Marie Eugenie delle Grazie an Ernst Haeckel, Wien, 23. Februar 1905
Wien, 23.2.1905.
Hochverehrter Meister!
Wir haben einen Winter voll Krankheit, Unbehagen und allenmöglichen Störungen hinter uns. Und so kommt es auch, daß ich erst jetzt dazu gelange, Ihnen für die „Lebenswunder“ zu danken. Das Buch zu lesen hab’ ich, aus den angeführten Gründen leider noch keine Zeit ge-||funden. Es bloß anzublättern, sind Sie mir zu groß und Ihr Werk zu heilig. Woher aber soll ich den Mut nehmen, es zu besprechen? So schmeichelhaft und ehrend Ihr Zutrauen für mich war, – ich hab’ das Amt des Richters doch seufzend weitergegeben, und der Redaction Herrn Wilhelm Bölsche vorgeschlagen. Und nicht bloß aus Bescheidenheit. Auch um dem Werke selbst zu dienen. Denn soweit bin ich doch nicht vom Fach, um meinem Urteil jenes Gewicht || zu geben, das der Laie von einer sachgemäßen Besprechung erwartet.
Aus den Zeitungen erfuhr ich, daß Sie für Gorki eingetreten sind, wofür ich Ihnen im Geiste herzlich die Hand drücke. Ich halt’ ihn zwar für einen der überschätztesten Litteraten, die es jemals gegeben. Auch nicht an die Schultern Dostojewskijs reichend. Aber nun sein Name ein Panier der Freiheit geworden, ist es selbstverständlich, daß sich alles um ihn schaart. Wenn nicht || alle Anzeichen trügen, erleben wir eine langsame Neuauflage von 1789. Es wäre schön, in solcher Zeit wieder einmal athmen zu dürfen! Freilich, das russische Volk ist eine incommensurable Größe. Einstweilen führt dort bloß die Intelligenz. Wenn ich aber an den französischen Bauer von 1789 denke, sind die socialen und politischen Voraussetzungen ziemlich die gleichen. Bloß an der Rasse scheint es mir da „fern im Osten“ zu fehlen. So viel Lethargie, Quietismus und || willenbelastende Orthodoxie! Es scheint mir immer wahrscheinlicher, daß der gute Tropfen Celtenblutes auch in Frankreich der größte und eigentlichste Revolutionär war. –
Und was treiben Sie? Ich kann nicht so unbescheiden sein, für mein langes Schweigen den Lohn einer baldigen Antwort zu erhoffen. Aber Sie wissena wohl selbst, wie nah mir Ihr Wohl und Wehe liegt. Und wie herzlich der Winkel unseres Heims gehütet wird, den Sie durch eine || schöne Stunde geweiht.
Ich denk’ mir Sie haben so ziemlich den halben Winter wieder in Ihrer Mönchsklause gearbeitet. Mit einem stillen Lächeln des seltsamen Congresses der „Freidenker“ gedenkend, die mir nach Ihren Schilderungen von jener Art zu sein scheinen, die Johannes Scherr so treffend als „Torquemadas ohne Kutte“ gekennzeichnet hat.
Interessiren dürfte es Sie, daß Ostwald, hier durch || rauschende Feste begrüßt, einen Vortrag gehalten hat, der tief unter dem Niveau des von ihm Erwarteten blieb. Über die „Energie des Glückes“. Von einer boshaften Wienerin in die „glückliche Theorie der Energie“ umgetauft. Er hat uns „Phäaken“ doch ein wenig zu niedrig angeschlagen. Boltzmann mußte widersprechen. Und was außer den Behauptungen übrig blieb „macht jeder Feuilletonist || bei uns besser.“ So hat Wien geurtheilt. Was halten Sie von dem Mann? Seiner wissenschaftlichen Wesenseinheit bin ich bis jetzt allerdings noch nicht nahe getreten.
In alter, unwandelbarer Bewunderung u. Treue
Ihre
M.E. delle Grazie.
P.S. Alles Schöne von Freund Müllner!
a eingef.: wissen