Haeckel, Ernst

Ernst Haeckel an Hermann Allmers, Messina, 20. Januar 1860

Messina 20.1.60

Mein lieber, alter Zeltgenosse!

Solche Freude habe ich in meinem sicilischen Exil lange, lange nicht gehabt, als vorgestern, wo mir der Vapore von Marseille endlich den langersehnten aus Rechtenfleth brachte und zwar einen so lieben, herzigen, netten Brief, daß Du auch umgehend mit der ersten Post Antwort darauf haben sollst. Solche Vögel kehren selten bei mir ein, wie diese liebe Brieftaube aus Rechtenfleth und, um so mehr muß ich bestrebt sein, sie mir warm zu halten. Freilich war auch die Freude um so größer, je länger die lieben Zeilen ersehnt waren. Denn eigentlich hatte ich schon seit Anfang December, wo ich Dich bestimmt zu Haus angelangt glaubte, auf die versprochene Nachricht gehofft und als nun gar Weihnachten, und Neujahr ohne dieselben leer ausgingen, fing doch der zweifelnde Gedanke an aufzustehen „Ach, der wird den langweiligen nüchternen Naturforscher lange über der großen Schaar seiner warmblütigen Dichter und Künstlerfreunde vergessen haben!“ Daß dies aber nicht der Fall ist und daß Du mir in Deinem reichen großen Herzen doch auch noch ein kleines Eckzimmerchen als beständiges Asyl offen erhalten, zeigt mir die unveränderte liebe Gesinnung in Deinem prächtigen Brief, der mir meinen alten lieben Wanderfreund gerade so zeigt, wie ich ihn von ganzem Herzen liebgewonnen habe. Besonderen Dank sollst du auch für die nette Schilderung Deiner Heimreise haben, welche meine Sehnsucht nach unserm lieben deutschen Vaterland und speziell nach dem liebsten Freund, den ich hier so sehr entbehre, wieder reicht lebhaft wachgerufen hat. Doch genug hiervon, laß Dir nun auch erzählen, wie es mir hier den Winter über seit unserer Trennung ergangen ist. ||

Um gleich das Beste vorauf zu nehmen und Dir das Hauptresultat meines hiesigen Aufenthalts in ein paar Worten zusammenzufasssen, kann ich Dir sagen, daß es mir über alle Erwartung gut gegangen ist. Du weißt, wie ich mich vor dem Winter in Messina fürchtete und wie Du mich damit tröstestest, daß gewöhnlich im Leben das, wovon man vorher am meisten fürchte, nachher den größten Vortheil bringe. Diesmal ist es wirklich so gekommen. Die sicilischen Meergötter haben sich mir über alle meine kühnsten Hoffnungen hinaus günstig erwiesen und ich bin schon jetzt so weit, hoffen a und bestimmt sagen zu können, daß mir diesen Winter Italien für meine wissenschaftliche Verstandesbildung ebenso fruchtbar und für mein ganzes Leben höchst bedeutsam bleiben wird, wie es für die Ausbildung und Bereicherung des Gemüthes und des Phantasielebens der Sommer geworden ist, d.h. nun die 4 überaus reichen Monate, die ich mit Dir bestem Menschen zusammenverlebte; denn nur diese habe ich wahrhaft gelebt und genossen.

