Ernst Haeckel an Helene von Waldthausen, Jena, 28. Februar 1918

Frau Ellen Waldthausen (Königswinter). I.

Jena 28. Februar 1918.

Hochverehrte Gnädige Frau!

Meine liebe gütige Freundin!

Durch den freundlichen telegraphischen Glückwunsch, den Sie mir zu meinem 84. Geburtstage am 16. Februar schickten, haben Sie mich sehr erfreut; ich sage Ihnen für dieses Zeichen Ihrer fortdauernden wohlwollenden Gesinnung meinen herzlichsten Dank!

Schon lange, a fast vor 8 Wochen, habe ich den ausführlichen und inhaltreichen Brief, den ich Anfang Januar von Ihnen erhielt, eingehend beantworten sollen und wollen. Daß ich erst jetzt dazu komme, liegt an mehreren unerfreulichen Hindernissen. Zunächst ist meine Gesundheit in den letzten 3 Monaten so zurückgegangen, daß ich viele Tage arbeitsunfähig bin und mich auf den baldigen Abschluß meines vielbewegten Lebens vorbereiten muß – mit vielen noch zu erledigenden Sorgen und Verpflichtungen. ||

Mein Hauptleiden ist die zunehmende Arterien-Verkalkung und Herzschwäche, sowie die damit verbundenen Störungen der Zirkulation und der allgemeinen Ernährung. Der alte Herzmuskel, der nun seit 84 Jahren ununterbrochen arbeitet, will nicht mehr b gehorchen und versagt oft plötzlich den Dienst. Dann tritt momentane Blutleere im Gehirn ein und ich falle bewußtlos um. Solche Schwindel-Anfälle habe ich in den letzten Monaten fast jede Woche gehabt.

Der schwerste war verbunden mit einen Sturz von der Treppe, wobei ich auch das kranke, seit 7 Jahren gelähmte Bein stark beschädigte. Ich kann nicht mehr allein aus der Stube gehen und muß von meiner Krankenpflegerin gestützt werden. Glücklicherweise sind die Augen (mein wertvollstes Organ!) noch gut, und auch das „Phronema“, das Denkorgan im Großhirn, noch leidlich im Stande. ||

Wissenschaftlich arbeiten kann ich leider nicht mehr, zumal das Gedächtniß, die „Mneme“, immer mehr versagt.

Ich bin froh, daß ich meine letzte Arbeit, die „Kristallseelen“, die mich den ganzen Sommer beschäftigt hat, im Oktober 1917 noch habe publizieren können. Sie enthält viele neue (und zum Teil wohl richtige) Gedanken, die einerseits sehr viel Widerspruch, anderseits lebhaften Beifall erregen.

Da ich überzeugt bin, daß meine schwache Lebenskraft höchstens noch den kommenden Sommer durchhalten wird, beschränkt sich jetzt meine ganze Tätigkeit auf Ordnung meines umfangreichen Nachlasses, die Durchsicht der vielen Tausend Erinnerungen, die ich auf meinen vielen Reisen gesammelt habe (Skizzen, Bilder, Bücher, Berichte etc.). Dabei muß ich dankbar anerkennen, wie viele schöne und gute Erlebnisse mir das wunderliche Schicksal im Laufe von 80 Jahren geschenkt hat – trotz vieler Fehler und Mißgriffe! ||

Meine häusliche Existenz in der stillen Klosterzelle der Villa Medusa ( – mit dem täglich mich erfreuenden Blick auf die herrlichen Muschelkalk-Berge unseres malerischen Saaletals – ) ist trotz der großen Schwierigkeiten des Weltkrieges (besonders Mangel an Kohlen, Holz, Butter, Speck u. s. w.) ganz erträglich. Meine beiden dienstbaren Geister ( – die kluge umsichtige Köchin und das bescheidene Zimmermädchen, zugleich „Krankenpflegerin“ einfachster Art! – ) sind sehr ordentlich und bemüht, meine unerfreuliche Invaliden-Existenz zu erleichtern. Besuche nehme ich selten mehr an. In den letzten 14 Tagen, auch am 16 Februar, habe ich Niemand gesehen. Meine Kinder und Enkel in München und Leipzig konnten leider nicht kommen. So bestand dann ( – da ich alle hiesigen Besuche von Bekannten im Voraus abgelehnt hatte, meine Gedenkfeier hauptsächlich im Lesen von 300-400 Briefen und Telegrammen ( – viele von Geschenken begleitet –) die mich sehr erfreuten.

Auch an Ihren lieben Besuch und Ihre schöne Geschenke (Ceratoden, Spongien etc.) habe ich mit herzlichem Danke gedacht!

Stets Ihr getreuer

Ernst Haeckel.

a gestr.: es; b gestr.: arbeiten

Brief Metadaten

ID
32557
Gattung
Brief ohne Umschlag
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
28.02.1918
Sprache
Deutsch
Umfang Seiten
4
Umfang Blätter
2
Format
14,2 x 22,2 cm
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 32557
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Waldthausen, Helene (Ellen) von; Jena; 28.02.1918; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_32557