Jena 3. Oktober 1917.
Hochverehrte liebe Freudin!
Ihre gütige Sendung, durch welche Sie meine magere „Kriegs-Speisekammer“ in unerwartetem Maasse glänzend bereichert haben, sowie die liebevolle Fürsorge, mit der Sie auf das Wohl meines altersschwachen Organismus bedacht sind, hat mich tief gerührt; ich beeile mich, Ihnen dafür meinen herzlichsten Dank abzustatten!
Gleichzeitig mit der Ihrigen erhielt ich noch zwei andere, sehr willkommene Proviant-Sendungen, so daß ich vorläufig sicher bin, nicht gerade „zu verhungern“! Viele alte Schüler und Freunde, von denen ich lange Nichts gehört hatte, haben sich im Laufe dieses dritten Kriegsjahres durch freundliche Viktualien-Geschenke wieder in Erinnerung gerufen. ||
Die leidige Ernährungsfrage ist hier in Jena deßhalb besonders schwierig, weil die größere Hälfte der Bevölkerung direkt oder indirekt mit der allgewaltigen Zeiss-Stiftung und dem damit zusammenhängenden Schott-Glaswerk (über 12.000 Arbeiter) verknüpft ist, die Beide sehr gut organisiert sind; die Arbeiter werden ausgezeichnet verpflegt und bezahlt. Um so schlimmer ist der Mittelstand daran, zumal die Teuerung unglaubliche Dimensionen erreicht.
In früheren guten Jahren waren wir gewohnt, jede Woche Hasen, Rebhühner und Gänse (billig!) zu geniessen; jetzt kommt von diesem edlen Wild gar Nichts mehr auf den Markt; – Alles wird von außen aufgekauft; und wandert in die großen Städte. ||
Meine Gesundheit hat sich in den letzten Wochen wieder etwas gebessert. Eine große Erleichterung brachte mir der Abschluß meiner letzten naturphilosophischen Arbeit: „Kristallseelen“, die mir sehr viel Mühe und Kopfzerbrechen gemacht hat. Sie wird jetzt gedruckt und ich hoffe sie Ihnen noch im Laufe des Oktober senden zu können.
Das schöne Herbstwetter, das den ganzen September anhielt, hat mich auch einige Male in das „Paradies“ gelockt und zu meinem alten Steckenpferd, der Aquarell-Skizze verführt. Wenn die Sonne so liebenswürdig bleibt, werden Sie gwiß auch am Rhein auf eine schöne Wein-Ernte rechnen können.
Mit herzlichen Grüßen und wiederholtem besten Dank
Ihr treu ergebener
Ernst Haeckel.