Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Carl Theodor Ernst von Siebold, Jena, 10. Januar 1872

Jena 10 Januar 1872

Verehrtester Freund und College!

Gestatten Sie mir zunächst Ihnen meinen freundlichen Dank für die gütige Zusendung Ihrer ausgezeichneten „Beiträge zur Parthenogenesis“ abzustatten, an deren eben so reichen als interessanten Inhalt ich aufs Neue Gelegenheit gehabt habe, Ihre scharfe Beobachtungsgabe und Ihren unermüdlichen Fleiß zu bewundern. Ich würde Ihnen meinen schuldigen Dank schon längst abgestattet haben, wenn ich nicht seit mehr als einem halben Jahre mich in einer derartigen Überladung mit Arbeit befände, daß ich nur selten für freundschaftliche Correspondenz eine freie Stunde gewinnen kann. ||

Abgesehen von den Decanats-Geschäften, die mir sehr viel Zeit nehmen, und von dem Druck der III. Auflage der „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“, wird fast meine ganze Zeit und Arbeitskraft von der Monographie der Kalkschwämme in Anspruch genommen, welche ich in einigen Monaten beendigt zu haben hoffe. Das sehr reiche Material, welches ich theils von den verschiedensten Seiten erhalten, theils auf meiner canarischen und dalmatischen Reise gesammelt habe, hat den Umfang der Arbeit sehr ausgedehnt, so daß der Text 2 Bände und der Atlas 60 Tafeln enthalten wird. Für den „Ursprung der Arten“ haben sich dabei sehr wichtige und ganz neue Seiten ergeben, und ich hoffe, daß gerade in diesen Resultaten der beste Lohn für die viele aufgewandte Zeit und Mühe liegen wird. ||

Als ich vorigen Ostern auf meiner Rückreise von Dalmatien München berührte, waren Sie leider gerade in Dresden mit der Leopoldina-Reform beschäftigt und ich konnte nur Ihrer verehrten Frau Gemahlin meine Grüße an Sie auftragen. Ich bedauerte um so mehr, Sie nicht zu treffen, als ich Ihnen Vieles von meiner sehr interessanten und ergebnisreichen Reise hätte erzählen könne, und sicher Ihr Interesse erregt haben würde. Die Thierwelt der Adria, die ich zum ersten Male kennen lernte, ist doch sehr eigenthümlich und vielfach von derjenigen des übrigen Mittelmeeres verschieden. Die pelagische Thierwelt fand ich arm. Um so reicher waren die Erträge des Schleppnetzes, besonders an Corallen und Schwämmen, Echinodermen und Würmern. Am lehrreichsten war ein dreiwöchentlicher Aufenthalt auf der Insel Lesina. || Als freundliche Begleiter hatte ich zwei strebsame junge Studenten, zwei zoologische Brüder mitgenommen, welche sich vorzüglich mit Untersuchungen über Ascidien beschäftigten. Der Eine hat endlich die Entwickelungsgeschichte des Mantels ins Klare gebracht, die viel einfacher ist als Kupffer und Kowalewsky angaben, während die übrigen Angaben dieser beiden Forscher nur bestätigt wurden. Der Andere hat vorzüglich die schwierige Anatomie des Perithoracal-Raums und des Endostyls gefördert. Ich sende Ihnen beifolgend die eben veröffentlichten Arbeiten der beiden Brüder mit, nebst einer Notiz über die Sexualität der Spongien. Indem ich Ihnen meine besten Wünsche für das neue Jahr sende und Sie bitte, mich Ihrer verehrten Frau Gemahlin bestens zu empfehlen, bleibe ich mit vorzüglicher Verehrung

Ihr ergebenster

Ernst Haeckel

P.S. Gegenbaur hat heute eine Berufung nach Straßburg abgelehnt.a

a Text weiter am linken Rand von S. 4: P.S. ... abgelehnt.

 

Letter metadata

Verfasser
Datierung
10.01.1872
Entstehungsort
Entstehungsland
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 32689
ID
32689