Ernst Haeckel an Paul Rottenburg, Jena, 29. April 1913

Jena 29.4.1913.

Liebster Freund!

Aus Deinem lieben, so eben erhaltenen Briefe vom 27.4. ersehe ich mit Freuden, daß Deine Gesundheit sich sehr gebessert hat, und Du sogar mit Frau u. Tochter demnächst zur Erholung nach Luzern reisen willst. Wie gerne würde ich Deiner gütigen Einladung folgen, Dich dorthin zu begleiten und mit Dir die vielen schönen Erinnerungen aufzufrischen, die wir auf früheren Schweizer Reisen an den Ufern des herrlichen Vierwaldstätter Sees gesammelt haben. Aber für mich ist leider das Reisen vorbei, da der elende Zustand meiner maroden Gehwerkzeuge mir nicht einmal mehr eine Eisenbahnfahrt, geschweige denn Bergsteigen, Schwimmen etc gestattet. ||

Jetzt sind nun 2 Jahre seit dem unseligen Unfall verflossen, der die unheilbare Fractur meines linken Hüftgelenks und damit den Verlust der freien Ortsbewegung herbeiführte. An Besserung ist nicht mehr zu denken; im Gegenteil nehmen die hohen Alters-Beschwerden, die durch die Arthritis deformans bedingt sind: Herzveränderung, Arteriosklerose, Muskel-Atrophie etc langsam zu. Wenn ich nicht auf Deinem herrlichen Rollstuhl (jetzt mein kostbarstes Werkzeug!) wöchentlich ein paar mal in das nahe „Paradies“ fahren, auch im Garten ein wenig sitzen könnte, würde ich zu „lebenslänglich Gefängnis“ in der Klosterzelle der Villa Medusa verurteilt sein! So straft der „Liebe Gott“ die bösen monistischen Ketzer! ||

Auch Schwester Röschen ist seit Weihnachten nicht herausgekommen; sie hat 3 Monate zu Bett gelegen. Erst seit 14 Tagen ist sie etwas aufgestanden. Bei ihrem alten Herz- und Nerven-Leiden ist auch auf keine dauernde Genesung zu rechnen; a sie ist jetzt 70 Jahre. Unseren Kindern geht es gut.

– Mit ernsten Arbeiten ist es leiderb vorbei. Ich schreibe wieder etwas an meinen „Lebens-Erinnerungen“, in denen Du als mein bester Freund eine so wichtige Rolle spielst: „Challenger“-Radiolarien 1876! Schweiz, Tyrol, Italien etc. Wieviel Dank bin ich dir schuldig! Die alten Aquarell-Skizzen, an denen ich wieder etwas bessere, erinnern mich an die besten Stunden unserer Reisen! Grüsse mir jetzt Luzern, Pilatus, Rigi, Weggis etc. etc. Hoffentlich genießt Ihr das schönste Frühlingswetter; hier ist es jetzt so grün, wie sonst Ende Mai. ||

Über die Fortschritte der modernen Menschheit im 20. Jahrhundert ist es besser zu schweigen: Betätigung der christlichen Liebe durch allgemeinen Rüstungs-Ruin! Wahnsinniger Nationalismus und Heuchelei! Dazu die Affen-Komödie im Balkan, wo jetzt 2 Erzhalunken: Nikita und Essad – freche Straßenräuber und Mörder! – den allmächtigen „Großmächten“ auf der Nase herumtanzen – O Bismarck!! –

– Ich hoffe sehr, daß Du im Laufe des Sommers noch einmal Gelegenheit zu einem Abstecher nach Jena findest! Ich möchte doch sehr gern Dich auch einmal sehen, ehe ich in der Versenkung dem „Nirwana verschwinde!

Mit besten Wünschen und herzlichsten Grüssen von Haus zu Haus

Dein alter treuer

Ernst Haeckel.

a gestr.: ist; b gestr.: auch; eingef.: leider

Brief Metadaten

ID
32954
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
29.04.1913
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,4 x 22,5 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 32954
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Rottenburg, Paul; Jena; 29.04.1913; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_32954