Schon jetzt habe ich so viel Schönes Neues gesehen, entdeckt und bearbeitet, daß mir ein recht hübsches Werkchen als Product dieses Winteraufenthaltes in dem zoologischen Eldorado sicher ist, und ich hoffe dies in den noch übrigen 3 Monaten recht bedeutend zu vervollständigen. Fürchte nun nicht etwa, daß ich Dein phantasievolles Dichterherz mit einer Schilderung und Beschreibung all der zoologischen Herrlichkeiten quäle, die Messinas Hafen in überreichem Maaße mir täglich liefert, den herrlichen Quallen, Schwimmpolypen, Salpen, Pteropoden, Heteropoden, Cephalopoden und wie die -poden sonst noch alle heißen mögen. Zwar hätte ich alle Veranlassung und auch nicht geringe Lust dazu; || allein ich weiß, daß solche Mühe bei Deinen antisystematischen Neigungen doch vergeblich verschwendet sein würde. Du liebst doch aus dem ganzen großen Thierreiche nur den Pegasus und allenfalls noch den Phoenix, Greif, Delphin und einige andere derartige fabelhafte Ungeheuer und hast kein liebevolles Herz offen für alle die überaus schönen, zierlichen und mannichfaltigen Schöpfungsgestalten, die mich hier täglich beglücken und begeistern. Etwas kann ich Dir aber doch nicht ersparen, nämlich einige Andeutungen über die reizenden kleinen Seeungeheuer, welche hier mein Hauptstudium sind, und welche durch Deines Freundes Hand zuerst ans Tageslicht gefördert und den verwunderten Augen der erstaunten Welt Preis gegeben werden sollen. Gewiß wirst Du noch nicht einmal den Namen dieser kleinen Wunderthierchen gehört haben und um so mehr wirst Du mir dankbar zu sein glauben, wenn ich Deiner Dichtungsphantasie durch ihre Bekanntmachung ein ganz neues Feld eröffne. Denn poetisch sind sie, und so reizend gestalten schön, daß Du einstmals bei dem Anblick der schönen Kupfertafeln aus E. Haeckels großem Radiolarienwerk gewiß nicht den alten bekannten Streit über die Grenzen des Schönen und Interessanten wieder aufnehmen wirst! Radiolarien heißen sie also; und zwar hat ihnen diesen Namen zuerst unser großer verstorbener Altmeister J. Mueller gegeben, der 1858 das erste große Werk über diese vorher fast ganz unbekannten Geschöpfe, die in Millionen jeden Fußbreit der Meeresoberfläche bevölkern, hat erscheinen lassen. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich Dir dasselbe in Capri gezeigt; es war ein grün eingebundenes Quartheft mit 11 sehr schönen Kupertafeln. ||

Die allermeisten dieser Radiolarien sind so winzig, daß sie auch das schärfste Auge unbewaffnet höchstens als einen eben wahrnehmbaren Punkt im Wasser erkennen kann, unter dem Mikroskop zeigen sie sich aber meist mit einem überaus schön und mannichfaltig geformten Kieselpanzer versehen, der die allerwunderbarsten und merkwürdigsten Gestalten annimmt und nachahmt. Bei einer großen Abtheilung (Acanthometrae) ist ein verschieden ausgebildeter strahliger Stern oft eine reiche Strahlenform, bei anderen (Polycystinen) ein aus sehr zierlichen Kieselnetzwerk geformtes Schaalengehäuse von der Gestalt einer Netzkugel, Glocke, eines Helms, Panzers, Bischofshuts, Turbans, einer Amphora etc. etc. Ja denke Dir, vorgestern, grade als mich Dein lieber Brief überraschte, hatte ich so eben (welch‘ sinnreiche Fügung des Schicksals!) eine reizende kleine Polycystine gefunden, welche vollkommen einem altchristlichen Baptisterium gleicht, eine halbkugelige Kuppel mit sieben sehr kleinen Fenstern, getragen von sieben zierlichen schlanken Säulen!! Ist das nicht köstlich? Die Bestie müßte eigentlich „Babtisterium Allmersii“ heißen! Dir wird das Herz im Leibe lachen, wenn Du sie siehst. Bald möchte man wirklich glauben, es gäbe nichts Neues unter der Sonne; denn eine große Anzahl der verschiedensten menschlichen Werkzeuge, namentlich altgriechische Hausgeräte, Trinkbecher, Waffen etc. finden sich in diesen mikroscopischen Kieseltierchen vorgebildet, und zwar mit so reinem Geschmack so „stylvoll“, daß Du der hehren Mutter Natur wenigstens in diesem Punkte gewiß einmal den Vorrang vor der menschlichen Kunst zuerkennen müßtest. Ich freue mich schon jetzt auf die großen Augen, die Du bei ihrem Anblick machen wirst. ||

Johannes Mueller beschrieb in dem erwähnten berühmten Werk (eigentlich dem einzigen, das über diese ganze Klasse existirt) 50 mittelländische Radiolarien. Ich habe nicht nur die meisten derselben hier wiedergefunden, sondern auch bereits ebenso viel neue dazu entdeckt, und zwar zum Theil noch viel schönere und reizendere Formen, als er kannte.

