Ernst Haeckel an Wilhelm von Waldeyer-Hartz, Jena, 15. Februar 1917

Jena, 15.2.1917

Hochgeehrter Herr Kollege!

Durch die freundliche Zusendung Ihres interessanten Artikels über die Entwicklung des anatomischen Unterrichtes, für die ich bestens danke, haben Sie mich lebhaft an die Jugendjahre 1852-1857 erinnert, in denen ich in Würzburg und Berlin – erst bei Koelliker und Virchow, dann bei Johannes Mueller – den Grund zu meiner morphologischen Lebensarbeit legte. Welcher grossartige Fortschritt unserer Wissenschaft liegt in dem Zeitraum der 60 inzwischen verflossenen Jahre, und wie hat sich namentlich die Anthropologie, die Sie so vielfach gefördert haben, nach allen Richtungen entwickelt!

Bei einem Rückblick auf diese Periode des grossartigsten Aufschwungs der ganzen Biologie schätze ich mich jetzt (am Ende meiner Arbeitsfähigkeit) glücklich, ihn selbst tätig miterlebt zu haben.

Morgen trete ich bereits in mein 84.tes Lebensjahr und erinnere mich dankbar der freundlichen Teilnahme, die Sie mir vor 23 Jahren – beim Abschluss des 60.ten erwiesen haben.

In drei Wochen, am 7. März, werden schon 60 Jahre verflossen sein, seit ich in Berlin zum Dr. med et chir. promoviert wurde. Als Dekan der medicinischen Fakultät fungierte dabei (in lateinischer Sprache!) der alte Ehrenberg. In meiner histologischen Dissertation („De telis quibusdam Astaci fluviatilis“) beschrieb ich damals zum ersten Male die feinen Fibrillen – Bündel in den verästelten Nervenfasern und die amoeboiden Bewegungen der farblosen Blutzellen, deren „Fress-Bewegungen“ (Aufnahme fester Körperchen durch ihre Pseudopodien) – „Phagocyten“ – ich 20 Jahre später in Neapel zuerst beobachtete („Monographie der Radiolarien“, 1862, S. 104) – lange vor Metschnikoff! – ||

Sie treten nun auch – nach erfolgreichster und glänzendster Laufbahn – in das friedliche „Odium cum dignitate“ ( – „Summa“! – ). Möge Ihnen dasselbe noch manches glückliche Jahr im Schoosse Ihrer Familie bringen, und viele beglückende Erinnerungen an die schöne und höchst fruchtbare Reformations-Periode des letzten halben Jahrhunderts, die wir beide in unserem neu aufblühenden Vaterlande genossen haben!

Ohne „Desperado“ zu sein, fürchte ich doch, dass viele Jahre verstreichen werden, ehe der zerrüttete Organismus unserer modernen Kultur-Welt sich von den beispiellosen Verlusten des Weltkrieges erholen und wieder in erfreulichere Bahnen einlenken wird! Hoffen wir, dass dann um so glänzender der Phoenix des „Neu-Germaniens“ aus der Asche des Weltbrandes sich erheben wird!

Mit herzlichen Grüssen und besten Wünschen

hochachtungsvoll

Ihr ergebener

Ernst Haeckel.

Brief Metadaten

ID
32014
Gattung
Briefabschrift
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Zielort
Datierung
15.02.1917
Umfang Seiten
2
Umfang Blätter
2
Besitzende Institution
EHA Jena
Signatur
EHA Jena, A 32014
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Waldeyer-Hartz, Wilhelm von; Jena; 15.02.1917; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_32014