Jena 17.7.1917.
Liebe und hochverehrte Freundin!
Heute überraschte mich der Eilbote mit dem gütigen Geschenk der herrlichen „Rittershaus-Torte“, durch welches Sie meiner asketischen, dem Weltkrieg angepaßen Gastrula eine seltene Freude bereitet haben! herzlichsten Dank für diese liebenswürdige Aufmerksamkeit!
Ihren lieben Brief vom 27.6. hätte ich schon längt beantworten sollen; aber ich war in den letzten Wochen so bedrängt durch den Abschluß meiner Arbeit über Radiolarien und Kristalle, daß ich alle anderen Sachen liegen ließ. Leider ist diese Aufgabe, die ich in früheren guten Jahren in einem Monat gelöst haben würde, immer noch nicht fertig, obschon ich bald ein halbes Jahr mich damit herum quäle! ||
Meine Arbeitskraft hat in den besten Monaten, wo sich mehrfach bedenkliche Schwäche-Anfälle (in Folge ungenügender Herztätigkeit) wiederholten, so abgenommen, daß ich mich jetzt genötigt sah, beifolgende Postkarte, mit Datum vom heutigen Tage, drucken zu lassen. Besonders wurde ich dazu gezwungen durch die übermäßig wachsende Korrespondenz, welche mehr als die Hälfte der täglichen Arbeitszeit in Anspruch nahm. Die Notlage vieler armer Menschen, welche durch die lange Dauer des entsetzlichen Weltkrieges immer mehr wächst, mit der beispiellosen Teuerung und Ernährungs-Schwierigkeit, dem Mangel an Arbeitskräften und Mitteln, läßt nur sehr trübe in die Zukunft schauen. ||
Die wichtigen politischen Ereignisse der letzten Woche machen mich sehr besorgt. Der Reichstag unter der Führung eines Ultramontanen (Erzberger) und eines Sozial-Demokraten (Scheidemann); – beides Leute, die vom politischen Ehrgeiz beseelt sind, aber keine genügenden Kenntnisse vom wirklichen Leben und dem Charakter unserer Todfeinde besitzen! Ein „Versöhnungs-Frieden“ mit dem übermächtigen und unversöhnlichen England!!
Der „Unabhängige Ausschuß für einen Deutschen Frieden“, dessen Leiter der treffliche Historiker Prof. Dietrich Schäfer in Berlin ist (früher mein Kollege in Jena) hat darauf sehr gute Antwort erteilt. Soll ich Ihnen die wertvollen Publikationen dieses nationalen „Ausschusses“ ( – zu dessen Vorstand ich auch gehöre – ) von Berlin aus zusenden lassen? (Geschäftsstelle: Berlin S. W. 48, Wilhelm Str. 9.) ||
Mein Archivar Dr. Heinrich Schmidt, für dessen hochherzige Unterstützung ich Ihnen meinen besonderen herzlichsten Dank wiederholen muß, ist wieder fleißig bei der Arbeit im Haeckel-Archiv. Er wird Ihnen bereits geschrieben haben daß er in Erfurt war, um Erkundigungen über Herrn Feodor Wiedemann einzuziehen. Die erhaltene Auskunft mahnt zu großer Vorsicht!
Auch die Zuverlässigkeit und Wahrheitsliebe seines Freundes Wegner wird mir immer bedenklicher!
Indem ich Ihnen meinen herzlichen Dank wiederhole und alles Gute wünsche, bleibe ich
mit besten Grüßen
Ihr treu ergebener
Ernst Haeckel.