Ernst Haeckel an Carl Theodor Ernst von Siebold, Jena, 17. Februar 1875
Jena 17. Februar 75
Theurer, hochverehrter Freund!
Durch den liebenswürdigen Brief und Glückwunsch, mit dem Du mich gestern an meinem Geburtstage überraschtest, hast Du mich wahrhaft gerührt und zugleich beschämt. Denn gleich als ich Deine Handschrift auf dem Couvert sah, fiel es mir schwer auf’s Herz, daß ich Dir nicht gleichfalls zu Deinem Geburtstage, der zu meiner Freude auch der meinige ist, meinen herzlichsten Gruß und Glückwunsch gesendet habe. Noch kürzlich hatte ich daran gedacht und mir fest vorgenommen es nicht zu vergessen. Leider ist es nun doch geschehen, und ich kann mich nur damit entschuldigen, daß mich in den letzten Wochen mein Familien-Lazareth zu keinem ruhigen Gedanken kommen ließ. ||
Seit drei Wochen sind nämlich meine Frau und alle drei Kinder an der Grippe erkrankt und müssen das Bett noch heute hüten. In den ersten Tagen hatte meine Frau solches Fieber, daß ich recht in Sorge war. Jedoch sind jetzt alle wieder auf der Besserung. Daß mir aber der Kopf dabei nicht zur Besinnung und Ruhe kam, wirst Du leicht begreifen. Dazu kam noch ein Haufen von Correspondenz, mit der ich diesen Winter mehr als je geplagt bin: besonders wißbegierigea Briefe von Lesern der Anthropogenie und der Natürlichen Schöpfungsgeschichte, die Aufklärung über dunkle Stellen wollen u. dergleichen. Ich habe schon daran gedacht, zu beiden Büchern einen erklärenden Commentar abzufassen, bloß um mir diese Masse von lästigen Anfragen vom Hals zu schaffen. ||
Wegen dieser Unruhe, die mich nicht zu Athem kommen ließ, wirst Du mir hoffentlich verzeihen, theurer Freund, daß ich Dir erst heute meine herzlichsten und aufrichtigsten Glückwünsche zu Deinem 72sten Geburtstage sende. Du nimmst sie hoffentlich post festum nicht weniger freundlich auf, als wenn sie zur rechten Zeit gekommen wären. Mögest Du noch manches frohe Jahr im Kreise Deiner lieben Familie diesen Tag vergnügt feiern und Dir die herrlicheb Geistesfrische erhalten, die Dich, als seltene Ausnahme unter Deinen Altersgenossen, befähigen, die raschen Fortschritte unserer Wissenschaft fortdauernd mit dem lebendigsten Interesse zu verfolgen. Als solchec höchst erfreuliche Ausnahme führe ich Dich bei jeder Gelegenheit meinen Schülern vor, namentlich im Gegensatz zum alten Baer. || Wie Schade ist es doch, daß dieser treffliche alte Herr, den Niemand höher schätzen kann als ich, in Sachen der Entwicklungs-Theorie seine eigene beste Vergangenheit verleugnet und Sachen schreibt (wie z. B. den Ascidien-Aufsatz vor einem Jahre) die alle neueren Fortschritte ignoriren und bloß dazu dienen, durch seine Autorität die wichtigsten Sätze unserer Entwickelungslehre zu discreditiren. In Folge dessen hat Baer jetzt das Vergnügen, zusammen mit Wigand und Giebel, mit Huber und Consorten als Gegner jeder natürlichen biologischen Auffassung der organischen Formen-Entstehung aufgeführt zu werden. Ich kann mir seine Haltung nur damit erklären, daß er seit 35 Jahren gänzlich aus dem Gebiete der wissenschaftlichen Zoologie und der Entwicklungsgeschichte herausgekommen ist und gar keine Orientirung mehr besitzt. ||
Für Deine freundschaftlichen Bemerkungen über meine Anthropogenie bin ich Dir zum aufrichtigsten Danke verbunden. Es ist mir höchst erwünscht, von wohlwollenden Freunden auf die Schwächen meiner Bücher aufmerksam gemacht zu werden. Auch Gegenbaur macht ganz ähnliche Bemerkungen, und jene wie diese werden bei der III. Auflage mit der ich jetzt beschäftigt bin, bestens benutzt werden. Du hast vollkommen recht, daß ich das Hypothetische in meinen phylogenetischen Ausführungen noch besser von dem sicher Festgestellten trennen und hervorheben muß. Und auch in Betreff der „Affen Frage“ werde ich Deinen guten Rath befolgen. Du wirst übrigens noch in der letzten Vorlesung einige darauf bezügliche Bemerkungen finden, die gerade hier sehr nöthig sind. ||
Sehr erfreut bin ich, daß die Gastraea-Theorie, die gleich nach ihrem Erscheinen, vor einem Jahr, von Claus, Metschnikoff, Semper etc so heftig angegriffen wurde, sich immer mehr befestigt und durch ausgedehnte Beobachtungen bestätigt. So las ich kürzlich zu meiner großen Überraschung (in No: 4 des Berliner medicinischen Centralblattes) daß Dr. Rauber die Gastrula-Bildung auch beim Hühnchen, wo der große Nahrungs-Dotter bisher die Erkenntniß sehr erschwerte, nachgewiesen hat. Wenn Du Dird ihn verschaffen kannst, lies diesen Artikel. e Die etwas hyperbolischen Bemerkungen über das „neu auffluthende Lichtmeer“ der Entwickelungsgeschichte werden Dich sehr amüsiren, besonders da Rauber der Prosector von His ist! Beide werden sich wohl schwerlich mehr freundlich stehen! || Auch Huxley hat sich kürzlich zu Gunsten der Gastraea-Theorie ausgesprochen und die schwache Trennung der Protozoen und Metazoen gut geheißen.
Um noch weitere Beobachtungen über die Homologie der Keimblätter zu sammeln, gehe ich am ersten März auf achtf Wochen ans Mittelmeer, wahrscheinlich nach Nizza. Sollte ich auf der Rückreise Zeit haben (was ich aber bei der kurzen Frist für diese Untersuchung bezweifle) so würde ich den Rückweg über München nehmen und Dich dort begrüßen.
Es freut mich sehr, daß Du die interessante Beobachtung über die Anpassung der Lungenschnecken, von der Du mir im Herbste in der Ramsau erzähltest, nun veröffentlichen willst. Für die freundliche Zusendung des III. Challenger-Briefes danke ich bestens. ||
Ich habe diesen Winter hauptsächlich mit Revision und Ordnung meiner Sammlung (besonders der im Orient gesammelten Korallen etc) verbracht. Außerdem habe ich Viel mit den Vorlesungen zu thun gehabt, die stärker als je besucht waren (in der Zoologie 52, im praktischen Privatissimum 18g h (unter letzteren fünf ältere). Im Sommer werde ich wieder Anthropogenie lesen und hoffe dabei mein Buch wesentlich zu verbessern.
Meine Frau schließt sich meinen herzlichsten Grüßen und Glückwünschen an. Auch Deiner lieben Frau bitte ich freundliche Grüße zu bestellen.
In aufrichtiger Freundschaft
Dein treu ergebener
Ernst Haeckel
a korr. aus: wißbengierige; b korr. aus: seelige; c korr. aus: solches; d eingef.: Dir; e gestr.: E; f korr. aus: sechs; g korr. aus: 5; h gestr.: ältere).