Ernst Haeckel an Carl Theodor Ernst von Siebold, Jena, 15. Februar 1876

Jena 15a Februar 1876

Lieber, hochverehrter Freund!

Zu Deinem morgen kommenden Geburtstage, den ich mit Dir zu theilen mir zur besonderen Ehre und Freude rechne, wünsche ich Dir aufrichtig alles Gute, und vor allem ungetrübte Gesundheit. Ich hoffe, daß Du Dir auch in dem neuen Lebensjahre das lebendige Interesse frisch bewahren wirst, mit dem Du – eine seltene und rühmliche Ausnahme in Deinen Jahren – unablässig den Fortschritten der Wissenschaft folgst und Dich bemühst, auch die dunkelsten und am meisten verwickelten Fragen der neuesten Zeit Dir klar zu machen und zu ihrer Lösung beizutragen. ||

Ganz besonders habe ich mich in dieser Beziehung über Deine geistige Frische und Dein klares Urtheil gefreut bei wiederholter Lesung des ausführlichen Briefes, den Du am 23. Januar an mich zu richten die Güte hattest. Ich würde Dir schon früher darauf geantwortet haben, wenn mich nicht die Verbesserung und theilweise Umarbeitung der III. Auflage der „Anthropogenie“ – aus der ich zahlreiche und wichtige Fehler zu entfernen habe – den ganzen Tag in Anspruch nähme.

Deine Einwürfe gegen die Gastraea-Theorie muß ich zum großen Theile als ganz berechtigt anerkennen. Ich hoffe im Herbste Gelegenheit zu finden, Dich irgendwo – sei’s in den Alpen, sei’s in München – zu sprechen und dann ausführlich die mannichfaltigen und höchst verwickelten Fragen zu besprechen, welche mit der Entstehung der Gastrula und ihres Mundes, mit der Bildung der Keimblätter etc verbunden sind. ||

Ich danke Dir aufrichtig und herzlich dafür, daß Du mir Deine Bedenken unumwunden mitgetheilt hast. Es kann mir das in jeder Beziehung nur lieb sein. Nur bitte ich Dich in’s Auge zu fassen, daß ich mit der Gastraea-Theorie und ihren Consequenzen keineswegs ein fertiges Dogma in die Zoologie einführen will, sondern vielmehr ein leitendes Regulativ, ein heuristisches Princip, welches uns die Möglichkeit eröffnet, alle die verschiedenen Erscheinungen in der Entwicklung der Thiere auf eine einzige Grundform zurückzuführen. Wie mir scheint, hat die Gastraea-Theorie in dieser Beziehung schon manche gute Frucht getragen, wie ja auch Oscar Schmidt in seiner neuesten, keineswegs freundschaftlich gehaltenen Mittheilung anerkennt (sowohl im letzten Hefte Deiner Zeitschrift, als in der letzten Nr. des „Auslandes“ („zur Beruhigung“ etc). ||