Die Thierchen, die in diesen Gehäusen wohnen, sind übrigens äußerst einfach organisirt und stehen in der That auf der niedersten Stufe des Thierreichs, noch weit unter den Infusorien. Es sind einfache, sehr kleine Gallertklümpchen, deren ganze Lebensthätigkeit im Ausstrecken und Einziehen vieler hunderte äußerst feiner veränderlicher Fäden besteht. Daß da die Beobachtungen über die Entwicklung der verschiedenen Leidenschaften und sonstigen psychischen Regungen, der Befriedigung des Herzens, der Liebe, der Wanderlust etc nicht sehr ergiebig sind, ist erklärlich. Um so mehr Freude macht mir das Studium der reichen Formenwelt ihrer Kieselpanzer, welche durch ihre massenhafte Entwicklung in vergangenen Erdperioden ganze Gebirge zusammengesetzt haben. Du kannst denken, mit welchem Fleiß und welch sorgfältigen Genauigkeit ich sie alle zeichne und würdest Dich über die fast architectonische Schärfe, Genauigkeit und Sicherheit freuen, welche ich mir dabei angeeignet habe. Denn architectonisch sind diese, ganz mathematisch genau bestimmbaren Formen in der That und schon aus diesem Grunde sollen sie Dir gefallen. Kriege ich nur einen ordentlichen Verleger, der mir die Kupfertafeln splendid ausstattet, so soll es schon ein recht nettes kleines Prachtwerkchen werden, das mir hoffentlich auch einigen Ruf verschafft, in der Folge vielleicht auch eine Professur und was alles für schöne Zukunftspläne sich daran knüpfen, das Heimführen des süßen Bräutchens, der Besuch des hartnäckigen alten Junggesellen Herrn von A. in unserer kleinen glücklichen Häuslichkeit und was dergleichen mehr ist. ||

Seitdem ich übrigens in dieser prächtigen, höchst anziehenden Arbeit dran sitze (Ende November) fesselt sie mich so daß ich alles andere darüber vergesse und all das andere merkwürdige Viehzeug, von dem sonst der reiche Hafen ganz wimmelt, fesselt mich nicht mehr und ich bin in diese reizende Geschöpfe so verliebt, daß ich alle Augen für Anderes dadurch verloren habe. Mein Lebenslauf ist demnach auch der einfachste und einförmigste, den man sich denken kann. Mit dem frühsten Morgenlicht fahre ich im Boot in den Hafen hinaus, wo ich mir in 1 Stunde selbst alle Schätze zusammenfange. Dann wird rasch gefrühstückt und nun vom Morgen bis zum Abend so lange hinter dem Microscop gesessen und gezeichnet, als das liebe Sonnelicht nur eben hergiebt. Um 5 Uhr wird das frugale Mittagbrod eingenommen dann rasch ½ Stunde am Hafen hin und her gesprungen, und endlich wieder den ganzen Abend geschrieben, theils Briefe, theils die Beobachtungen des Tages ausführlicher entwickelt, ergänzt und ausgeführt. So verfliegt in wahrhaft beglückender Thätigkeit ein Tag nach dem Andern.

Aber trotz dieser ununterbrochenen Einförmigkeit ist dieses Leben nichts weniger als langweilig, da die unerschöpflich reiche Natur immer neue, schöne und interessante Formen liefert, welche neuen Stoff zum Rathen und Nachdenken, Zeichnen und Beschreiben geben. Das ist aber gerade so recht eine Arbeit für mich, da das künstlerische Element dabei so viel neben dem wissenschaftlichen zu thun hat. Zugleich bin ich dadurch mit meiner lieben, mir für mein ganzes Leben obenanstehenden Wissenschaft wieder völlig ausgesöhnt worden, in der Treue gegen die ich wirklich durch Deine künstlerisch aesthetischen Einflüsse etwas wankend geworden war. ||

Freilich sind auch die letzteren dadurch wieder neutralisirt worden und ich muß erst einmal wieder Deinen anregenden und belebenden Umgang genießen, um neue Freude und Lust an dem künstlerischen Dilettiren zu finden.

