Ernst Haeckel an Carl Hasse, Jena, 21. Juni 1873 [Abschrift]

An Herrn Prosektor C. Hasse

Würzburg.

Jena, den 21. Juni 73.

Hochgeehrter Herr College!

Die Hoffnung, dass Sie hier als Nachfolger meines Freundes Gegenbaur die ordentliche Professur der Anatomie übernehmen werden, bewog mich gestern Abend Ihnen das betreffende Telegramm zu senden, nachdem ich soeben durch einen glücklichen Zufall Kunde von Ihrer Berufung nach Breslau erhalten. Ihre officielle Berufung an Gegenbaur’s Stelle ist schon seit mehreren Wochen von der hiesigen medizinischen Fakultät einstimmig primo loco beschlossen und nur der etwas schleppende Geschäftsgang bei unserer Regierung hat die Ausführung der Berufung bis heute verzögert. Sie dürfen aber mit Sicherheit derselben morgen oder doch spätestens in 2–3 Tagen entgegensehen, und wir hoffen alle sehr, dass Sie unserer Einladung folgen und Jena den Vorzug geben werden. Dass Jena in jeder qualitativen Beziehung den Vorzug vor Breslau unbedingt verdient, wird Ihnen selbst bereits bekannt sein; und ich bin überzeugt, dass derselbe nicht entfernt durch den quantitativen Vorrang Breslaus (betreffs der Studierenden Zahl namentlich) aufgewogen wird. Die zahlreichen Auditorien Breslaus recutieren sich zum grössten Theil aus Bewohnern Polens oder Oberschlesiens, während unsere Jenenser Auditorien viel mehr Ausländer als Inländer ausweisen und durchschnittlich von ausgezeichneter Qualität sind. Wie angenehm im Übrigen die Jenenser Verhältnisse sind, können Sie aus der ungewöhnlichen Anhänglichkeit schliessen welche sowohl Dozenten als Studenten unserer alten Musenstadt stets bewahren. Ganz ausgezeichnet sind die collegialen Beziehungen; die Umgebung bietet die manichfachsten Naturschönheiten; die geschäftliche Thätigkeit ist so einfach, dass man sehr viel Musse für || eigene wissenschaftliche Arbeit behält. Dazu finden Sie von Gegenbaur die neue Anatomie so ausgezeichnet eingerichtet, wie es nur bei sehr wenigen Anstalten der Fall sein dürfte. Was die Gehaltverhältnisse betrifft, so bin ich leider ausser Stande, Ihnen eine bestimmte Summe zu nennen; Sie werden den Beschluss der Regierung in dieser Beziehung erst von ihr selbst erfahren. Indessen bin ich überzeugt, dass dieser Umstand keine ernstlichen Schwierigkeiten bieten wird. Sollte selbst (was ich nicht glaube) die Ihnen gebotene Summe etwas geringer sein als diejenige, welche man Ihnen von Berlin aus im Concurrenz-Falle bieten könnte, so würde ich Sie bitten, sich zweierlei Momente wohl zu überlegen. Erstens gehört Jena, obwohl die Preise in den letzten Jahren sehr gestiegen sind immer noch zu den billigsten Universitäten. Billig sind namentlich die Wohnungen. Ich habe zum Beispiel eine der grössten und schönsten Familien-Wohnungen für jährlich 200 Thaler. Ebenso Gegenbaur. Eine Masse von Ausgaben grösserer Städte (z. B. Fuhrwesen) fallen hier von selbst fort.

Zweitens ist zu erwägen, dass die Höhe des Gehaltes an sich nicht die mancherlei Nachteile aufzuwiegen vermag, welche anderen, namentlich grösseren Universitäten anhaften. Wir erleben hier sehr oft den Fall, dass Berufungen von auswärts abgelehnt werden, trotzdem der gebotene Gehalt 200–400 Thaler höher ist als die hier gewährten. Gegenbaur selbst hat die Berufung nach Strassburg abgelehnt, obgleich ihm dort fast das Dreifache seines hiesigen (jetzigen) Gehaltes geboten wurde. Ebenso habe ich selbst die Berufungen nach Wien und Strassburg abgelehnt, obgleich ich auch jetzt noch nicht die Hälfte des dort mir gebotenen Gehalts besitze. Gegenbaur würde auch jetzt nicht von hier fortgegangen sein, wenn er nicht für Heidelberg eine ganz specielle Inclination hätte und ausserdem durch ganz bestimmte persönliche Gründe dorthin gezogen würde. ||

Ich selbst wünschte vorzüglich deshalb Sie als Nachfolger meines besten Freundes hier begrüssen zu können, weil Sie einer der sehr wenigen Anatomen sind, welche noch ernstlich vergleichende Anatomie treiben und nachdem was mir Gegenbaur mitgetheilt, zweifle ich nicht, dass wir uns gegenseitig wissenschaftlich fördern würden.

Also nochmals, überlegen Sie sich den wichtigen, über Ihr Leben entscheidenden Schritt reiflichst. Ich bin überzeugt, dass Sie die Wahl von Breslau (sicher einer der qualitativ schwächsten deutschen Hochschulen) später bestimmt bereuen würden.

In der Hoffnung, Sie in kurzer Zeit hier als werthen Collegen persönlich begrüssen zu können, bleibe ich

in vorzüglicher Hochachtung

Ihr ergebenster

Haeckel.

Brief Metadaten

ID
31994
Gattung
Brief ohne Umschlag
Empfänger
Entstehungsort
Entstehungsland aktuell
Deutschland
Entstehungsland zeitgenössisch
Deutsches Reich
Datierung
21.06.1873
Sprache
Deutsch
Besitzende Institution
Unbekannt
Zitiervorlage
Haeckel, Ernst an Hasse, Carl; Jena; 21.06.1873; https://haeckel-briefwechsel-projekt.uni-jena.de/de/document/b_31994