Ernst Haeckel an Carl Theodor Ernst von Siebold, Jena, 5. März 1881

Jena 5 März 81.

Theurer und hochverehrter Freund!

Heute hat der Lithograph mir endlich die beiden Aurelia-Tafeln mit vollendeter Schattirung gebracht, wozu er mehr als 14 Tage gebraucht hatte. Ich habe sie sofort einheften lassen und beeile mich, Dir beifolgend noch 3 Exemplare für Dich (zu beliebiger Verwendung) zu senden; zugleich lege ich noch 2 Exemplare bei, um deren gütige Besorgung durch Deinen Famulus ich Dich noch bitten darf, für Deine Collegen Zittel und Kupffer. ||

Es hat mir eine große Freude gemacht, daß ich Dir mit der Aurelia-Schrift eine kleine Überraschung zu Deinem 77sten Geburtstage bereiten konnte und daß es sich mit der Zeit gerade so hübsch passend traf. Freilich konnte ich leider die Arbeit erst in der zwölften Stunde, just vor Thoresschluß vollenden, wie Dir die unfertigen Tafeln gezeigt haben.

– Für Deine beiden freundlichen Briefe und herzlichen Geburtstags-Wünsche danke ich Dir bestens. Leider ersah ich daraus, daß die Krankheit von Prof. Rougemont einen trüben Schatten auf Dein Geburtstags-Fest warf; hoffentlich ist derselbe inzwischen genesen. ||

Ich schließe in nächster Woche meine Vorlesungen und damit zugleich mein 40stes Semester in Jena! (Ostern 1861 hatte ich mich hier habilitirt). Leider ist dieses Semester mit dem ich die beiden ersten Decennien meiner Lehrthätigkeit schließe, mir durch vielen Ärger getrübt worden, hauptsächlich durch den Kampf um die Besetzung der hiesigen Anatomie. Du wirst es gewiß gerechtfertigt und natürlich finden, daß ich vor Allem einen zoologisch gebildeten Anatomen wünschte, der den Lehrstuhl von Huschke und Gegenbaur wissenschaftlich (und nicht bloß à la Barbier! –) zu vertreten im Stande und der mit der vergleichenden Anatomie bekannt ist. || Nun wollte aber die medicinische Facultät auf Betreiben des bisherigen Anatomen, Schwalbe (– mit dem ich bisher sehr gut stand, der dann aber ganz falsch sich gezeigt hat! –) – aus rein persönlichen Rücksichten den Prof. Aeby aus Bern berufen, nach dessen „Insel-Theorie“ der Mensch nicht zu den Säugethieren gehört!! Zwar habe ich es nach schwerem Kampfe durchgesetzt, daß der sehr tüchtige ältere Hertwig die Stelle bekommen hat; allein die dabei gemachten Erfahrungen haben mir meine hiesige Stellung recht verleidet und ich bin entschlossen, sie bei nächster Gelegenheit mit einer anderen zu vertauschen; um so mehr, als Jena sich auch sonst sehr zu seinem Nachtheil verändert hat und als der versprochene Neubau des Zoologischen Instituts wieder zu Wasser geworden ist! ||

Was mich früher so sehr an Jena fesselte, war der idyllische Character und die rein academische Natur der kleinen Universität. Leider hat sich dies aber im Laufe der letzten Jahre gewaltig geändert, besonders seitdem wir eine Garnison und (seit 2 Jahren) ein Ober-Landesgericht (– mit circa 30 „Standes-Familien“ –) herbekommen haben! – Außerdem werden mir die großen Mängel der kleinen und ungenügend dotierten Zoologischen Anstalt doch immer mehr fühlbar; habe ich es doch nach 20 Jahren noch nicht einmal zu einem besoldeten Assistenten und einem Praeparator gebracht; und mein eigener Diener hat zugleich andere Aufgaben! ||

Deine Bemerkungen über unsere jungen Zoologen sind mir aus der Seele geschrieben! Die nächste Generation von „wissenschaftlichen Zoologen“ wird nur noch Querschnitte und gefärbte Gewebe kennen, aber weder die ganzen Thiere, noch ihre Lebensweise! Es ist traurig, welchen Rückschritt unsere schöne Wissenschaft durch diese Zersplitterung der Bestrebungen und diese Kleinigkeits-Krämerei erleidet. Vor 30 Jahren war die Qualität der Leistungen um ebenso viel besser, als die a Quantität geringer! Und welchen Styl schreiben unsere jungen Zoologen meistens! Man sollte glauben, die Meisten hätten kein Gymnasium besucht! Welche Logik!! ||

Doch nun genug von diesen unerquicklichen Zuständen! Mein Trost bleibt immer, daß unsere Freundin, die Natur, mit ihren unerschöpflichen Wundern uns reichlich für allen den meisten Kram entschädigteb, welchen die Natur-Pfuscher an ihr verbrechen!

Meine Frau grüßt bestens. Mit freundlichen Empfehlungen an Deine verehrte Gemahlin und mit herzlichen Grüßen

Dein treu ergebener

Ernst Haeckel

P.S. Wenn Du noch einige Exemplare der Aurelia-Arbeit wünschest, bitte ich es mir zu sagen. In den Buchhandel kömmt die Schrift erst nächste Woche.

a gestr.: Qualitä; b korr. aus: entschädigen

Brief Metadaten

ID
32709
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
05.03.1881
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
7
Umfang Blätter
4
Format
14,1 x 21,6 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 32709
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Siebold, Carl Theodor Ernst von; Jena; 05.03.1881; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_32709