Denke Dir, seit Du fort bist, habe ich den Pinsel noch nicht wieder angerührt (außer eben um eine Seebestie getreu zu conterfeien) und nicht einmal die in Sicilien während der Reise unbeendet gelassenen Aquarelle vollendet! Alles befindet sich noch auf dem Statusquo Deiner Abreise und wenn ich einmal dann und wann die alten Skizzenbücher zur Hand nehme, so ist es nur, um über die steifen, hölzernen Landschaften zu lächeln, mit denen ich mir einstmals einbildete, einen wirklich künstlerischen Anfang gemacht zu haben. Freilich behalten sie für mich immer unschätzbaren Werth, schon allein als die beste Erinnerung an die glückseligen Wandertage, die ich an Deiner Seite genoß; aber wie ganz unkünstlerisch und embryonal diese schlechten Skizzen sind, sehe ich jetzt je mehr ein, je öfter ich sie ansehe. Als ich damals mit ordentlicher Leidenschaft aquarellirte, muß ich förmlich verblendet gewesen sein; jetzt wo der Geist der Kritik von Dir auf mich übergegangen zu sein scheint, muß ich über mich selbst lachen. Übrigens habe ich trotzdem die Lust immer noch nicht verloren und bin ich nur erst wieder daheim, so hoffe ich, soll aus dem Ölmalen doch noch etwas werden. Auch hier möchte ich gern noch einige Skizzen machen, allein bisher gab es immer so viel Wichtiges zu thun, daß ich nicht einmal mein Dir gemachtes Versprechen halten konnte, mindestens die Sonntage hinauszugehen und zu zeichnen. Meist habe ich auch alle Festtage ebenso wie alltags hinter meinem lieben Microscop gesessen. ||

So gut es mir übrigens jetzt hier geht und so zufrieden und b glücklich ich in meinem reichen lohnenden Arbeitsleben bin, so trat dieser angenehme Umschwung doch erst einen Monat nach deiner Abreise ein. Die ersten zwei Wochen, ehe ich mich eingelebt und c ehe ich mein gutes Arbeitsmaterial herausgefunden hatte, fielen mir recht schwer und besonders war die erste Woche mir ganz erbärmlich zu Muthe.

Du kannst selbst am besten beurtheilen, wir mir diese plötzliche Einsamkeit nach dem langen glücklichen Zusammenleben mit Dir schmeckte. Rechne ich doch diese 4 Monate, in denen mein gütiges Geschick mich in Deiner Gesellschaft auf die Wanderschaft schickte, zu den glücklichsten, schönsten, reichsten und fruchtbarsten meines ganzen Lebens. Was hatte ich nicht alles mit Dir zusammen erlebt, gesehen, genossen und wie war mir bei alledem der Schatz guter ästhetischer Gedanken und poetisch künstlerischen Anschauungen, der beständig Deinem vielgewandten Sinn entströmte, eine reiche Quelle der Belehrung, Bildung und Anregung. Gewiß war unser Zusammentreffen in Neapel für mich das größte Glück der ganzen Reise und wenn ich etwas dabei bedaure, so ist es einmal, daß ich Dich nicht früher, in Rom, kennen lernte, und dann, daß ich Dir für Deine reichen Gaben nicht gleiche wieder bieten konnte. Doppelt lebhaft und tief empfand [ich] das alles, als du mich auf einmal wieder verlassen hattest, und ich mich einsam, fremd und unverstanden in dem fremden Land zurückgelassen wußte. Du glaubst nicht, wie weh mir das Herz wurde, als ich zum letzten Male am Hafenausgang Deine liebe treue Gestalt auf dem Vapore erblickte. Seit dem Abschied von meiner Braut hatte ich keinen solchen Trennungsschmerz erlebt; es war mir mit einmal, als sei mein bessres Ich entschwunden. || Die erste Woche nach deiner Abreise war noch besonders dazu angethan, mich deine Entfernung doppelt schmerzlich empfinden zu lassen. Vielerlei, besonders das viele Unangenehme der ersten Einrichtung kam zusammen, um mich recht zu verstimmen. Aller Anfang ist ja schwer, und unter diesen Verhältnissen um so mehr. Als ich allein und verlassen das Victoria hôtel wieder betreten, stand ich zuerst noch lange Zeit auf dem Balkon und schaute sehsüchtig nach Norden, bis die letzte Dampfwolke des bösen Vapore verschwunden war, der mir meinen guten, lieben Kameraden entführt hatte.

