Jena 4. August 90
Liebster Freund!
Für Deine beiden lieben Briefe, die liebenswürdige Zusendung des reizenden anthropogenetischen „First Cousin“ (– welcher Lisbeth’s Salon schmückt –) und die freundliche Einladung nach Hamburg herzlichsten Dank. Sehr gern hätte ich letzterer Folge geleistet und mit Dir Hamburger Gastrula-Praxis studirt; aber leider war es mir diesen ganzen Sommer nicht möglich, Jena nur einen Tag zu verlassen. ||
Meine arme Frau war leider fast den ganzen Sommer krank und hatte sehr viel Schmerzen (von ihrem alten Nieren Leiden). So herrschte dann in unserem Hause – trotz des munteren und immer frischen Sinnes von Lisbeth – meistens recht trübe Stimmung, entsprechend dem schauderhaften kalten Regenwetter, welches hier den ganzen Juni und Juli anhielt. ||
Ich selbst hatte viel Arbeit mit Neuordnung des Museums u. d. Bibliothek. An sich war diese Arbeit nicht anziehend; sie hatte aber wenigstens den Vortheil, mich etwas zu zerstreuen und von der häuslichen Misére abzulenken.
Im Übrigen war weder unsere verfahrene Politik noch der zunehmende babylonische Wirrwarr in Wissenschaft und Kunst, geeignet, die trübe Stimmung zu verbessern. ||
Unter diesen Umständen weiß ich auch nicht, ob und wann wir eine Erholungs Reise werden antreten können; sie wäre sowohl mir als meiner Frau recht zu wünschen!
Hoffentlich geht es Dir und Deiner lieben Familie recht gut!
Mit herzlichsten Grüßen u. wiederholtem besten Dank
Dein treuer
Ernst Haeckel