Ernst Haeckel an Oskar und Richard Hertwig, Jena, 8. Mai 1875

Jena 8 Mai 75

Meine lieben Freunde!

Heute sind es gerade 3 Wochen, daß wir uns in Bastia getrennt haben. Ganz gegen meinen Wunsch komme ich erst heute zum Schreiben, theils weil ich nach der Reise und nach der Rückkehr überhaupt keine Muße zum Schreiben fand, theils weil ich immer vorher von Ihnen zu hören hoffte. Leider habe ich weder unterwegs, noch hier Nachricht von Ihnen bekommen, trotzdem ich in Florenz, Verona etc nach Briefen fragte und die etwa noch kommenden mir nach Jena nachzuschicken bat. Ich muß also aufs gratewohla poste restante nach Villafranca schreiben, und hoffe sehr, daß diese Zeilen Sie Beide im besten Wohlsein, und recht befriedigt mit den Arbeits-Resultaten, antreffen.

Das jetzige schöne Frühlingswetter, das wir seit 8 Tagen haben, wird Ihnen recht zu Gute kommen und Ihre Gläser füllen! ||

Meine Rückreise verlief recht glücklich. 2 herrliche Tage auf Cap Corso bis Rogliano (Sonntag hin, Montag zurück). Übernachtet beim Juge de paix (!), gegessen beim Postminister!! Excursion auf die Serra, mit prächtigem Blick auf beide Meere. – Schöne stille Vollmond-Nacht zur Überfahrt nach Livorno; dann 1 Tag in Pisa, 4 Tage in Florenz, 2 Tage in Bologna, 1 Tag in Modena. Drei große Festessen von den Universitäten in letzteren 3 Städten, besonderer Enthusiasmus in Bologna, wo der Rector (Prof. Capellini, Palaeontolog und „Scimione“!) eine große Rede hielt, auf die ich in italiänischer Sprache antworten mußte! Höchst liebenswürdige Collegen, alle eifrige Darwinisten (auch Philosophen!) Dann auf der Rückreise noch ½ Tag in Verona, ½ in Botzen, 1 Tag in München. Heute vor 8 Tagen Abends langte ich glücklich im alten Jena wieder an. ||

Der Semester-Besuch in Jena ist sehr gut, über 500 Studenten. Richard wird sehnsüchtigst von Protisten-Gierigen erwartet. Koch hat die Darmstadt-Stelle erhalten. Schrader geht nach Berlin. –

Gestern Abend hielt Strasburger in der medicinisch physikalischen Gesellschaft einen Vortrag über sein (demnächst erscheinendes) Buch. Er ist wegen der Phallusia mammillata (die er in Genua nicht erhielt) nach Neapel gegangen und behauptet, daß die Kerne sich hier gerade wie bei den Pflanzen-Zellen verhalten [eingef.: Skizze Zellen] Auerbachs Darstellung hält er für richtig, die Deutung für falsch. Ganz stimmt er überein mit Bütschli’s (Nematoden-Ei), das Sie ja wohl kennen? Oder soll ich es Ihnen schicken? Er stellte Serien von Praeparaten her, indem er die furchenden Eier Minute für Minute mit absolut. Alcohol übergoß und dann in Glycerin legte. Gefärbt scheint er nicht zu haben. Die b reifen Eier vor der Befruchtung haben den Kern verloren. Der neue Kern soll sich von der Rindenschicht des Protoplasma abschnüren u. nach innen wandern. || Außer Phallusia mammillata hat Strasburger keine Thier Zellen weiter untersucht. Sollten Sie diese Art nicht bereits gefunden haben, so fragen Sie bei den Fischern nach „Mammola“ oder Mammella di mare. So heißt sie, glaube ich, dort. Ich hoffe, Oskar wird an Medusen und Siphonophoren hübsche Objecte gefunden haben; und Richard wird gewiß mit den Radiolarien sehr zufrieden sein.

– Mit größtem Vergnügen denke ich an unsere gemeinsame Corsica-Fahrt zurück, und danke Ihnen, meine lieben Freunde, noch recht herzlich für die Begleitung und Gesellschaft. Im Ganzen war es doch recht lohnend.

Sehr wichtig wäre es mir, wenn Sie gelegentlich einen Sycon in ein Uhrschälchen setzten und die ausgeschwärmten und festgesetzten Larven untersuchten. Oskar Schmidt behauptet, daß keine echte Gastrula bei den Spongien vorkomme. Vedremo! Schwalbe ladet Oskar dringend ein, sich hier zu habilitiren, und will ihm gerne die vergleichende Anatomie abtreten! –

Herzlichste Grüße!!

Ihr treu ergebener Haeckel

a korr. aus: grathewol; b gestr.: E

Brief Metadaten

ID
33286
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Zielort
Villafranca
Zielland
Frankreich
Datierung
08.05.1875
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,2 x 22,4 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 33286
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Hertwig, Richard; Jena; 08.05.1875; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_33286