Dann hatte ich zunächst das unangenehme Geschäft, mich mit Herrn Moeller wegen der Wohnung zu verständigen, was jedoch erst anderntags zu einem erwünschten Resultat führte. Da Hr. M. bei seinen Preisen eines Hôtels ersten Ranges blieb (für Wohnung und Mittagessen allein sollte ich täglich 1 Piast. zahlen!), beschloß ich, andern Tags auszuziehen. Das wirkte, und es fand sich nun, das oben im 4ten Stock (neben des Dr. v. Bartels Zimmer) noch ein kleines Stübchen frei sei, welches ich dann auch sofort bezog. Ich zahle dafür 2 Tari täglich und außerdem für Frühstück und Mittagessen 7 Tari; so daß also die tägliche regulaere Ausgabe sich nun auf 9 T (also = 1 rℓ Pr.) beläuft. Ich esse mit dem Dr. v. Bartels zusammen, und seit 8 Tagen auch mit den beiden erst jetzt von Neapel angelangten Lüneburgern. Mein kleines Zimmerchen ist ganz allerliebst und würde Dir gewiß recht gefallen, so wie ich selbst es wohl später sehr entbehren werde. Das Stübchen ist zwar etwas niedrig und eng, besonders für die reichen Sammlungen von Gläsern voller Seethiere, die alle 3 große Tische besetzt halten; dafür hat es aber auch vieles Angenehme, die gesunde reine Luft, die nicht durch den Gestank und das unausstehliche Gebrüll des Fischmarkts gerade darunter verpestet wird (wie im I Stock) und vor allem die abends herrliche Aussicht. || Der Blick aus meinem niedern Fensterchen streift weit über Hafen und Meerenge hinaus, nach Süden und nach Norden (viel häufiger natürlich nach letzterem!). Gerade gegenüber breitet sich d. überaus herrliche catalinische Küste aus mit ihren prächtig gedehnten großen Berglinien und einer Modellirung der Bergrücken und Thalschluchten, die wahrhaft entzückend ist und mich durch den Zauber ihrer ewig wechselnden Beleuchtung gar oft vom Microscop ans Fenster lockt. Besonders die Nachmittags- und Abendsonne bereitet da so wundervolle Beleuchtungen und Farbenbilder vor, daß ich täglich vom Neuen darüber michd freue und staune. Einen solchen wunderbaren Wechsel der Farben und Formerscheinung meine ich noch nirgends an einem Gebirge erlebt zu haben, besonders seitdem die obere Hälfte der catalinschen Berge sich in dichten Schneepelz gehüllt hat, und zu den prächtigsten Contrastwirkungen Veranlassung giebt.

Wie oft denke ich bei dem prächtigen Anblick an Dich und wünsche Dich herbei, um mit mir zu schauen und zu genießen. Besonders machen sich jetzt sehr häufig zarte blaue und blauröthliche, auch grünliche Farben geltend, wie wir sie im Sommer kaum gesehen haben. Dagegen erscheint das Meer meist viel blasser und hat nie das wunderbare tiefe Blau, welches uns in Palermo und Syracus so entzückte. Dafür wird es jetzt oft vom heftigsten Siroccosturm, der den Regen in Strömen herbeiführt, im Grunde aufgewühlt und nimmt dann einen ähnlichen Character an, wie ihn unsere wilde Nordsee fast immer besitzt. Freilich kann dann anderntags der Hafen schon wieder spiegelglatt sein, wie denn überhaupt das Wetter in Messina äußerst veränderlicher, beständiger April ist. ||

