Jena 24 Juni 85
Lieber Freund und College!
Über Ihren ausführlichen Brief und besonders über die sehr befriedigenden Nachrichten über Ihre schöne Stellung in München habe ich mich sehr gefreut. Ich sehe Niemand lieber als Sie – meinen besten Schüler! – in der wichtigen und dankbaren Stellung, die durch Siebold zu so hohen Ehren gekommen ist, und deren Erlangung vor 10 und 15 Jahren das Ziel meines Ehrgeizes war. München schien mir damals in jeder Beziehung so sympathisch und begehrenswerth, daß ich es jeder anderen Universität vorgezogen hätte! ||
Jetzt ist es gut, daß Alles Anders gekommen ist. Ich habe mich, seitdem ich das eigene Haus und Institut hier erreicht, in diesen kleinen Wirkungskreis so speciell eingelebt, daß ich für nichts Anderes mehr tauge. Auch fühle ich die ermattende Nachwirkung der vielen heißen Kämpfe, die ich durch 2 Decennien geführt, und werde den Rest meines Lebens dem Aufarbeiten kleinerer u. bescheidenerer Aufgaben widmen. Die Challenger Radiolarien werden mich wohl noch ein Jahr vollauf beschäftigen; ich schreibe dieses dickleibige Buch eigentlich zunächst nur für Sie und Bütschli, sonst wird es wohl Niemand besonders interessiren! ||
Daß unser Jena in diesem Semester die Maximal-Zahl des Jahrhunderts (über 700a Studenten) erreicht hat, werden Sie schon durch Oscar wissen. Ich habe in der Zoologie 70 Zuhörer.
– Zu Hause gehts gut. Wir sind mit dem eigenen Haus sehr zufrieden.
– Seit 8 Tagen habe ich Stubenarrest, da ich mir beim Bergklettern eine Verletzung der Achilles Sehne zugezogen habe. Ich werde wohl noch eine Woche liegen müssen. Aus diesem Grunde konnte ich auch nicht an der Goethe-Versammlung Theil nehmen, die am 20. und 21. In Weimar stattfand. Wie ich höre, ist Jena dabei ziemlich leer ausgegangen, da die großen Berliner (Loeper u. Scherer) Alles mit Beschlag belegt haben! ||
Das Haus von Oskar, dem es recht gut geht, wird sehr hübsch; seine Frau hat sich ganz erholt. Nun wünsche ich Ihnen von Herzen baldige Nachfolge. In München könnte höchstens der Überfluß hübscher und liebenswürdiger Mädchen die Brautwahl erschweren!
– Daß Carl Vogt mit seinem schnöden Erythropsis-Angriff in die selbstgegrabene Grube gefallen ist, hat mich sehr amüsirt!
– Zittels, Beyers und sonstige Münchener Bekannte (auch Beetz und Kupffer) bitte ich freundlich zu grüßen.
Mit besten Wünschen für Ihre Zukunft und mit freundlichsten Grüßen Ihr treuer
Ernst Haeckel
a korr. aus: 600