Jena 16. November 1917.
Hochverehrte Gnädige Frau und liebe Freundin!
Sie werden durch meinen Verleger, Alfred Kröner in Leipzig, im Beginne dieses Monats das letzte Produkt meiner naturphilosophischen Feder erhalten haben: „Kristallseelen“ – erschienen am 2. November, dem hohen Festtage „Aller Seelen“. Da Sie selbst als „seelenvolle“ Naturfreundin und als monistische Philosophin allenthalben psychologische Wunder im organischen Leben der Tiere und Pflanzen erblicken, hoffe ich, daß auch die weitere Ausdehnung des „Seelenlebens“ auf das ganze Gebiet unserer Mutter Natur, auf die Kristalle und Steine, Ihren Beifall finden wird. ||
Da Sie besondere Freundin meiner geliebten Radiolarien sind, des wichtigsten Objektes meiner biologischen Studien seit 60 Jahren, werden Sie sich gefreut haben, daß ich diesen wunderbaren Protisten – als echten „Biokristallen“ – eine so wichtige Rolle im „Seelenleben“ der organischen Welt zuerteilt habe. Diese Studien haben mich auf’s Neue angeregt, die längst begonnene populaere: „Naturgeschichte der Strahlinge“ wieder vorzunehmen, mit besonderer Rücksicht auf ihre „Kristallotik“. Vielleicht wird doch noch Etwas daraus. Ich würde sie aber wohl bei dem sicheren Kröner publizieren, nicht bei dem unzuverlässigen Wagner. ||
Hoffentlich ist Ihre Gesundheit jetzt ganz zufrieden stellend, und können Sie dem drohenden vierten Winter des entsetzlichen Weltkrieges getrost entgegen sehen.
Bei uns in Jena sieht es schlimm aus. Die übermäßig wachsenden Riesen-Fabriken von Zeiss und Schott, glänzend situiert, entziehen der darbenden übrigen Bevölkerung Kohle, Licht und Nahrungsmittel. Ich selbst bin froh, jetzt doch noch genügenden Kartoffel-Vorrat erlangt zu haben, sowie Kohle zum Heitzen der Küche und meines (einzigen) Arbeitszimmers.
Mit herzlichen Grüßen und mit besten Wünschen
Ihr dankbar ergebener
Ernst Haeckel. ||
P.S. Da Sie auch an meinem persönlichen Schicksal freundlich Teil nehmen, bemerke ich noch, daß ich vor 8 Tagen zu der atavistischen Würde des „Urgrossvaters“ hinaufgerückt bin. Meine älteste Enkelin Else Meyer (23 Jahre), die vor 2 Jahren bei mir die hübsche Radiolarien-Arbeit machte, und zu Neujahr den Artillerie-Leutnant Hantzsch heiratete, ist in Leipzig am 7.11. von einem gesunden Töchterchen entbunden worden.
Im „Haeckel-Archiv“ ist jetzt eine besondere Abteilung für die Radiolarien-Sammlung eingerichtet worden, an welcher ein spezieller Liebhaber der „Radiotik“, Herr Ingenieur Dr. Grimsehl fleißig arbeitet; ein feiner Präparator.