Der Winter ist hier übrigens im Ganzen bisher sehr milde verlaufen. Gewöhnlich steht das Thermometer zwischen 11 und 13° Reaumur Nur in ein paar Tagen anfang December sank es auf 8° R. herab. Die düstern wolkigen Regentage überwiegen; die heitern Sonnentage dazwischen sind aber um so schöner und wahre Frühlingstage. Dann ist der Blick aus meinem Fensterchen beneidenswerth. Er ist auch so schön, daß er mit daran Schuld ist, daß ich noch so wenig von der Umgegend gesehen habe. Nur ein paar mal war ich auf dem Rücken der Höhen über der Stadt, von wo man den prächtigsten Blick auf beide Meere hat, rechts auf die Meerenge, die mehr wie ein großer Strom mit blühenden Ufern aussieht, links auf die Nordküste der Insel, einst das Ziel unserer Sehnsucht, mit dem weit vorherragenden Milazzo und Cap Tindaro, weiter draußen im [Meer]e unser kleiner munterer Stromboli und die anderen liparischen Inseln. Nach letzteren hoffe ich noch mit den beiden Lueneburgern, Keferstein und Ehlers, eine Excursion zu machen und Dir dann noch von den dortigen Laven mitzubringen. Da diese erst vorige Woche von Neapel gekommen sind, haben wir auch die Petrefacten aus der Umgegend noch nicht sammeln und bestimmen können. Theils deßhalb, theils weil ich noch die gewünschten Bestien zu fangen und der Kiste beizupacken hoffe, habe ich die letztern noch nicht abgesandt. Da ohnehin jetzt kein Bremer Schiff hier liegt, hat es wohl Zeit bis zum März, wo ich sie dann mit meinen eignen Sachen zusammen packen und abschicken kann. Den Wunsch einige Flaschen Syracuser beigefügt zu sehen, werde ich nicht erfüllen können, da dieser, horribile dicte! in ganz Messina nicht aufzutreiben ist. Dagegen wird wohl ein edler Etna Wein von Catanea seine Stelle gut vertreten. ||

Von meinem geselligen Leben und Umgang in Messina ist wenig zu melden; zuweilen gehe ich Abends zu den Familien Klostermann, Peters und Sarauw. Nach Tisch plaudere ich gewöhnlich ein Stündchen mit dem Dr. v. Bartels und beiden Lueneburgern. Ersterer ist auch den Tag über viel auf meiner Bude und im Ganzen sehr liebenswürdig. Er ist eine von den Naturen, die bei längerem Umgang viel gewinnen, ein gesunder, ehrlicher, einfacher, echt norddeutscher Character. Dagegen hat er mich in den ersten Wochen nach deiner Abreise, wo er noch krank war, mit seinen hypochondrischen Grillen sehr gequält. Wie sehr ich unter diesen Umständen Dich lieben herzigen Menschen vermisse, aus dessen reichem edlen Gemüthe mir meine besten Ideen verbessert und verschönt zurückstrahlten, der mir des Lebens wahren Kern erst recht in seinerf eigentlichen Gestalt zeigte, brauche ich Dir nicht weiterg auszuführen. Die beiden Lueneburger sind zwar recht nette Leute, aber an allzu warmen Gemüth leiden beide nicht, und Herz wie Du hat vollends keiner. Du bist und bleibst einmal meine liebste und beste Freundesseele und Dich in unsrem lieben herrlichen deutschen Vaterlande wiederzusehen und mit Dir alte liebe Erinnerungen austauschenh zu können, soll mir nach meiner Rückkehr, nächst dem Wiedersehen der lieben Braut und der guten Eltern, die größte Freude sein. Wann ich wieder in Berlin eintreffe, ist noch nicht genau bestimmt. Wahrscheinlich bleibe ich bis zum April hier und gehe dann direct über Marseille heim. Kannst Du mich bis dahin noch einmal mit einen Briefe überraschen, so wirst du mir einen ganz besonderen Festtag bereiten. Nun, mein lieber alter Bursch, hab nochmals 1000 Dank für alle Deine Liebe und bewahre sie mir immer so. Grüß auch unsere theure Heimath von deinem treuen alten Wandergenossen

E. Haeckel.

Ich schreibe Dir absichtlich unfrankiert, weil das hier viel sicherer ist. Die frankirten Briefe werden häufig von den Postschurken erbrochen und die Frankiermarken abgeschnitten.i

N. B. Bald hätte ich vergessen, Dir für den überschickten Wechsel besten Dank zu sagen die überschüssigen 9 Piaster werde ich mit für den Ankauf der gewünschten Gegenstände verwenden.j

a gestr.: zu; b gestr.: ich; c gestr.: ich; d eingef.: mich; e Textverlust durch Papierausriss; f Textverlust, im Text steht nur „sei“, Ergänzung nach Erstdruck; g Textverlust, im Text steht nur „wei“, Ergänzung nach Erstdruck; h korr. aus: auszutauschen; i Text weiter am linken Rand von S. 10: Ich schreibe … abgeschnitten; j Nachsatz am linken Rand von S. 8: „N.B. Bald … verwenden.“

 

Letter metadata

Verfasser
Empfänger
Datierung
20.01.1860
Entstehungsort
Entstehungsland
Zielort
Rechtenfleth an der Weser
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 32227
ID
32227