Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Harald Krabbe, Jena, 14. Juli 1914

Jena, 14.7.1914

Lieber alter Freund Krabbe!

Die freundlichen Zeilen, durch die du mich gestern erfreutest (– trotzdem dir das Schreiben schwer fällt –) haben mir lebhaft die schönen Jugendzeiten in Erinnerung gebracht, die wir vor 57 Jahren in Wien, später in Berlin, Jena u.s.w. zusammen verlebt haben. Es war doch eine herrliche Zeit, voll idealer Hoffnungen und tüchtiger Strebungen! Wie sehr hat sich seitdem die Zeit geändert!

Meinen 80. Geburtstag habe ich in leidlicher Gesundheit verlebt, abgesehen von dem bösen Unfall vor 3 Jahren (Fractura colli femoris), in Folge dessen ich nur wenige Schritte auf 2 Stöcken mühsam gehen kann. Auf wandern und Schwimmen, Bergsteigen und Reisen muss ich leider ganz verzichten. Ich lebe ganz still als Eremit in meiner Villa Medusa, lese, schreibe und male. Meine Frau (jetzt 71 Jahre) ist seit langer Zeit sehr kränklich (Herz und Nervensystem); wir haben daher gar keinen Umgang mehr. Alle alten Freunds sind fort, gestorben oder fortgezogen. Unser idyllisches Universitäts-Dorf Jena hat sich in eine moderne, unruhige Fabrikstadt verwandelt (50000 Einwohner, vor 30 Jahren 12000!) Die Zahl der Studenten (früher 300–400) ist auf 2000 gestiegen.

Unseren Kindern in München und in Leipzig geht es gut. Dazu hat mein Sohn (der Maler in München) vor 3 Monaten noch einen Stammhalter producirt (meinen ersten Enkel!). –

Mit herzlichsten Grüssen

stets Dein treuer alter

Ernst Haeckel

(Emeritus seit Ostern 1909).

 

Letter metadata

Gattung
Verfasser
Empfänger
Datierung
14.07.1914
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
Unbekannt
ID
33135