E. Hkl.

a korr. aus: von einer; b korr. aus: wirklichthierischen

Brief Metadaten

ID
33289
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
09.03.1874
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,3 x 22,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 33289
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Hertwig, Richard; Jena; 09.03.1874; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_33289