Was nun Deine speciellen Bedenken im Einzelnen betrifft, so bekenne ich, daß die „Planogastrula“ der Aurelia mir allerdings eine harte Nuß ist, zumal dieselbe Keimform auch bei Gergonia (nach Fol), bei Cardylophora (nach F. E. Schultze) und bei wieder anderen Acalephen vorzukommen scheint. Hier spricht der Augenschein offenbar für Delamination der Keimblätter (wie ich sie früher schon bei den Kalkschwämmen zu finden glaubte!). Da nun aber neuerdings nachgewiesen ist, daß sogar bei vielen echten Gastrula-Formen die Mundöffnung sich sehr frühzeitig schließt, nachdem der Urdarm durch Einstülpung gebildet war, so scheint mir damit (– wie auch Ray-Lankester meint –) die Möglichkeit eröffnet, auch jene scheinbar delaminirten Formen auf die invaginirten zurückzuführen. || Auch Dein Bedenken in Betreff der Gastrula der Gliederthiere – die mir selbst noch vor einem Jahr die größten Schwierigkeiten bereitete – scheint mir einer Verständigung wohl zugänglich. Offenbar bilden z. B. die Crustaceen eine so einheitliche Gruppe, daß mir ihre monophyletische Descendenz unzweifelhaft erscheint. Wenn nun auch nur bei wenigen Formen (wie von Babretzky und mir) die typische Gastrula-Bildung wirklich nachgewiesen ist, so kann man doch wohl annehmen, daß auch die Keimbildung aller übrigen darauf zurückzuführen sein wird. Dasselbe dürfte auch wohl für die Tracheaten, und namentlich die Insecten gelten. Sogar Weismann, der hierüber so schöne Untersuchungen geliefert, aber ganz andere Ansichten hatte, schrieb mir neulich, daß er jetzt den Weg zur Erklärung der Insecten-Keimblätter durch die Gastrula gefunden glaube. || Ich denke mir, daß sich diese und andere noch vorhandene Schwierigkeiten der Gastraea-Theorie in ähnlicher Weise lösen werden, wie so eben eine der größten durch Edouard Van Beneden glücklich gelöst worden ist. Du wirst wohl seine vortreffliche vorläufige Mittheilung über die Gastrula des Kaninchens (im Bulletin de l’Académie Belge Nr 12, December 75) gelesen haben. Gerade diese Gastrula der Säugethiere schien mir besonders schwer zu erklären, und wie einfach löst sich jetzt Alles!

Mir scheint, daß bei diesen und ähnlichen Fragen die Reflexion, wie weit die monophyletische Descendenz der betreffenden Thiergruppe mit Sicherheit zurückzuverfolgen ist, große Bedeutung besitzt. Bei den Säugethieren z. B. ist es nach meiner Überzeugung zweifellos, daß sie von || niederen Wirbelthieren abstammen. Da b nun bei diesen letzteren überall erste Gastrula-Bildung nachgewiesen ist, scheint es mir ganz sicher, daß auch die Keimform der Säugethiere auf die letztere überall zurückgeführt werden muß! Wie schwierig erschien die ganze Keimblätter-Theorie noch vor wenig Jahren bei den meisten Wirbellosen und namentlich bei den Mollusken! Und wie klar ist hier jetzt überall durch Ray-Lankester, Rabl u. A. die Gastrula nachgewiesen. So habe ich die Hoffnung, daß auch die wenigen, noch zweifelhaften Formen der Keimbildung – im Ganzen doch nur eine geringe Minoritätc! – sich mit der großen Majorität der Fälle irgendwie auf die typische Gastrulabildung wird zurückführen lassen; in ähnlicher Weise, wie die Zellentheorie alle Gewebsformen auf die Zelle zurückführt! ||

Ich hoffe, lieber und hochverehrter Freund, daß Du in meinen Arbeiten – auch wenn sie oft zu einseitig, heftig und leidenschaftlich verfaßt sind – doch das ehrliche und uneigennützige Streben erkennen wirst, vor Allem die Sache unserer Wissenschaft zu fördern indem ich für das Chaos der sich häufenden Detail-Beobachtungen leitende Gesichtspunkte aufführe! Wenn ich dabei wegen meiner Rücksichtslosigkeit viele und zum Theil wohlverdiente Prügel bekomme, so schmerzen mich diese nicht, eben weil ich das ehrliched Bewußtsein habe, der Sache zu dienen. Übrigens werde ich täglich 24 Stunden älter, und damit auch ruhiger! Ich hoffe also, Du sollst morgen über’s Jahr finden, daß ich mich anno 1876 gebessert habe! Nochmals meinen herzlichsten Dank für Deine aufrichtige freundschaftliche Ermahnung. Sie soll nicht verloren sein!

Mit herzlichsten Grüßen an Dich und Deine liebe hochverehrte Frau

Dein treu ergebener

E. Haeckel

a korr. aus: 16; b gestr.: d; c korr. aus: Majorität; d korr. aus: Pech

Brief Metadaten

ID
32696
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
15.02.1876
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
8
Umfang Blätter
4
Format
13,9 x 21,8 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 32696
Beilagen
Abschrift Brief Siebolds an Haeckel vom 10.01.1876
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Siebold, Carl Theodor Ernst von; Jena; 15.02.1876; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_32696